BERNHARD GIGER

LANGES WARTEN AUF DAS KURZE GLÜCK — ELISABETH GUJERS STILLEBEN

CH-FENSTER

Einmal steht Margrit Schund am Fenster des Sitzungszimmers in einem hohen Bürohaus. Sie schaut hinaus auf eine Autobahn und eine Eisenbahnlinie. Wie mächtige Fliessbänder, die mitten durch die Stadt laufen, sehen die stark befahrenen Verkehrswege aus. Dann geht sie durch den Raum zu einer Mauer, an der ein Bild hängt, das eine ländliche Winterlandschaft zeigt, einen Weg, der neben Bäumen vorbei zu einem Haus führt. Wie eine Botschaft aus einem anderen Land und aus einer anderen Zeit wirkt das Gemälde. Dass dies eine Bild der Winterlandschaft nicht zum anderen der Autobahnlandschaft passt, dass die Sehnsucht nach Ruhe und Geborgenheit überrollt wird vom Alltag — das sind die schmerzlichen Erfahrungen der Margrit Schmid.

Die 55-jährige Witwe sucht eine Stelle, bei der sie zwischendurch auch mal ein paar Minuten sich entspannen darf, und sie sucht einen neuen Lebenspartner, der ihr dann und wann zuhört und auf sie eingeht. Das ist nicht viel, in dieser lieblosen, grauen Welt, in der sie lebt, aber doch schon zu viel. Darum begreift sie das, was um sie herum vorgeht, nicht mehr, darum weiss sie manchmal nicht mehr, was sie eigentlich will. Oft sitzt sie schweigend da, den Kopf leicht zur Seite geneigt, traurig vor sich hinsinnend, leidend. Und doch gibt sie sich nicht ganz auf, das Bild der Winterlandschaft will ihr nicht aus dem Kopf. Irgendwie hofft sie doch darauf, dass sich ihre Sehnsucht noch erfüllen werde. Und so wird die Leidende immer wieder zur neugierigen Beobachterin.

Sie lernt Max kennen, einen Antiquitätenhändler. Eine Reise mit ihm nach Paris wird zur Reise ins Guck. Ein zweite, spätere Reise dorthin, eine Flucht gewissermassen aus dem Alltag, der die junge Liebe rasch verdorben hat, vermag das kurze Glück nicht mehr zu verlängern. Max — eigentlich ein gutmütiger Kerl, mit dem man Pferde stehlen kann — hat die Geduld nicht, um mit Margrit Schmid das Bild der Winterlandschaft freizulegen. Ihre gemeinsame Geschichte geht zu Ende auf der Rückfahrt von Paris — in einer Autobahnlandschaft.

Elisabeth Gujers Film ist immer dann stark, wenn sie sich auf die eindringlichen, schwarz-weissen Bilder von Rob Gnant und Werner Zuber verlässt, wenn sie diese ganz für sich selber wirken lässt, ohne sie zu kommentieren. Anders gesagt, Stilleben ist dann schwach, wenn er dem Zuschauer zu viele Informationen auftischt, wenn er zur blossen Reportage wird über eine 55-jährige Witwe, die Ende der siebziger Jahre in der Schweiz eine Stelle und einen Mann sucht.

Margrit Schmid wird dargestellt von Margrit Winter, einer grossen Schauspielerin des alten Schweizer Films. Kurt Gloor hat ähnliches auch schon versucht, sein eigenwilliger Alter wird von Siegfrit Steiner dargestellt. Im Unterschied aber zu «Die plötzliche Einsamkeit des Konrad Steiner» erinnert Stilleben überhaupt nicht an Schweizer Filme aus den fünfziger Jahren. Denn einerseits hat Elisabeth Gujer kein Melodrama inszeniert. Im Gegenteil, sie schafft Distanz zur Geschichte und zur Hauptfigur: durch die Verlängerung der persönlichen Geschichte in den schweizerischen Alltag (durch den oben erwähnten Reportage-Stil), durch kritische Blicke auch auf die Hauptfigur, und schliesslich durch Zwischentitel, die die achtzehn Szenenblöcke, in die der Film aufgeteilt ist, ankündigen. Andererseits spielt Margrit Winter — und das ist nun nicht nur als üblicher Filmkritikerspruch gemeint — die 55-jährige Witwe so, als ob sie das alles selber erlebt hätte. Eine so beeindruckende Darstellung einer nicht einfachen Figur habe ich in einem Deutschschweizer Spielfilm noch kaum gesehen.

Ein Ereignis aber ist Elisabeth Gujers Film vor allem darum, weil seine Heldin keine Vertreterin einer Minderheit oder einer Randgruppe ist, weil sie nicht in einem Irrenhaus, einer Baracke oder auf der Alp zuhause ist, sondern in einem unauffälligen, hässlichen Wohnblock. Weil sie nicht versponnen und auch nicht extrem eigensinnig ist. Margrit Schmid ist eine ganz gewöhnliche Frau, die in einer Autobahnlandschaft lebt und von einer Winterlandschaft träumt, die lange auf ihr kurzes Glück wartet. Margrit Schmid ist keine, die Sand ins Getriebe streut. Sie schweigt, wenn sie schreien sollte, sie leidet und schaut traurig vor sich hin, wenn sie zornig aufbrausen sollte. Stilleben ist ein Schweizer Film über eine Vertreterin der schweigenden Mehrheit.

Stilleben. P: Cinemonde-Filmproduktion Zürich; R: Elisabeth Gujer; B: Elisabeth Gujer, Uli Meier; K: Rob Gnant, Werner Zuber; Ton: Toni Aschwanden; Beleuchtung: Erhard Jacksch; Montage: Uli Meier; D: Margrit Winter, Hans Heinz Moser, Elmar Schulte, Maja Stolle, Peter Oehme, Wolfram Berger, u.a.; 16mm, schwaz-weiss, 70 Minuten.

Bernhard Giger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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