CORINNE SCHELBERT

DIE FAHRT IM KREIS - ALLEGORIE DER ENTFREMDUNG — ZU ALAIN TANNERS MESSIDOR

CH-FENSTER

Messidor («Erntemonat» der Franz. Revolution: 19. Juni bis 18. Juli) m; -(s), -s

Der Grosse Duden, 1961

Am Anfang von Messidor steht eine Traumreise. Während die Titel erscheinen, fliegen wir (die Kamera) mit dem Helikopter über eine unwirklich schöne Sommerlandschaft mit blühenden Wiesen und goldenen Ährenfeldern, über Täler und Hügel dem fast wolkenlosen Himmel entgegen. Eine euphorische Fahrt, der keine Grenzen gesetzt sind, ein endloses Hineinfahren in die Natur. Dazu hört man ein Schubert-Lied, in dem von Wanderlust die Rede ist.

Die Reise nach Nirgendwohin -allmähliche Verzweiflung

Diese Traumfahrt wirkt im Nachhinein wie ein Hohn, denn was nun kommt - die Schweizerreise zweier Autostopperinnen -, ist, vom ersten fröhlichen Aufbruchtag abgesehen, ein Alptraum. Ein Alptraum bedingt durch die Wechselwirkung einer immer bedrohlicher werdenden Aussenwelt und einer zunehmend konfuser werdenden Innenwelt der beiden Mädchen. Der geographischen Fahrt im Kreis (man kann in der Schweiz bekanntlich nicht drauflosfahren, stösst immer an deren Grenzen und ist, wenn man diese nicht überschreiten kann, eingekesselt) entspricht die mentale Fahrt im Kreis. Marie, die Verkäuferin aus Moudon, und Jeanne, die Studentin aus Genf, stürzen sich in ein Abenteuer, aus dem sie nicht mehr hinausfinden. Sie beschliessen, per Autostopp ins Blaue hineinzufahren, sich treiben, resp. fahren zu lassen. Aber sie geraten alsbald in einen Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt und fahren schliesslich nicht mehr auf etwas zu, sondern nur noch von etwas davon. Von dem Augenblick an, da sie von der Polizei gesucht werden, wird es zu einer Reise ohne Reiselust, zu einem Abenteuer ohne den «Geschmack des Abenteuers». Das Vorwärtsgehen besteht nur noch im Nichtmehrzurückkönnen. Einmal lässt Marie unvermittelt das Auto anhalten, mitten in der Nacht steigen sie aus. Auf Jeannes erstaunte Frage «Warum?» antwortet Marie: «Wenn wir noch etwas weitergefahren wären, wäre ich wieder zuhause angelangt.» Und etwas später, als sie sich schon auf der «Flucht» befinden, sagt Jeanne: «Das Schlimmste ist, kein Ziel zu haben. Die Orte, die Menschen beginnen alle gleich auszusehen. Es ist, als würden sie gar nicht wirklich existieren.»

Die Reisenden, ihre Geschichte und ihr Spiel

Zwei Mädchen, beide ungefähr 19-jährig, machen Autostopp: Marie, weil sie ihr Bahnbillet verloren hat, Jeanne, weil sie für ein paar Tage weg aus der Stadt und der lärmigen, heissen Wohnung will. Sie treffen sich zufällig an der Autobahn, fahren zufällig im selben Auto. Sie werden Freundinnen, nicht nur aus Neigung, sondern auch, weil die Umstände sie zur Komplizenschaft zwingen. Ein gewisser Antagonismus besteht zwischen ihnen; Marie, die «Kleinbürgerin», ist misstrauisch gegenüber Jeanne, der «Intellektuellen», die, wie ihr Marie bei einem Streit einmal vorwirft, einen tête defric hat. Die erste Nacht verbringen sie im Wald. Sie beschliessen zusammenzubleiben. Das Wetter ist schön, das Reisen ist schön ... Am dritten Tag machen zwei Männer einen Vergewaltigungsversuch. Marie schlägt dem einen einen Stein über den Kopf, sie fliehen. Jetzt müssten sie die Reise eigentlich abbrechen. Aber Jeanne meint, jetzt umkehren, würde heissen, dass sie wirklich mit den Typen geschlafen hat.

«Wir machen weiter.» Jeanne schlägt vor, ein Spiel zu spielen: Das Geld ist ausgegangen, nun wollen sie sich ohne durchschlagen, «bis der erste tot umfällt». In einem Handschuhfach finden sie zufällig den Revolver des Offiziers, der sie mitgenommen hat. Sie behalten ihn, ebenfalls zufällig.

Die Waffe bringt gewisse Vorteile. Sie können damit etwas erzwingen, auch wenn sie damit nicht umgehen können. Sie übernachten im Freien, in Kuhställen, in leeren Wohnwagen. Sie betteln um Geld, stehlen Esswaren. Manchmal wird ihnen etwas geschenkt, manchmal machen sie ein Gegengeschäft. Sie fahren im Zickzack durch die Schweiz. Sie steigen auf eine Alp, baden im See, marschieren auf den Strassen. Sie sind hungrig, verschmutzt, erschöpft. Mittlerweile wurde in einer Fernsehsendung à la Aktenzeichen XY ihr Signalement gegeben. Nun werden sie offiziell gesucht und können praktisch von allen (d. h. allen Fernsehzuschauern) erkannt werden. Die Angst, erkannt zu werden, treibt sie zu unvernünftigen Handlungen, macht sie hysterisch. Sie befinden sich in einem seltsamen Zustand: zwischen Exaltation und Verzweiflung. Oder, wie Jeanne es ausdrückt, auf der einen Seite geht es überhaupt nicht, auf der andern geht es verdammt gut Sie entdecken sich selbst, während sie gleichzeitig auseinanderbrechen. Gefangene ihres eigenen, dummen Spiels, sind sie nun Opfer eines grösseren Spiels, der Fernsehzuschauerjagd, geworden.

Etwa am 15. Reisetag sitzen sie mittags in einem Café. Ein Gast beobachtet sie auffällig. Er geht in eine Telefonkabine, ruft aber nicht die Polizei an. Der Restaurantbesitzer jedoch hat die Mädchen erkannt und benachrichtigt die Polizei. Die Mädchen werden abgeführt, die Leiche des Telefonanrufers liegt am Boden. Das Spiel ist zu Ende; das kleine Spiel von Jeanne und Marie wurde vom grösseren überholt. Die Angegriffenen sind zu Angreifern geworden. Jeanne sprach einmal vom Spiel mit der Zeit und dem leeren Raum (=Freiraum). Die Zeit hat sie eingeholt, der Freiraum war nur beschränkt

Ihre Geschichte wird nun unter der Rubrik «Vermischte Meldungen» figurieren.

Kulissen und Statisten - das Land und die Leute

Tanner zeigt die Landschaft der Schweiz als verwaltete und zugemauerte Natur. Es ist ein Land, das kein Verlieren darin erlaubt, ein Zeichenwald, in dem keine Ecke ausgespart bleibt Und über alles zieht sich, wie ein wucherndes Geflecht, die Autobahn samt ihren Wahrzeichen, den Ortstafeln, Ampeln, Strassenmarkierungen, Bars und Tankstellen. Diese Welt wird desto bedrohlicher, feindseliger und unheimlicher, je mehr die Mädchen ihr ausgesetzt sind, je unhaltbarer ihre Lage wird. Zu Beginn machen sie eine Alpenwanderung und können es sich noch leisten, in übermütiger Ironie die Landschaft zu «beschmutzen», indem sie mitten auf der Wiese ihre Notdurft verrichten. Gegen Ende der Reise landen sie wieder, diesmal unfreiwillig, in den Bergen. Nun hocken sie nur noch erschöpft und verängstigt am Wegrand. Marie erbricht sich und ruft mit ausdruckslosem Gesicht um Hilfe.

Wenn die Landschaft schön ist - schön im Sinne von Touristenattraktion, wie etwa der Thunersee, Seelisberg, das Spielzeugstädtchen Aarberg - erscheint sie aufdringlich postkartig, beinahe kitschig. Und dort, wo sie entstellt und verbaut ist -ein Militärplatz in Stans, ein Vorort von Zürich - wird sie erbarmungslos in ihrer ganzen zivilisierten Tristesse gezeigt. Die Mädchen werden von der Schweiz befremdet und entfremden sich in ihr, so wie sie sich auch zusehends von den Bewohnern dieses Landes entfremden. Nichts hat hier mehr Grösse - auch nicht die Verkehrs- und Industrielandschaft, die doch in gewissen Reisefilmen noch eine gewisse architektonische Grandeur hat -, alles ist klein und beengend. Kleinlich und eng sind auch die Leute, die auf Jeannes und Maries Bitten um Nahrung wie auf einen obszönen Vorschlag reagieren. Ein Patron will gleich die Polizei rufen, ein anderer meint, dass Speiseresten für die Schweine bestimmt seien.

Die Autofahrer, von denen die Mädchen mitgenommen werden, bleiben Statisten der Autobahn. Meist sieht man sie gar nicht, hört sie nur reden, während die Kamera auf die Mädchen im Wagenfond gerichtet ist. Sie sind gesichtslos, verschmelzen zu einem Männertyp. Sie geben den Mädchen unnütze Ratschläge, werden moralistisch oder machen zweideutige (oder auch eindeutige) Vorschläge. Bei Zurückweisung reagieren sie giftig. Die Reaktion von Jeanne und Marie ist ebenso heftig, aggressiv und arrogant Es gibt keinen Ausweg aus dem Autostopp-Spiel: Jeanne und Marie sind die Weibchen, die man jagen muss; die Autofahrer sind die Jäger. Beide handeln rollenkonform, und so gibt es keine Annäherung jenseits der sexuellen.

Auch die Statisten der Landschaft sind vorwiegend feindselig eingestellt. (Kommt noch hinzu, dass sich die Mädchen zum grossen Teil in der deutschen Schweiz befinden und kaum die Sprache sprechen.) Es gibt einige Ausnahmen; bei Tanner sind es (Zufall oder Absicht?) die Jüngeren.

Fahrtbewegung und Kamerafahrt

Weil Messidor die Geschichte einer Reise ist, sind die Protagonisten fast immer in Bewegung. Meist fahren sie im Auto, einmal auch auf einem Pferdewagen (das Transportmittel mit der «menschlichen» Geschwindigkeit - man erinnert sich an Vincent aus Le Retour d’Afrique, der ein Velo kauft, weil dies die angemessenste Geschwindigkeit hat). Aber sie gehen auch zu Fuss, sie wandern, marschieren oder rennen. Manchmal sehen sie eine Landschaft im Gehen, öfters jedoch fahren sie blicklos an ihr vorbei. Die Lust am Fahren, an der Geschwindigkeit, wird nicht vermittelt. Ein Blick auf die schnurgerade Strasse, wobei die Windschutzscheibe den Bildausschnitt bestimmt, verdeutlicht, dass hier nur Kilometer gefressen werden. Dann wieder ist die Kamera im Innern des Wagens so platziert, dass man ausserhalb der Fenster nur wenig Landschaft erkennt, zu wenig jedenfalls, um ein erlösendes Gefühl des Fahrens aufkommen zu lassen.

Die Mädchen fahren nicht, gemessen nicht die Bewegung, sondern werden gefahren, sozusagen statisch von einem Ort zum andern transportiert. Tanners Film über eine Reise ist eigentlich ein Anti-Reisefilm, bei dem der Stillstand und die Fahrtunterbrüche ebenso wichtig sind wie das Vorwärtskommen.

Nur einmal leistet sich Tanner den Luxus eines Geschwindigkeitsrausches: Während Jeanne und Marie auf dem Rücksitz zweier Motorräder eine Passstrasse hinunterrasen, folgt ihnen die Kamera aus nächster Nähe mit dem Helikopter. Beobachter und das beobachtete Objekt sind diesmal in Fahrt. Das Geschwindigkeitserlebnis ist total.

Die Orte machen die Geschichte

Messidor ist ein Film der gefundenen Geschichten. Die Landschaft reflektiert die geistige Haltung seiner Bewohner, und diese wiederum haben einen Einfluss auf den Seelenzustand der zwei Personen, die sich durch die Landschaft bewegen. So erleben wir sie mit den Augen zweier Reisenden, die erst freiwillig und später gezwungenermassen ein Reisespiel spielen. Je mehr Ortschaften sie sehen, desto mehr gleichen sich diese. Je schärfer sich ihr ärmlicher Nomadenzustand von der Sauberkeit und Behäbigkeit der Umgebung abhebt, desto feindlicher wird diese. Das Kleine und Überschaubare wird bedrohlich. Die Kleinheit des Landes ist eine Falle, man kann nirgends ausweichen. Klein bedeutet nun auch kleinlich, kleinbürgerlich, kleinmütig. Die Mädchen sind ein Fremdkörper in dieser pittoresken Landschaft, und ihr Hass richtet sich bald sowohl gegen die Leute wie auch gegen die Architektur. Das Armutsspiel setzt sie von allem Anfang an von den Mitmenschen ab, bestimmt den Verlauf ihrer verzweifelten Geschichte. Sie sind Fremde in der eigenen Heimat.

Der Sprung in die uneingeschränkte Fiktion

Alain Tanner hat einmal gesagt, dass sein Interesse an der Fiktion vor allem darin besteht, sie abzutöten. Zwar waren alle Geschichten in seinen bisherigen Filmen fiktiv, aber er hat doch immer mit formalen «Tricks» versucht, von der Geschichte Abstand zu nehmen, damit sie den Zuschauer nicht einwickle. Seine Geschichten waren immer auch Lehrstücke, Parabeln, an der Wirklichkeit orientierte, exemplarische Lebensläufe und -Vorgänge. Kommentare und Zwischentitel vermittelten die innersten Gedanken der Handelnden, wiesen auf den Verlauf der Geschichte hin oder stellten ihn unter einen bestimmten Blickpunkt (Le milieu du monde). Der Autor griff erklärend ein, wo die Figuren kein klares Bewusstsein ihrer Lage mehr hatten, er wurde zum (Für-)Sprecher seiner Personen. In La Salamandre waren es der Journalist Pierre und der Schriftsteller Paul, die zum Sprachrohr von Rosemonde wurden, gewissermassen für sie verbalisierten und ihre Befindlichkeit und Taten in einen gesellschaftlichen Bezugsrahmen stellten. In Charles mort ou vif kommentierte der Fabrikant De in einem Interview, das er einem Fernsehreporter gibt, sich selber, von aussen sozusagen.

Jeanne und Marie in Messidor sprechen für sich selbst. Über ihre Herkunft, ihre Zukunftspläne, ihre Lebensphilosophie (sofern sie eine haben) erhält man nur flüchtig Bescheid. Sie definieren sich durch ihre Handlungen, aber noch mehr durch ihre Stimmungen und Reaktion auf eine immer schwerer zu bewältigende Situation. Ihre launischen Ausbrüche, ihre Gesten, ihre unwichtigen Auseinandersetzungen, ihre beiläufigen Beschreibungen von Gefühlen - die Summe all dessen verfestigt sich allmählich zu einem Persönlichkeitsbild. Die zunehmende Entfremdung (von sich und der Umgebung) ergibt sich zwingend aus ihrer Situation.

Wenn nun Tanner - wie er dies immer tut - mit einer gewissen Obsession die Zivilisationsübel zeigt, die Signale, Markierungen, Betonmauern, dann empfindet man dies hier nicht mehr bloss als sozialkritischen Kommentar des Autors zur Industrielandschaft, den er quasi seinen Protagonisten aufdrängt, sondern man sieht diese Welt unmittelbar durch die Augen der zwei Mädchen, deren seelische Verfassung so nachfühlbar ist, dass man sich auch mit ihrer Sicht der Dinge mühelos identifiziert.

Ein Kunstgriff- nämlich eine «starke» Geschichte, bei welcher sich die Personen in einer extremen Situation befinden - hat zur Natürlichkeit geführt, eine Natürlichkeit, die man bisher in Tanners Filmen vermisste, weil er sich nie auf die Evidenz einer starken Geschichte und sich selbst offenbarender Figuren verlassen wollte.

Tanner hat diesmal den Prozess umgekehrt: Statt die Fiktion mit Ausbrechen aus der Geschichte immer wieder auf den Boden der Realität zurückzuholen, lässt er nun, indem er bis zu einem gewissen Grad improvisierte, Dokumentarisches, das heisst an Ort und Stelle «Vorgefundenes», in die Fiktion einfliessen. Für Messidor gab es keinen festen Dialog. Tanner begründet dies in einer Einleitung zur Drehvorlage folgendermassen:

Dans la mesure précisément où le discours doit ici venir d’en bas, il conviendra d’éliminer une maîtrise sur les mots et par les mots, en ce qui concerne la parole des personnages. Les mots devront naître des situations, des gestes et des rapports qui s’etabliront entre les comédiennes.

Eine solche Methode verlangt natürlich einen Regisseur, der etwas aus seinen Schauspielern herausholen kann. Tanner erweist sich als sicherer und behutsamer Darstellerführer. Die zwei Schauspielerinnen (Clémentine Amouroux als Jeanne, Catherine Rétoré als Marie) spielen so, dass man sich gar keine andere Interpretation der Rollen vorstellen kann. Denn sie scheinen nicht eine bestimmte Person zu spielen, sondern nur sich selbst in einer möglichen Situation nachzuspielen. Sie sind nicht, wie so oft bei Tanner, Ideenträger mit zum vornherein festgesetzten Meinungen und Einstellungen, sondern «erleidende» Figuren, die nicht die Handlung bestimmen, sondern von ihr bestimmt werden.

Tanner hat auch einmal gesagt, dass er die Wahrscheinlichkeit, die Glaubwürdigkeit und die Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit in seinen Filmen braucht - nicht so sehr als Ziel denn als Ausgangspunkt. Liest man nun seine zahlreichen und scharfsinnigen Ausführungen zum Problem von Form und Inhalt, zu seiner Intention, den Zuschauer nicht mit eingefressenen Sehmodellen zu vergewaltigen und blind zu machen, sondern ihn mittels unkonventioneller, «sanfter» Bildführung zum Nachdenken und zur Distanzierung zu zwingen, fragt man sich manchmal, ob des Autors Sorge nicht etwas spät

kommt. Denn jedes Vorgehen, auch das des kritischen Abstandnehmens, wird früher oder später zu einem Modell, das der Zuschauer unbeschwert konsumieren kann. So wie die Bilder in Tanners Film für die Fernsehsendung Ecoutez voir (Vergl. CINEMA 4/77), die Aufnahmen während einer Zug-und Autoreise von Bern nach Genf, keine (wie vom Autor beabsichtigten) «leeren», unschuldigen Bilder sind, sondern bereits eine «Poesie der Langeweile» ausstrahlen und fester Bestandteil eines Genres - das des eintönigen, ereignislosen Reisefilms - geworden sind, so sind auch die Geschichten, die durchbrochen werden, bereits ein filmisches Modell, an das man sich gewöhnt hat In Messidor scheint Tanner das Problem von Wirklichkeit und Fiktion erstmals gelöst zu haben. Der Wille, sich von der Geschichte abzusetzen, ist nirgends mehr spürbar. Dadurch, dass er eine Geschichte nahm, deren Ausgang von Anfang an gegeben war (in dem Moment, wo die Waffe ins Spiel kommt, weiss man, dass sie im Verlaufe des Films einmal gebraucht wird), konnte er sich nach dem zweiten Prinzip des Kriminalfilms, des «Wie wird etwas getan» (im Gegensatz zum ersten Prinzip, des «Whodunnit», des «Wer hat es getan») richten und - weil man weiss, was geschehen wird - sich ganz darauf konzentrieren, wie es geschehen wird.

Und wie etwas geschieht, wie schnell der Mensch in eine Ecke gedrängt wird, aus der er nur noch mit Gewalt ausbrechen kann, das hat man schon lange nicht mehr so schön, so eindringlich und folgerichtig vorgeführt bekommen wie in Alain Tanners Messidor.

Messidor. Produktion: Action Films, Gaumont, Citel Films; R und B: Alain Tanner; K: Renato Berta; Montage: Brigitte Sousselier; Direktion: Pierre Gamet; Musik: Arie Dzierlatka; Darsteller: Clementine Amouroux (Jeanne), Catherine Retore (Marie) u. v. a. m. 35mm, Eastman Color, 122 Minuten

Corinne Schelbert
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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