BERNHARD GIGER / EDI HUBSCHMID / GEORG JANETT / MARTIN SCHAUB / DAVID STREIFF

IST DAS DER FILM, DEN WIR WOLLTEN?

CH-FENSTER

(Die dritte Gesprächsrunde ging aus vom vorläufigen Befund der zweiten: Der neue Schweizer Film hat sich mehr schlecht als recht konsolidiert. Die einen meinten «etabliert», die anderen sprachen bereits von Erstarrung, fürchten also, dass für Erneuerung und für Neue kaum mehr Platz da ist.)

Die «unsichtbaren Filme»

Georg Janett: Etablierung im Gegensatz zu Erneuerung: Es ist klar, da bekommt das einen negativen Aspekt Auf der anderen Seite muss man sehen, dass wir jahrelang um eine gewisse Etablierung gekämpft haben, um eine gewisse Anerkennung. Setzt man Konsolidierung gegen Dauererneuerung, tönt Konsolidierung negativ. Aber selbst grössere Beispiele von Dauererneuerung und konstanter Kulturrevolution haben ja irgendwann einmal in ein Bedürfnis nach mehr Ruhe und Sicherheit eingemündet. Niemand kann sagen, wie lange ein solches Bedürfnis anhält und wann wieder eine neue Welle der Erneuerung anfängt. Für mich ist Konsolidierung immer Durchgangsphase, die zu etwas Neuem führt. Man kann den gleichen Rhythmus etwa auch am Filmzentrum ablesen, das mit praktisch nichts angefangen hat und jetzt bis zu einem gewissen Grade konsolidiert, etabliert, im Kulturbetrieb verankert ist, mit den Städten und anderen Institutionen zu tun hat und damit automatisch auch etwas in seiner, absoluten Handlungsfreiheit eingeschränkt ist, Rücksichten nehmen muss nach links und rechts. Das ist ein logischer Prozess. Jetzt muss man einfach das Beste machen damit und zulassen, dass auch etwas anderes geschehen kann. Konsolidierung und Etablierung werden erst ein Problem, wenn die Etablierten nichts anderes mehr zulassen. Fangen bereits Gedanken an, die in Richtung numerus clausus gehen, weil man gerade an der Spitze dessen, was möglich ist, angelangt ist und nicht mehr sehen will, dass auf dem selben Berg noch andere rumklettern?

Wir wissen nicht, was für ein Potential da ist. Darum finde ich es schon nicht gut, wenn man fragt, ob es überhaupt Neue gibt, die da nachkommen könnten. Ich bin überzeugt, dass nach wie vor das selbe Potential da wäre; es gibt für die Jungen sicher genug zu sagen. Das Problem ist offenbar, dass sie nicht an die Mittel kommen. Ich meine nicht die materiellen. Sie finden den Weg nicht, um sich auszudrücken. Sie haben den Freiraum, der damals offenstand, als der neue Schweizer Film anfangen konnte, nicht. Aber wahrscheinlich ist doch die ganze Filmszene nicht völlig undurchlässig. Ich weiss nicht, ob man jetzt einfach abwarten muss, bis die Erstarrung soweit fortgeschritten ist, dass die Jungen wieder eine wirkliche Kampffront haben, oder ob man andere Lösungen finden kann, ohne dass man die Neuen gleich wieder integrieren will. So sehr ich unterstütze, dass man in Solothurn die Öffnung zu Super-8 und Video gemacht hat, so sehr finde ich es gefährlich, wenn man einen Jungen, der eine so irische alternative Arbeit geliefert hat wie den Tscharniblues1, gleich in den Kreis der gekrönten Häupter hebt und ihm die Möglichkeit gibt, einen einigermassen professionellen nächsten Film zu machen. Man könnte ihm so, indem man ihn integriert und domestiziert, genau diese Kraft, die er als Alternativer hat, rauben. Andererseits bin ich der letzte, der dafür plädiert, dass man solchen Leuten noch mehr Schwierigkeiten macht, als sie ohnehin schon haben.

Martin Schaub: Die Etablierung betrifft ja auch die Filmkritik; wir müssen uns nicht aussparen. Ein Schweizer Film kommt am besten zur Geltung in der Zeitung, wenn er ist, wie die anderen sind. Das heisst: ein ausgewachsener Film im Kino oder am Fernsehen. Kein Problem, auf diese Filme einzugehen. Was die Video-Szene betrifft und Super-8, sozusagen die «unsichtbaren Filme»: denen läuft heute niemand nach. Vor fünfzehn Jahren haben wir das noch gemacht. Die Filme von Brandt, Marti, Seiler, Soutter und Brandt waren auch «unsichtbare Filme». Wir haben darübergeschrieben, weil es keine anderen gab. Und das hat zum Teil dann sogar etwas bewirkt.

David Streiff: Mir schien eben gerade der Erfolg von Tscharniblues in Solothum ein Zeichen dafür, dass die Leute darauf warten, dass endlich wieder ein Neuer und eine neue Art von Filmen kommt. Ich weiss nicht, ob sich Filmkritik und Publikum wirklich nur für die Spitze des Eisbergs interessieren. Alle sind doch hungrig danach, etwas aus dem Begabungspotential der nächsten Generation zu sehen, aber offenbar schaffen das nur wenige und werden flugs - wie Wunderkinder - durch die Massstäbe, die sich eben gebildet haben, überfordert.

Georg Janett: Für die Filmkritik gibt es ja auch die Pflicht zur Aktualität, zur Entdeckung. Das bringt dann auch den Hang zur Mode und zur Verabsolutierung mit sich. Ich wehre mich gegen jede Verabsolutierung. Mein einziges Kriterium für die Beurteilung jedes Films ist die Frage, ob er in seinen Relationen stimmt.

Video ist ein Medium, das sich weniger für Grossprojektion eignet. Da muss eben der Filmemacher, wenn er seinen Film richtig geplant hat, auch selber sein Publikum finden, so wie es der Schweizer Film in den sechziger Jahren mit der Alternativszene gemacht hat. Und wenn es die nicht mehr gibt, muss nicht unbedingt ich es sein, der sie wiederaufbaut. Wenn ein 16-mm-Film oder ein Super-8-Film praktisch für einen internen Kreis gemacht ist, scheint es mir auch müssig, sich darüber zu wundem, dass er nicht darüber hinauskommt. Genau wie es müssig ist übrigens, wenn einer einen absolut privaten Psychotrip auf 35 mm auf die Leinwand klatscht und sich wundert, dass wenig Leute hineingehen. Was die Relationen, die stimmen müssen, betrifft, mangelt es manchmal an Überlegungen sowohl bei den Machern wie auch bei den kritisierenden Zuschauern.

Ein konkretes Beispiel: Jahrelang hat man sich über die Frische der leicht parodistischen und von Kinoliebe getränkten Filme der AKS-Filmgruppe (Aebersold, Klopfenstein und Schaad) gefreut. Und die Verblüffung war allgemein, wie die dann in Verlängerung der vorher parodierten Muster einen grossen 35-mm-Trivialkrimi machten. Kein Mensch konnte etwas damit anfangen, weil er nicht ins Konzept passte. Und die Gruppe selbst ist teilweise daran zerbrochen: einer wollte weiterfahren wie begonnen, der zweite anders, und der dritte hat sich zurückgezogen. Und jetzt taucht Klopfenstein wieder auf mit einem Film, der auf völlig andere Art wieder sehr nahe an den Anfängen ist. Aber jetzt stimmen die Relationen. Diese Entwicklung könnte beispielhaft sein und zeigen, wo ein möglicher Weg durchgehen könnte. Ich vermute, dass noch andere ihn gehen werden. Ich bin überzeugt, dass es Leute gibt, die wieder einen billigeren Film machen werden. (Neben den anderen, die unter dem Zwang der grossen Zahl immer noch teurer drehen werden und noch beliebiger.)

Friedrich Kappeler: Ich frage mich, ob überhaupt diese kleinen Filme vor zehn oder fünfzehn Jahren für einige der Regisseure doch immer nur Vorbereitungen waren für die nächstgrösseren, und ob sie nicht immer ins Kino wollten. Für diese Leute ist die Entwicklung doch gar nicht so falsch. Von unseren Bedenken her wahrscheinlich doch eher: Für 1,7 Millionen Franken könnte man eben drei kleine Filme machen, und nicht nur einen grossen.

Martin Schaub: Auf dem Weg von der kleinen Etüde mit dem grossen Ehrgeiz bis zum Kinofilm hat sich bei Machern und Zuschauern irgendwann einmal der Begriff «Fehler» eingeschlichen. Der Webfehler im Kino- und Fernsehfilm wird heute allgemein interpretiert als Schwäche. Die Produktivität von «Fehlern», von Regelverletzungen wird nicht mehr erfasst. Das ist es, was ich auch unter Konsolidierung und Erstarrung verstehe. Was sind denn Fehler? Gibt es die überhaupt?

Georg Janett: Wenn ein Film darauf angelegt ist, dass ich den Ton verstehe, und ich verstehe ihn nicht, weil die Tonaufnahme schlecht ist, dann ist das einfach ein Fehler. Wenn eine Szene darauf angelegt ist, dass ich nichts verstehe -wie beispielsweise der Anfang von Godards Week-end —, dann ist das gleiche kein Fehler, sondern höchste Kunst. Ein schmuddeliges Bild in einem schönen Film ist - sofern der Sinn der Schmuddeligkeit nicht klar aus dem Zusammenhang ersichtlich ist - ein Fehler.

Von der Angst, Konventionen zu verletzen

Martin Schaub: Einverstanden. Aber es hat sich im Schweizer Film ein Purismus eingenistet, der schon gar nicht mehr argumentiert. Wenn ich sehe, wie Filme entstehen, wie sich die Macher mit hochkarätigen Equipen umgeben, dann denke ich, dass da ein Klima der Angst geschaffen worden ist, Angst, etwas selber zu versuchen, Angst davor, die Konvention zu verletzen. 80 Prozent der normal finanzierten Filme in der Schweiz sind formal und stilistisch konventionell.

Georg Janett: Letzten Endes machen ja nicht die Techniker den Film. Sie sind tunlichst bemüht, den Film zu machen, den der Regisseur will. Die Konventionalisierung der Autoren ist für mich das grössere Problem als die Konventionalisierung der Techniker, die par definition eine viel grössere Flexibilität haben. Man kann nicht erstarren, wenn man im Jahr drei bis vier Spielfilme mit ganz verschiedenen Regisseuren macht. Als Techniker kann man sich kaum auf Normen zurückziehen. Das Problem kommt woanders her. Ich würde die Ebene des Drehbuchs nennen und eine bestimmte Art der Schauspielerei, die sich da im Bereich einer Mittellage des psychologischen Realismus finden. Da entsteht dann eine gewisse Uniformität, von der selbst ein missratener Film wie jener von Simon Edelstein wohltuend absticht, weil er wenigstens etwas anderes versucht.

Friedrich Kappeler: Wir können die ganze Entwicklung, wie sie jetzt beklagt wird, nicht weitgehend als Problem der Regisseure darstellen. Wir erinnern uns ja der Diskussionen in Solothurn – ein wenig nach den zornigen Zeiten -, in denen sowohl von der Filmkritik als auch vom Fernsehen und den Kinoleuten gefordert wurde: Macht endlich einmal Filme, die man anschauen kann und wo die Leute hingehen. Und jetzt ist diese Forderung in einem gewissen Sinne erfüllt. Aber jetzt wird es uns langsam unwohl. Jetzt fragen wir uns: Sind jetzt das die Filme, die wir eigentlich wollten, damals? Ich denke da im speziellen an die Filme, die kürzlich in den Schweizer Kinos Erfolg gehabt haben.

Georg Janett: Wir tun jetzt da, als handle es sich um ein Trauerspiel. Man könnte - den nötigen Zynismus vorausgesetzt - das Ganze auch als Komödie sehen. Wenn ich denke, welche heroischen Predigten noch vor vier Jahren gewisse Leute in Solothurn gehalten haben, von Hochhaltung des Alternativkinos und so. Und dieselben Leute, rampenläufig und geil, benützen die erste sich bietende Gelegenheit, beim Kino oder beim Fernsehen unterzukommen. Sie entwerten im Nachhinein jene früheren Bemühungen durch ihre gegenwärtige Praxis. Aber vielleicht waren die alle todunglücklich damals, wollten gar keine Dokumentarfilme zu sozialen Themen machen. Diese boten einfach die einzige Gelegenheit, überhaupt Filme machen zu können, mit der Unterstützung des Staates.

Alternativkino - eine Heuchelei?

Bernhard Giger: Das würde also heissen, dass sehr vieles von dem, was man damals über den Schweizer Film gesagt hat, unwahr wäre und irgendwie eine Heuchelei? Wir haben noch gestern gesagt, der neue Schweizer Film sei angetreten gegen ein etabliertes Kino, und er sei eben weitgehend ein Alternativkino gewesen.

Georg Janett: Ja, ich glaube das zu einem Teil. Ich bin bösartig genug dazu. Zuerst ist der neue Schweizer Film nicht gegen einen bestehenden angetreten. Den gab es damals kaum mehr, und das historische Bewusstsein der Mehrzahl schweizerischer Filmemacher ist unterentwickelt. Das, wovon man sich absetzen will, muss aber zuerst einmal in den Köpfen vorhanden sein. Natürlich ergab sich daraus, dass man wahrere Bilder den anderen entgegenstellen wollte, die damals im Kino oder Fernsehen zu sehen waren. Das aber, diese Fixierung auf eine bestimmte Realität, hat eben auch negative Auswirkungen gehabt, die man zum Beispiel bei der Mühsal eines Neubeginns im Deutschschweizer Spielfilm erleben kann, und zwar auch bei Leuten, die längst in diesem Spielfilmbetrieb drin sind: Dieses Bedürfnis nach Absicherung, die soziologischen Enqueten, um zu einer Fiktion zu gelangen, die stichhaltig ist, eine Art Faktenfixierung, die in einem deutlichen Kontrast steht zu dem, was man fordern könnte, nämlich Phantasie, Freiraum und dergleichen.

Friedrich Kappeler: Ich glaube einfach nicht, dass es Autoren gab, die nicht ins Kino wollten. Ich glaube, dass selbst die Leute, die dieses Jahr in Solothurn ihre Videosachen und Su-per-8-Filme gezeigt haben - jene, die nicht nur für einen bestimmten Kreis bestimmt waren, um genauer zu sein -, auch ins Kino wollen. Der Super-8-Mensch nimmt morgen die 35er in die Hand. Sofort. Der will das; er will ins Kino.

David Streiff: Unterdessen ist die Schiene einfach da, und auf der muss es laufen. Ich glaube aber doch, es gab eine Zeit, wo dieser Drang nach dem Kino nicht so gross war wie der Drang, sich alternativ auszudrücken, auch im politischen Kontext der Nach-68er-Zeit.

Edi Hubschmid: Aber das muss man auch von der wirtschaftlichen Seite sehen. Wir haben damals Filme gemacht, und die sind in den Kirchgemeindesälen und, wenn’s hochkam, auch einmal beim Fernsehen gelaufen. Und dann hat sich mit der Zeit herausgestellt, dass das wirtschaftlich eine Katastrophe war.

Martin Schaub: Aber es war möglich eine Zeitlang. Peter von Gunten und Kurt Gloor sind mit ihren Filmen herumgereist und haben sogar teilweise die neuen selber finanzieren können. In dieser Zeit der Auswertung konnten sie zwar nicht ungehindert weiterarbeiten. Aber wirtschaftlich war es dennoch.

Georg Janett: Natürlich ging das, als der Autor sein eigener Produzent war und Verleiher und Kommentierer und Begleiter. Mittlerweile gibt es mehr Autoren und mehr Filme, und damit schwindet bei den meisten die Lust, die nicht immer fröhliche Arbeit zu unternehmen. Und mittlerweile gibt es ein paar Alternativverleiher, die diese Arbeit zum Teil ganz gut machen. Natürlich gibt es auch noch die Gegenbeispiele: Walter Marti, der dabeibleibt und dafür damit büsst, dass er nur alle vier Jahre einen alternativen Offside-Film machen kann.

Edi Hubschmid: Das sagt sich etwas leicht: «hat halt nur alle vier Jahre einen Film gemacht». Aber das ist doch ziemlich schlimm. Im Übrigen bin ich mit der Bemerkung, man könnte mit 1,7 Millionen Franken drei Filme machen, gar nicht einverstanden. Wenn wir von der Filmbranche selber so argumentieren, schiessen wir uns in den Rücken. Ich vergleiche viel lieber die Kosten eines «Mirage» mit den Kosten eines Films. Wenn wir von den hohen Kosten eines Kinofilms reden, machen wir uns lächerlich. Bei uns sollten Kinofilme längst so um die drei Millionen kosten. Ein Film sollte eben kosten können, was er kostet.

Friedrich Kappeler: Ich sage das ja nur, weil so wenig Geld für Filme vorhanden ist. Wenn so teure Sachen entstehen, absorbieren sie halt einen grossen Teil von dem, was eben vorhanden ist, und das ist nicht so viel wie für die Mirages und für den Käse. Ich weiss nicht, ob gewisse Grössen für uns einfach nicht möglich sind, und ob Leute, die so grosse Sachen machen wollen, ins Ausland gehen müssten, konsequenterweise.

Bernhard Giger: Viele nehmen die Kosteneskalation doch zu selbstverständlich hin. Ich komme zurück auf den Vorsatz, alternatives Kino zu machen: Wenn das tatsächlich Heuchelei gewesen wäre, dann wäre alles falsch gewesen, was ich in den letzten sieben Jahren über den Schweizer Film gedacht habe. Ich glaube noch immer, dass Gewisse tatsächlich ein alternatives Kino wollten und sich auch ernsthaft darum bemüht haben. Mit der Zeit kam - und da ist die Filmkritik bestimmt nicht ohne Schuld - dieser Zwang zum Kino, wobei Kino immer Spielfilm bedeutete. Das ging so weit, dass man sich ja kaum mehr Gedanken darübermachte, ob man auch Dokumentarfilme ins Kino bringen sollte, was in Amerika manchmal mit Erfolg versucht wird. Behinderte Liebe von Marlies Graf ist eine Ausnahme, aber da spielten ja auch andere Gründe hinein.

Es gibt seit zehn Jahren das Berner Kellerkino. Vor zehn Jahren kamen einige Leute zu Theres Scherer und wollten ähnliche Kinos eröffnen in verschiedenen Schweizer Städten. Dann verstrickten sie sich in Behördenkram und bekamen gleich Schwierigkeiten mit den Verleihern. Und so gab es schliesslich nur ein einziges Kellerkino in der Schweiz, aber daran sind auch die Filmemacher schuld. Sie haben zu früh aufgegeben in ihrem Kampf um ein anderes Kino. Das ist ja auch ein Grund, weshalb es heute weniger Dokumentarfilme gibt als früher.

Der Dokumentarfilm ist zudem an einen Punkt gekommen, wo er sich hätte ändern müssen. Die Dokumentaristen haben sich zu wenig mit der Form ihrer Filme auseinandergesetzt. Wenn ich heute Die letzten Heimposamenter anschaue, finde ich das echt langweilig. Man hätte damals - und das ist wieder auch Selbstkritik - viel genauer schauen müssen, was das für Filme waren, die man gerade feierte. Ob sie jemand sehen wollte.

Georg Janett: Wenn du das fragst, dann landest du über kurz oder lang bei der Fiktion, weil das die Leute einfach lieber sehen wollen.

«Da kommst du als Filmer gar nicht hin.»

Bernhard Giger: Das glaube ich einfach nicht. Wenn man einen Film wie Harlan County2 mit dem Aufwand herausbringen würde wie andere, vor allem amerikanische Filme, könnte das durchaus ein Film werden, den die Leute wirklich sehen wollen.

Georg Janen: Aber wir haben keinen Harlan County. Wir haben Fersehfilme, in denen Leute in Grossaufnahme sprechen über irgendwelche Probleme. Wir haben einfach nicht die brisanten Themen. Und da, wo wir sie hätten, kommst du als Filmer nicht hin. Versuche doch, einen Film über das Bankgeheimnis zu machen. Wir haben ein völlig anderes Öffentlichkeitsverständnis nur schon als unsere Nachbarländer, geschweige denn die USA. Deshalb die vielen Randgruppenfilme. Bei den Marginalen gibt’s noch Leute, die etwas zu sagen haben und etwas sagen wollen.

Edi Hubschmid: Ja, wer bringt denn die amerikanischen Filme heraus, mit wieviel Geld und mit welchem? Das ist doch das Problem. Solange die schweizerische Filmindustrie sich so verzettelt, haben wir keine Chance. Machen wir doch endlich diese Zusammenhänge und Zusammenschlüsse. Bevor ich sage, wir müssen billigere Filme machen, verlange ich, dass unsere inselhafte Filmwirtschaft verbunden wird, damit wir endlich einen finanziellen Rücklauf in die Produktion bekommen.

Georg Janett: Solange wir nur diesen kleinen Marktanteil im Kino haben, fünf Prozent jetzt schätzungsweise, ist bei uns der Film vom Mäzenatentum abhängig, vom Staat, von Institutionen und Stiftungen. Ein solches Filmschaffen ist eben nie spektakulär; es ist bemüht, es kümmert sich um die Benachteiligten usw., aber nicht um die Themen, die die Schweiz wirklich betreffen. Wenn wir sagen: Der alte Schweizer Film hat kein Bild von der Schweiz gezeigt... ja, unsere Dokumentarfilme zeigen auch kein Bild der Schweiz. Wenn ich ein paar Filme der amerikanischen Schwarzen Serie anschaue, dann wünsche ich mir manchmal ein bisschen mehr Industrie bei uns.

Bernhard Giger: Was den Marktanteil der inländischen Produktion angeht, gab es ja noch ein viel erschreckenderes Beispiel, die BRD, wo es tatsächlich nur noch amerikanische und veramerikanisierte europäische Filme gegeben hat in den Kinos. Aber der deutsche Film behauptet sich wieder. Wenn du nach München gehst, laufen sechs oder sieben deutsche Filme in den Kinos, nicht nur veramerikanisierte wie etwa Fabian.

Georg Janett: In Zürich sind auch schon vier Schweizer Filme gleichzeitig in den Kinos gezeigt worden. Es herrscht da ein bisschen zuviel Euphorie mit dem neuen deutschen Film. Die Enttäuschung war für mich gross, als ich zum Beispiel Die Abfahren oder Das zweite Erwachen der Christa Klages gesehen habe. Das sind doch harmlose Filmchen, die einfach hochgejubelt worden sind an Filmfestivals und auch nachher von der Kritik, und die in der BRD einen Achtungserfolg hatten, weil sie etwas anders waren als die täglichen Fernsehfilme. Das ist vergleichbar mit den ersten Genfer Spielfilmen, die eben auch gut «fielen».

David Streiff: Der Schweizer Film hat auf den Festivals prestigemässig verloren. Es ist viel schwieriger geworden, dort Filme zu platzieren. Es wird offenbar von uns erwartet, dass wir irgendetwas ganz Neues nachliefern, das wieder genauso interessant ist wie damals die ersten Filme. Natürlich könnten wir auf den internationalen Festivals auch mit einer Art Werbeterror anfangen, wie das andere, auch neue Filmländer auch tun. Wenn der Schweizer Film wirklich gewachsen wäre, hätten wir unter Umständen jetzt ein enorm kommerzielles Kino mit der ganzen dazugehörigen Werbemaschinerie. So etwa wie die Australier, die durch einen Staatsbeschluss enorme Mittel freibekommen haben. Bei uns ist es anders gelaufen. Wir sind nach wie vor marginal und langsam auch nicht mehr so interessant. Wir sind keine Entdeckung mehr.

Kleine Filme - ärmliche Filme

Martin Schaub: Eine konkrete Frage an die Fachleute: Ist es möglich, mit einer halben Million Franken oder 700 000 heute, vielleicht mit anderen Produktionsmethoden, Filme zu machen, denen die Armut nicht ins Gesicht geschrieben steht? Oder ist es unausweichlich, dass billige Filme auch gleich armselig aussehen? Im Lauf der Zeit von Wim Wenders hat damals auch nur 730000 Mark gekostet, aber das ist ein grosszügiger Kinofilm.

Edi Hubschmid: Ich glaube, dass wir für dieses Geld mit Francis Reusser (Seuls) jetzt einen sehr ansehnlichen Film machen. Aber Tatsache ist jetzt halt, dass ein Techniker heute zwischen vier- und sechstausend Franken im Monat kostet. Und das ist richtig; dafür habe ich mich jahrelang eingesetzt. Das war bei Thomas Koerfers Der Gehülfe noch nicht der Fall; da wurde mit Monatslöhnen von 2800 Franken kalkuliert.

Georg Janett: Zunächst glaube ich einfach nicht, dass wir in der Schweiz einen Epiker vom Format eines Wim Wenders haben. Aber eigentlich kann man jedem Film ansehen, was er gekostet hat. Nicht immer ist das Geld auf die gleiche Weise sichtbar. Wenn ich an Claude Gorettas Pas si méchant que ça denke, muss ich auch wissen, wie teuer die Schauspieler waren, um die Kosten von zwei Millionen Franken zu verstehen. In den Bildern ist das Geld da nicht sichtbar.

Es ist aber denkbar, dass einer einen imposanten Film macht, der eine geniale Idee hat. Jeder, der mit der kommt und mit einer halben Million, wird einen Film machen können, der standhält. Und wer sie nicht hat, wird halt für 500 000 Franken einen kleinen, ärmlichen Film machen, der vielleicht ein partielles Interesse wecken kann, aber eben nur ein partielles.

Martin Schaub: Es ist wieder viel die Rede von Sachzwängen, und wir operieren in einer Art «materialistischer Logik», die mich nicht befriedigt, weil sie wirklich nicht alles erklärt. Es gibt Theater, und es gibt das Staatstheater. Es gibt Film, und es gibt das Kino und das Fernsehen. Und es ist immer ein Quantum Pervertierung festzustellen, wenn Theater zu Staatstheater, und wenn Film zu Kino oder Fernsehen wird. Nun haben wir alle vor fünfzehn Jahren diese Perversion erkannt und uns in der allgemeinen Verweigerungsbewegung solidarisiert. Mir scheint dieses politische Bewusstsein nicht mehr so ausgeprägt. Nun antwortet man auf so säuerliche Statements: «Hallo, das ist halt der Lauf der Welt, und da kann man gar nichts machen». Alle meine Fragen zielen in die gleiche Richtung: Kann man wirklich nichts machen? Kann man nicht alle die Fremdbestimmungen, die genannt worden sind - Filmförderung, Mäzenatentum, Erfolgszwang und Kinogängigkeit, Fernsehdramaturgie und -politik - unterlaufen, mindestens teilweise? Muss man sich so kooperativ verhalten gegenüber jenen, die es in der Hand haben, dass diese Filme entstehen und jene nicht? Ist es falsch, wenn ich bei vielen von denen, die vor fünfzehn Jahren so laut ausgerufen haben, auch einen gewissen Opportunismus feststelle, der einhergeht mit einem gewissen Potenzschwund? Muss man sich ihn wirklich abschneiden, wenn man ins Geschäft kommen will?

Der Film der 68er-Generation

Friedrich Kappeler: Ich kann da nur als Autor reden. Früher war da etwas, wogegen man sich auflehnen konnte. Die gegenwärtige Konsolidierung wäre ja auch eine Phase, wo Neues zum Vorschein kommen müsste, eben auch als Bestärkung der Richtigkeit dessen, was man da so ausgerufen hat. Aber ich kann die Zeit nicht ganz ausser Acht lassen. Da kommt einfach eine eminente Verstörung dazu. Was soll man noch machen? Was ist wichtig? Wir sind abgeschnitten. Ich erlebe das sehr deutlich, wenn ich an die Vollversammlungen der Jungen in Zürich gehe, die sagen, jetzt haben wir den Power. Da sind wir einfach nicht mehr dabei. Damals waren wir es, die gesagt haben: Jetzt reden wir mal, bis jetzt haben wir noch nicht geredet. Jetzt müsst ihr mal hinhören! Georg Janen: Pervertierung ist für mich ein zu starkes Wort. Aber was kann man dem entgegensetzen? Den Kult des Autodidaktischen? Das ist offenbar auch keine Alternative. Aber es stimmt: Wir sehen Leute, die sich selber profiliert haben, und die sich jetzt sehr willfährig in völlig andere Bahnen schieben lassen oder die sich gleich selbst und freiwillig auf diese Gleise setzen. Ich meine auch nicht, dass man sich dem Kino und dem Fernsehen verweigern soll, aber man sollte versuchen, im Rahmen der Spielregeln möglichst elegant mit dem, was man hat, zu jonglieren. Und auf der anderen Seite hoffen, dass alternative Formen weiter bestehen bleiben, aber sich nicht allzu sehr darüber wundem, wenn sich nicht sehr viele Leute dafür interessieren.

David Streiff: Dass sich Friedrich Kappeler an den Vollversammlungen der Zürcher Jugend fremd vorkommt, zu einer anderen Generation gehörend, und dass er merkt, dass er in diesem Kreis schon nichts mehr zu sagen hat, scheint mir sehr wichtig. Dass Theater zu Staatstheater wird (und Film zu Kino und Fernsehen), da kommen wir einfach nicht mehr dämm herum, es zu akzeptieren. Das ist halt schon der Lauf der Dinge für jede Generation. Aber dieser Zustand wäre weniger deprimierend, wenn es jetzt schon eine Generation gäbe, die sich ausdrücken könnte und dem Medium neue Impulse gäbe, die diese Altmeister des neuen Schweizer. Films herausfordern könnten. Dass da noch nicht viel nachkommt, scheint mir viel bedenklicher als die Tatsache, dass Autoren, die jetzt über vierzig sind, ihre Filme nicht mehr im Kirchgemeindehaus vorführen.

Georg Janett: Wenn wir uns jetzt darüber unterhalten, dass anscheinend jetzt die fehlen, die da sagen: Wir müssen dem, was heute gemacht wird, die wahren Bilder entgegenstellen, wäre auch zu bedenken, dass sie vielleicht eben diese «unsichtbaren Filme» machen, von denen wir auch gesprochen haben. «Unsichtbare Filme» sind ja möglicherweise auch unsichtbar, weil sie unsichtbar bleiben sollen. Ich analysiere ungern eine kommende Generation, aber vielleicht stecken da auch andere Überlegungen dahinter. Jemand, der Super-8-Fil-me macht, ist entweder ein sehr mobiler, auf unmittelbare Aktualität bedachter, politisch orientierter Mensch. Oder er ist vielleicht ein versonnener Grübler, der, statt ein Tagebuch zu schreiben, seinen Film macht und gar nicht primär darauf aus ist, dass ich ihn auch sehe.

Aufmerksamkeit, Phantasie, Herzblut

Bernhard Giger: Ich möchte doch auf die Stoffe zurückkommen. Vorher wurde Adolf Winkelmanns Die Abfahrer erwähnt. Dieser Film mag zwar nicht sehr gut sein, aber er hat etwas Frisches, und er erzählt etwas über Leute, die auch heute im Kino sitzen. Filme wie Die Abfahrer gibt es in der Schweiz nicht. Wenn jemand in dem Film «Kleine frieren auch im Sommer» sitzt, der schon einmal einen durchgezogen oder mal ein bisschen LSD genommen hat, dann kann er diesen Film nur noch als Komödie anschauen. Und noch etwas: Georg Janett hat gesagt: Uns fehlen die brisanten Themen. Nun, ich glaube nicht, dass es Terroristen braucht in einem Land, damit man endlich über dieses Land einmal etwas sagen kann. Es gibt in der Schweiz genügend Themen, die auf der Strasse liegen. Ich fürchte, dass die Schweizer Filmemacher irgendwie Angst haben, sich wirklich mit dem auseinanderzusetzen, was sich vor ihren Augen abspielt. Wir haben alle Nachbarn, warum setzen wir uns nicht mit ihnen auseinander?

Martin Schaub: Bernhard Giger fragt nach den Stoffen, ich stelle Fragen zu den Formen. Ich glaube, die Autoren des neuen Schweizer Films haben viel zu lange, über die Zeit hinaus, didaktische Filme, Thesenfilme, «Problemfilme» hergestellt. «Sensibilistische Filme» - dieses Wort, um einmal eine gewisse Richtung anzudeuten - fehlen weitgehend. Friedrich Kappeler ist einer der wenigen, die nicht meinen, ein Film sei wichtig, wenn die richtigen Sätze darin fallen, sondern die Sätze seien richtig, wenn sie im richtigen Klima gesprochen werden. Ich sehe weit und breit gut gedachte, gut gemeinte und gut diskutierende Filme.

Georg Janett: Lange wurde übersehen, dass viele Filmer, die bei uns einen guten Namen haben, Literaten sind, die sich aus irgendwelchen Gründen mit dem Medium Film ausdrücken, Journalisten, Reporter, aber keine Filmer. Und deshalb ist es zum Teil illusorisch, da eine Entwicklung erwarten zu wollen. Es werden andere Leute kommen, und irgendwann einmal werden die wichtiger, und eine andere Tendenz verschwindet (...).

Übrigens gibt es diese Lehrerhaftigkeit ja bereits in der Literatur seit dem 19. Jahrhundert, ja schon früher eigentlich. Wir haben nicht zufällig so viele Lehrer, die in der Kultur tätig sind.

Martin Schaub: Martin Schlappner hat dieses Phänomen in unserer gestrigen Diskussion auf eine Formel gebracht: Schweizer Filmer, Musiker, Schriftsteller, Maler, was auch immer, seien eben immer eingespannt zwischen Pflicht und Gefühl. Und «Gefühl» darf man wohl auch ersetzen mit «Phantasie», «Traum», «Utopie» usw. Es sei sozusagen das historische nationale Schicksal, dass unsere Künstler zwischen den beiden Polen lavieren.

Ich argumentiere von einer anderen Position aus. Ich würde sagen, in einem bestimmten historischen Zeitpunkt - oder vielleicht sogar immer - sei es eben gerade Pflicht, sich auf die Seite der Phantasie, des Gefühls oder des Traums zu schlagen. Und darum fordere ich immer wieder einen «unvernünftigen Film». Auf diese Formel könnte ich im Moment meine Kritik an gewissen Entwicklungen im Schweizer Film bringen: Ich vermisse die Lust, sich resolut auf die Seite der Phantasie und des Gefühls und des Traums zu stellen.

Friedrich Kappeler: Vielleicht gibt es schon heute genügend Filmer, die ihrer Phantasie freien Lauf lassen möchten, aber die haben im Moment Angst, dass die Schwellen, nämlich die Experten, die Dramaturgen usw., die ganze Geldsuche, zu hoch sind. Sie haben den Eindruck, dass man dort mit didaktischen Filmen durchkommt, mit «sensibilistischen» aber nicht.

Georg Janett: Beat Kuerts Schilten empfinde ich in einem gewissen Sinn als einen Versuch in diese Richtung. Und es scheint mir auch eine Schwierigkeit des «sensibilistischen Films» zu zeigen: Sehr oft bleibt Gefühl im ganz privaten Bereich, und da besteht dann eben die ganz grosse Gefahr, dass die Rechnung nicht mehr stimmt, weil Film eine so kapitalintensive Sache ist. Wir wollen ja auch keine Filme, die nur ein paar Spontis und Phantasten interessieren. Es müssen auch Themen sein, hier und jetzt, und wie wir sind und was in uns passiert. Dass man sie mit Phantasie angeht, das scheint mir auch ein Gebot.

Bernhard Giger: Und trotzdem möchte ich weitergehen. Ich möchte schon den Film fordern, in dem es Herzblut hat, den Film, der vielleicht die Verzweiflung artikuliert von dem, der ihn gemacht hat, die Verzweiflung, hier zu leben. Und ich möchte alles unterstützen, was irgendwie frech ist, aber vielleicht ein bisschen schief, fehlerhaft. Es geht ja nicht nur um den Schweizer Film, der jetzt, meiner Ansicht nach, langsam erstarrt, sondern es geht auch um den internationalen Film, um die ganze Kinolandschaft, die ich arg verwüstet finde, und in der man traurig und einsam werden kann. Darum möchte ich alle, die irgendwo etwas Anarchistisches haben oder sich um Gesetzmässigkeiten nicht so kümmern, wirklich unterstützen.

Bernhard Giger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
Edi Hubschmid
ist Filmtechniker, arbeitete vor allem als Produktionsleiter und betreibt zurzeit die Produktionsabteilung der «Cactus»-Film in Zürich.
(Stand: 2020)
Georg Janett
ist seit langen Jahren der Allround-Filmtechniker des neuen Schweizer Films. Erarbeitete in den meisten Funktionen vor allem als Drehbuchmitarbeiter, Regieassistent und Cutter. Er war massgeblich beteiligt an den Filmkursen der Zürcher Kunstgewerbeschule.
(Stand: 2020)
Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
David Streiff
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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