ROLF KÄPPELI

SCHWEIZER DURCHSCHNITTSHEIMAT — BRUNO MOLLS SAMBA LENTO

CH-FENSTER

Bahnhof Olten. Der Polizist Bruno Theis macht einem Italiener klar, dass er aus der Schweiz abhauen solle: «Via in Italia - qui è Olten!» Wenn er kein Geld mehr habe, dann eben per Autostop, aber sofort! Bruno Theis siezt und duzt den Italiener, wie es in der autoritären Sprachgebärde, in schweizerischem Hochdeutsch und italienischem Schweizerdeutsch eben gerade kommt. Neben ihm stehen zwei SBB-Beamte: mittellose italienische Schwarzfahrer könnten ja möglicherweise auch Kriminelle sein; da wendet man sich sicherheitshalber besser an die Polizei.

Die Kamera beobachtet den Vorfall von aussen, sie lässt das Erbärmliche hinter der Fensterscheibe des Raumes sich abspielen; sie bleibt oder geht auf Distanz. Mit den Ohren sind wir allerdings erdrückend nahe dabei; der Mensch und Polizist Theis funktioniert hier nach «gutschweizerischer» Manier, wird zum Funktionär, von dem wir uns distanzieren.

Diese «Szene» in Bruno Molls Film Samba Fento oder Wir müssen wieder leben lernen ist für mich zu einer Schlüsselstelle geworden. Moll spielt mit seinen Bildern und Tönen, die er von den vier Amateurmusikern und Profischweizern eingefangen hat, einen eigenen Samba, ein nicht sehr harmloses Spiel von Nähe und Distanz zu den Porträtierten; er unternimmt eine Gratwanderung zwischen zwei menschlichen Abgründen, zwischen dem «Verheizen» seiner Gesprächspartner und der Anbiederung.

Einige Male empfand ich leichte Schwindelanfälle während dieser Wanderung, ich spürte die Gefährlichkeit des Grates mehr als mir recht war; handkehrum ging’s erstaunlich gut. Um’s noch deutlicher zu sagen: An einer Stelle sagt Peter Rogger, die Vaterfigur der porträtierten Combo-Unterhaltungsband, dieser Film wolle ja auch zeigen, was man mit der Freizeit, die immer grösser werde, so alles anfangen könne. Das ist eine Stelle, an der ich die Gefahr des Abgrunds am stärksten spürte. Ich weiss nicht, ob Peter Rogger diesem Film immer noch mit der gleichen Naivität begegnet, oder ob er und seine Kollegen etwas von dieser schauderhaft normierten schweizerischen Mittelmässigkeit spüren, die dieser Film ausdrückt. Samba Fento ist zuletzt ein Film über die Art, wie man seine Freizeit verbringen könnte, wohl eher darüber, wie man sie vertut - eben durchaus im Stil einer «Härdöpfelstock-und-Brotwurst-Konsum-Kultur» (Rogger), auch wenn man in diesem Fall zufälligerweise auf der produzierenden Seite steht. Moll führt das Thema seines ersten Filmes (Gottliebs Heimat), weiter: Er stellt wieder die Frage nach der Heimat, nun aber nicht mehr am Beispiel eines Auswanderers und Rückkehrers, sondern an hier und jetzt mehr oder weniger «zufrieden» lebenden Schweizern mittleren Alters. Die Heimat dieser Schweizer ist dort, wo die Kirche durchaus noch im Dorf ist, wo einzelne Schüsse im Schiessstand die sonntägliche Landschaftsruhe nicht stören; Heimat ereignet sich, wenn die vier Schweizer ihre Berufs- und Familienrolle vorübergehend abstreifen und «zum Ausgleich» Schwingbesentanzmusik spielen und Männerkollegialität leben. Sie findet bei der Arbeit statt, wo jeder seinen Platz hat, wo der Mensch zu einer Funktion wird.

Ganz so durchschnittlich, brav und konservativ will man ja aber nun doch wieder nicht sein: So können beispielsweise die Sekretärinnen des Prokuristen Robert Schumacher ihre Arbeit bald schon selbständig erledigen, er selber hat es seiner Frau durchaus auch schon erlaubt, allein in die Ferien zu gehen. Und der Student und Musiklehrer Koni Heusser findet es gar schade, dass wir das Militär haben müssen. Aber gegen das Militär will er damit nichts gesagt haben, und überhaupt ist da alles so gemeint, dass «es im Rahmen» bleibt (Frau Schumacher). Nur einmal versteigt sich Peter Rogger zu dem Satz, dass die Schule für ihn der brutalste Arbeitsplatz war; allerdings sagt er dies auch erst, nachdem er in der Gegenwart eine eindeutige Humanisierung der Schule festgestellt hat. Das Verhalten des Polizisten gegenüber dem Italiener war wohl auch nicht so gemeint, wie wir es erlebt haben; denn beim Mittagstisch, bei Zeitzeichen und Nachrichten, findet er die Italiener viel kinderfreundlicher als uns Schweizer. Und auch für Demonstranten, die gegen Kernkraftwerke demonstrieren, hat er einiges Verständnis, wenn es nicht gerade «faule Eier» seien ...

Moll versucht, seinen Partnern menschlich näher zu kommen, sie in ihrer Widersprüchlichkeit zu verstehen. Das bedingt wohl auch jene Doppelbödigkeit, die diesen Film so stark prägt und die Moll mit seiner Kommentarlosigkeit noch unterstützt.

Rolf Käppeli
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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