KARSTEN WITTE

DIE ZEIT ALS FILMKALENDERBLATT — HÉCATE ET SES CHIENS VON DANIEL SCHMID

CH-FENSTER

Dieser Film hat ein Geheimnis, das er auch dann bewahrt, als er es nach der ersten Hälfte offenbart. Es spielt dann nicht länger jene Rolle, den unser Wunsch nach Aufklärung ihm zuschob. Einer der Partner im Spiel, das sich zu einem amour fou verstrickt, sucht es, will es entdecken. Je mehr doch die Spurenlegerin des Geheimnisses sich ihm entzieht, desto stärker kreist er um sich selbst. Ein Kalvinist zieht aus, das Laster zu lieben und kehrt am Ende blasiert und geheilt heim.

Das Geheimnis wird Zug um Zug von einer Frau gelüftet, die sphinxhaft lächelt, die sich dem Mann, der ihr verfällt, mit einer Leidenschaft zur Indifferenz hingibt und dabei das Laster, um sich selber zu entlasten, ihm gleichsam überschreibt. Das ist bei aller Individualisierung ein klassischer Schuldentlastungskonflikt der französischen Literatur. Von Racine über Stendhal zu Gide ist überliefert, in welchem Mass die männlichen Novizen ins soziale Netz der Sexualität durch eigene Lust am moralischen Verfall und schwächer werdende Empörung an diesem Sturz, der auf Deutsch widerstandslos als Weltende durchlitten würde, an Relief gewinnen.

Dieser Weg ist geschützt bloss durch Immoralismus zu begehen. Hierzu lädt der Film auf breiter Bahn ein, die mit raffiniertem Luxus und besonnener Schönheit leicht verdeckt, was ihren Untergrund ausmacht. Das Geheimnis, einmal benannt, heisst Kinderprostitution, Päderastie. Das bedeutet als moralisches Geschoss die gezielte Verletzung des letzten Tabus der westlichen Welt, nach dem Dogma der Mutterliebe.

Die Story verrät ihr Geheimnis aber nicht an den Film. Der Film bewahrt es, indem er die Entdeckung nicht als den plötzlichen Skandalblitz in den sozialen Frieden leuchten lässt, sondern indem er die Entdeckung als einen Prozess von der Ahnung zum Verdacht, vom Verdacht zur vermeintlichen Gewissheit und wieder zur vermuteten Einbildung zeigt. Das Geheimnis könnte ebenso gut oder schlecht nicht die besondere Vorliebe einer einzelnen Person sein, sondern die Manifestation einer kollektiven Phantasie, die in diesem Film auf engstem Schauplatz keinen anderen Raum zur Ausschweifung kennt als die Unterdrückung zum Gerücht.

Der Film schafft Räume neben den vorgezeigten. Die Kammern der Imagination liegen im Off und werden vom Zuschauer ausgestattet. Die Tabuverletzung geistert als Skandal durch die Story, gezeigt wird sie nicht. Sie nicht zu zeigen, ist Teil der Frustrationsstrategie des Films, der sich der Sache nicht aus Prüderie entzieht, sondern aus der Schamlosigkeit, sie einmal benannt wieder zur fixen Idee aufzulösen.

Ein junger Mann im diplomatischen Dienst wird vom Ministerium auf seinen ersten Aussenposten versetzt. Das ist ein Sprung von Paris nach Marokko und ein folgenschwerer Karriereknick. Der unbekümmert sportive Dreissigjährige, der sich im geborgten Glanz der sicheren Laufbahn wähnt, entdeckt in seiner Leidenschaft zu einer fremden Frau deren Geheimnis, das er zunächst aus Eifersucht, dann wohl auch aus uneingestandener Komplizenschaft teilt. Ein Film über den Tauschwert der Begierde einerseits und ein Film der ästhetisch tarnenden Betörung andererseits.

Zwei makellos schöne Stars verkörpern die Partner in diesem ebenso schwebenden wie fatalen Spiel der Bodenlosigkeit. Bernard Giraudeau und Lauren Hutton. Die Kamera von Renato Berta, sehr kalt und kalkuliert, wie es sich für dieses Ambiente gehört, entdeckt nach und nach den Zerfall in jenen makellosen Erscheinungen. Giraudeau ist zunächst der glatte Geck mit den zweifarbig abgesetzten Lederschuhen, von denen ausgehend im Vertikalschwenk aufwärts über die Rollbahn der breiten Revers und den markanten Endpunkt des Hutes ein Sozialcharakter umrissen wird. Später sieht er ganz schön derangiert aus. Afrikanische Musik ertönt, bevor dieser Mann den Boden Marokkos betritt. Unberührt schiebt er sich durch das Lokalkolorit, mit den zeitlupenhaften Bewegungen eines Alain Delon, der sich in eine amerikanische Produktion verlaufen hätte.

Lauren Hutton dagegen spielt mehr als ihren Akzent aus und verlängert in diesen französisch-schweizerischen Film gleichsam ihre Rolle aus Paul Schraders Film American Gigolo. Das Top-Modell blendender Schönheit, deren zarter Silberblick den Zuschauer nur schneller in ihr Rätsel hineinzieht. Zwei Stars in einem Film der gemischten Spielweisen, der interkontinental vereinheitlichten Körpersprache. Auch das ist ein Produkt der Gaumont-Politik, die den Hollywood-film made in Europe anstrebt, der von Norwegen bis Sizilien problemlos amortisierbar ist.

In den filmvereinigten Staaten von Europa wird die Luft für Innovationen dünn. Experimente in ungewohnten Ausdrucksformen sind von der Industrie kaum zugelassen. Ein Film, dessen Rezept auf alten Filmen beruht, hat mehr Chancen als ein Vorgriff auf kommende Formen. Daniel Schmid kennt sich aus in beiden Abteilungen, und was an diesem Film so raffiniert daherkommt, ist sein Experiment in den alten Ausdrucksformen. Hécate ist ein Film, der auf den ersten Blick wie aus alten Filmen massgeschneidert aussieht. Genauer besehen ist er mehr als das Flickwerk einer gängigen Nostalgie, der in den achtziger Jahren nichts Besseres einfällt, als die Geschichten der vierziger Jahre nachzuerzählen.

Der Stoff, den Schmid sich wählte und mit dem Autor Pascal Jardin zum Drehbuch formte, legt dies nahe. Was an seiner Lösung nun besticht, ist die Differenz in der Nähe zu den derzeit herrschenden period pictures & costume pieces. Sein Film beruht auf dem Roman Hécate et ses chiens, den Paul Morand 1954 in Paris veröffentlichte. Bei den üblichen Literaturverfilmungen trifft die Formel «beruht auf» als ein Zustand der Erstarrung zu. Hier hat sich ein Film über seine Vorlage beunruhigt und die suggestive Glätte mit Rissen versehen, die Selbstdistanzierung dem Autor wieder angenähert. Deutlicher gesagt: wo Morand seinen Helden zum Bankangestellten macht, den es in die nordafrikanische Kolonie verschlägt, rücken ihn die Filmautoren wieder an das eigene Vorbild, den Autor und Diplomaten Morand heran.

Der Film beginnt und schliesst mit einer Szene in der französischen Botschaft in Bern 1942. Just der Zeitpunkt, wo Morand dort selber Gesandter seines Landes war, bevor er 1945 wegen offensichtlich zu enger Kollaboration mit dem Vichy-Regime ins Exil ging. Genauer gesagt, er blieb. Der Roman Hécate ist in Vevey geschrieben und, um Authentizität bemüht, als récit klassifiziert. Es ist sein, zähle ich richtig, 44. Buch, bis dato. Reiseberichte, Essays, Kulturgeschichten am laufenden Meter, Aufnahme in die Académie Française. Ein Vielschreiber, ohne Sinn zur Verdichtungsarbeit in seinem Handwerk. Aber gewiss hohe Auflagen. Das war die Karte, die bei Gaumont stach.

Daniel Schmid hat sich, zu seinem Glück, nicht auf die eindimensionale Handlung des Romans eingelassen. Wo diese in die physischen Übungen der «passion amoureuse» verwickelt ist, um ihr auf den Grund zu kommen, stellt der Film die Frage, was jenseits jener Leidenschaft läge. So ist eine metaphysische Dimension eröffnet, die der Film in der Schwebe hält und nie überfrachtet. Andererseits ist bei dieser Art, die Leidenschaft zu sublimieren, auch kein Platz für hässliche Verfärbungen. Von Zigarettenasche, Lippenstift und Eigelb im Bett zeigt der Film nichts.

Aber die historische Zeit, die im Roman ausgespart bleibt, schenkt der Film sich nicht. Der Innenminister lässt in der Provence auf streikende Weinbauern schiessen, in Paris ereignet sich eine Demonstration des Front Populaire—in derlei beiläufigen Dialogwendungen ist sogleich die Zeit evoziert, die ihren sinnlichsten Ausdruck in den Filmen des Jean Renoir jener Epoche fand. Fremdenlegionäre im Dienste Frankreichs foltern aufständische Araber, indem sie die Rebellen bis zu den Schultern eingraben. Ist das «Que viva Mexico» abgesehen? In einem alten Kinostreifen werden Kinder mit Federgurten gefesselt. Nachts, wenn der Muezzin betet, heulen die Hunde. Bloss als weisse Wand für westliche Lüste zeigt Daniel Schmid die Geheimnisse des Orients nie. Immer sorgt ein flackerndes Licht inmitten des Tableaus der Schönheit für Beunruhigung.

Die faszinierenden Panoramen der Landschaft, die mysteriösen Nachtbilder werden von der Kamera nicht als Augenfutter abgegrast. Im Gegenteil, sie werden bewusst kurz geschnitten. Auch ein Teil der erwähnten Strategie, den Zuschauer nicht einer rein schwelgenden Schönheit zu übergeben. Nach und nach ergreifen die Schatten Besitz von den sich noch entziehenden Figuren. Was blendend war an diesem Paar, wird abgedunkelt, gewinnt aber in der Zone des Verbotenen morbide Leuchtkraft.

Die Küsse im Treppenhaus des maurischen Palastes werden zum Schattenspiel. Die Umarmungen, die sich regellos jeden Ort als gelegen suchen, sacken ab in die Horizontale, gleiten allmählich zu Boden in den Schatten der Fenster- und Geländergitter, bis die Schatten den verzweifelt Liebenden, dem sich die rätselhafte Frau entzieht, ganz zudecken. Das Licht ist nicht zärtlich, es spaltet den Raum in Zonen, die noch die heftigste Regung des Verlangens nicht versöhnen kann. Das Licht selber spinnt hier den schleichenden Verdacht.

Ein Schuljunge wird auf offener Strasse misshandelt. Der junge Diplomat, gehetzt auf der Suche nach seiner Entschwundenen, gerät hinzu und zieht den Misshandelten in sein Auto, um ihn zu trösten. Philanthropie, Angst und Neugier zeichnen sein Gesicht. Da kommt eine Karawane mit der europäischen Kolonie des Ortes vorbei. Ein Mann blickt missbilligend ins Auto. Wut und Panik mischen sich nun in den Ausdruck des hilflos Helfenden. Unter dem Blick der Fremden wurde er zum Päderasten gebrandmarkt. Ein Missverständnis, dessen Bedrohlichkeit die Angstlust seines späteren Tuns bestimmen wird.

Ambiguitäten auf der ganzen Linie. Denn was tut die sphinxhaft schöne Frau mit den Araberknaben, wozu der Roman die historischen Metaphern: den Kaiser Tiberius und die Vorlieben des alten Krupp auf Capri bemühen muss? Dem Film nach könnte man die reizend bemühte Lauren Hutton auch für eine Freiwillige im Dienst des Friedenscorps der USA halten, so wenig geht von ihr das Klima sexueller Gewalt, es sei denn: bloss behauptet, aus. Wahnvorstellungen, Vorurteile, Verdammungen als ungelebte Ausschweifung einer Phantasie, die in Nordafrika strandet? Dieser Diplomat muss der Mann von Welt, als der er kraft seines Amtes gilt, erst werden. Insofern ist der Film auch in der Tradition einer Education sentimentale. Allerdings, die Erziehung eines Herzens zur Verrohung.

Hécate ist ein Film eines jungen Mannes über das Buch eines alten Mannes, der sich seiner Jugend erinnert. Diese Erinnerungsarbeit wird der Patina entkleidet ohne Rücksicht auf Verluste. Was im Bericht des Helden Verklärung war, wird zur lakonischen Frage, was besonnter Aphorismus war, der glatte Hohn. Schmid wählt zur Situierung des Geschehens ein voice-over des Helden. Auf den ist aber kein Verlass. Seine Stimme ist eher dazu angetan, uns im Raum zu desorientieren, je tiefer er dem Orient verfällt.

Die erste Szene weitet sich aus zu einer nicht enden wollenden Rückblende. Der Kreis zwar schliesst sich, die Wunde der Erinnerung bleibt aber offen. Wie erinnerlich, ist in dieser Komposition auch Bertoluccis Konformist angelegt, das diesem Film naheliegende Vorbild, den Zwang eines period picture durch den Umriss eines Sozialcharakters zu durchbrechen. Wenn die Liebenden wieder, durch die Zeitläufte getrennt, an der gleichen Tafel beieinandersitzen, haben sie nichts als blasierte Erkenntnis auf den Lippen, maskenhaft gealtert und in Melancholie ermattet. Das klingt denn wie «trop tôt ou trop tard», was die beiden Figuren zu Waffenbrüdern im Geiste des internationalen Snobismus macht. Die Frechheit daran ist, dass J. M. Straub mit dieser Wendung (einer Briefstelle von Friedrich Engels) seinen letzten Film benannte. Der Kameramann von Hécate wird es wissen. Er war auch Straubs Mann.

Natürlich gehe ich hier zu weit. Das ist auch keine Unterstellung, sondern die Beschreibung eines Verdachts, wie dieser Film mit Filmen spielt. Zum elegischen Morgenkuss beschreiben die Liebenden den Tagesanbruch mit der Feststellung: «le jour se lève». Das ist korrekt, aber in einem Gaumontfilm, dem Stoff eines französischen Schriftstellers und dem Werk eines ausgepichten Cineasten ist diese Wendung kein zufälliger Verweis auf den gleichnamigen Film der dreissiger Jahre. Auch eine Elegie der Vergeblichkeit.

Und dann dieser Anschluss der Rückblende an die Eröffnungssequenz! Die Kamera senkt sich in ein Sektglas ab, als wolle sie kosten, bloss um danach in das scheinbar identische Element (Schraubenwasser eines Dampfers, unterwegs nach Marokko) zu überblenden. Solcher Suggestion verfiel man nur in der frühen Tonfilmzeit, Mitte der dreissiger Jahre befreite man sich rasch von derlei Zwangs-Anschlüssen. Schliesslich noch die Wendung, die der Erzähler in seinem Off-Monolog bereithält: die Zeit sei wie in alten Filmen, wo der Wind die Kalenderblätter abreisst. Douglas Sirk hätte es nicht treffender sagen können. Das sind Reverenzen und keine Rezepte. Sehr knappe Verbeugungen vor den kinematographischen Mitteln der Zeit im Film. Gegen Ende von Hécate wird sie mir zu deutlich eingerieben, als eine akzelerierte Montage aus Dokumentarfilmmaterial sich entfärbt und Braunstichigkeit, die Schminke von Filmen auf alt gemacht, auflegt. Schliesslich trägt Lauren Hutton ein Matrosenkostüm zum Strohhut, was sie zur androgynen Schwester Tadzios aus Tod in Venedig macht.

Das sind die Appetithäppchen, die man mitverkraften muss. Ebenso wie der schon langweilige Wahn, eine Geschichte bis zum wahrlich bitteren Ende zu erzählen. Das bedeutet auch das Ende der Ambiguität und den Auftritt einer konventionellen Erzähltechnik, die Zuschauererwartungen am Ende bloss noch mechanisch bedient. Mit anderen Worten: die Begegnung des geläuterten Liebhabers mit dem ehemaligen Mann der Sphinx im fernen Russland hätte Schmid sich sparen können. Dieser Komplex wattiert das Vakuum aus, das die Frage nach moralischer Schuld hinterliess. Ist jetzt alles abgebüsst und die Gerechtigkeit im Lot, weil nun beide Männer als Opfer jener Frau sich entlasten? Besser wäre, es bliebe etwas offen. Wie die Frage nach dem griechischen Mythos der Hekate und ihrer Hunde. Die Antwort ist auch eine Falle.

Hécate. R: Daniel Schmid; B: Pascal Jardin, Daniel Schmid nach dem Roman «Hécate et ses chiens» von Paul Morand; K: Renato Berta; Sch: Nicole Lubtchansky; M: Carlos d’Alessio; P: T & C Film Zürich, Les Productions Audiovisuelles Paris, RTS, TF 1,1982; D: Lauren Hutton, Bernard Giraudeau, Jean Bouisse, Jean-Pierre Kalfon, Juliette Brac, Gérard Desarthe 35 mm, Farbe, 105 Minuten

Karsten Witte
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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