ANDREAS BERGER

EIN FILM, DER DURCH DEN MAGEN GEHT — KLASSENGEFLÜSTER VON NINO JACUSSO UND FRANZ RICKENBACH

CH-FENSTER

Nino Jacusso, geboren in Acquavia Collecroce (Italien), kam als Fünfjähriger mit seinen Eltern in die Schweiz. Bereits in seiner Schulzeit experimentierte er mit Super-8-Filmen, später dann besuchte er für vier Jahre die Hochschule für Film und Fernsehen in München, wo er sich zum Filmemacher ausbilden liess. Bekanntgeworden ist er durch die beiden Dokumentarfilme Emigrazione (1979) und Ritorno a Casa (1980), in denen er sich mit seiner Vergangenheit und seiner Heimat beschäftigt. Klassengeflüster ist sein erster Spielfilm.

Franz Rickenbach, neben Jacusso Ko-Regisseur, arbeitete neben seinem Studium als Kinoschriften- und Plakatmaler, Placeur, Kassier und Programmationsmitarbeiter. Jahrelang war er schliesslich Mitarbeiter bei der Columbus Film AG und später dem Filmkollektiv Zürich. Er hat den Schnitt von Ritorno a Casa gemacht und Christian Schocher beim Schnitt vom Reisenden Krieger) geholfen. Klassengeflüster ist seine erste Arbeit als Regisseur.

Schüler aus Solothurn und Biberist, wo auch Nino Jacusso zur Schule gegangen ist, stehen im Mittelpunkt nicht nur der Handlung des Films; sie haben wohl weitgehend autobiographische Rollen gespielt und haben intensiv mitgeholfen bei der Realisierung des Drehbuchs. Und wenn man Klassengeflüster sieht, dann sieht man: ihren Film. Sie, ihre Gefühle, ihre Umwelt, ihre Mitmenschen (aus ihrer Sicht) sind der Inhalt von Klassengeflüster.

Jacusso und Rickenbach haben gar nicht erst versucht, diesen Inhalt ins starre Konzept einer starken Geschichte zu fassen. Sie gehen von einzelnen, sehr realen Situationen aus. Ansätze zu Handlungen, zu Geschichten ergeben sich dabei von selbst: eine neue Schülerin, Lisa, hat Mühe, von der Klasse aufgenommen zu werden; die Freundschaft zwischen Marion und Isabelle verläuft nicht ohne Streitereien; langweilige Schulstunden sind zu bewältigen; eine Fabrik wird kurz und oberflächlich besichtigt — am Schluss wird Lisa in einer ähnlichen am Fliessband stehen. Kleine Geschichten werden da geschildert, verstreut über den ganzen Film, manchmal nur sekundenlang, die meisten mit einem Ausgang, der alles offenlässt.

Am Schluss erst erzählt der Film dann noch eine abgeschlossene Geschichte. Ein sturer Deutschlehrer vom alten Schlag ist Besitzer eines ebenso berüchtigten wie verhassten Notizbüchleins, das er immer dann zu zücken pflegt, wenn ihm ein Schüler unangenehm auffällt; Fehltritte seiner Schützlinge trägt er dann in einem stets gleich ablaufenden Ritual mit viel Wichtigtuerei ein. Eines Tages verschwindet besagtes schwarzes Büchlein von der Bildfläche; eine Schülerin hat es kurzerhand mitlaufen lassen. In Anbetracht der angedrohten Repressalien des betroffenen Lehrers können sich die Schüler schliesslich zu einer Solidaritätshandlung aufraffen, wobei sie sich erfolgreich zur Wehr setzen können.

Statt Geschichte: der Rhythmus, die Stimmung, in der die Schüler leben. Statt Szenen, die auf Bedeutung, Thesen hin inszeniert sind: Situationen, Momente, Bewegungen, die physisch nachvollziehbar sind. Man hört da weniger, wie es sich heute in der Schule leben lässt, man wird da nicht belehrt, man sieht es, und mehr: man spürt es. Spürt die Bedrohung, Macht und Autorität, die von Lehrer Bodmer («Aha!») ausgehen. Fühlt die Leere, Verzweiflung, aber auch die Hoffnungen an einem späten Samstagabend vor der Disco. Der Blick richtet sich auf Formen: bei Lehrer Bodmer sind die Schulbänke geordnet in Reihen mit regelmässigen Abständen aufgestellt, bei der Französischlehrerin Küng locker im Halbkreis. Und wie die Mädchen und Jungen nachmittags am Ufer der Aare erste Annäherungsversuche starten, wie sie sich dabei leiten lassen von vertrauten, zu Klischees gewordenen Bildern und Sätzen. Ihre Hilflosigkeit, ihre Unsicherheit im Umgang mit ihren Gefühlen in einer abweisenden Erwachsenenwelt, die viel an Formeln, Zahlen, leeren Worten und hohlen Gesten bereithält, aber kaum etwas an Wärme, Geborgenheit und Liebe: Klassengeflüster macht das schmerzlich spürbar. Rette sich wer kann, das Leben: darum geht es nicht nur bei Godard, sondern auch bei den Schülern der (fiktiven) Bezirksschulklasse 2b. Gegen das Leben in erstarrten Formen wenden sich die Schüler wie der Film.

Sinnlos, darüber zu diskutieren, wie ausgewogen und «objektiv» das Bild der Schulwelt, das Klassengeflüster zeichnet, nun wirklich ist. Der Film liefert ein subjektives Bild der Schule; er sieht die Schule so, wie sie sie die Schüler tagtäglich erleben. Die Erwachsenen wirken dabei klischiert, nicht aus boshafter Absicht der Autoren, sondern weil Schüler aus Solothurn und Biberist ihre Lehrer ebenso erleben: als Klischees ihrer selbst.

Der Film verzichtet denn auch darauf, sich gross theoretisch mit dem Schulsystem an und für sich und der Gesellschaft im Allgemeinen zu befassen. Er geht von konkreten Erfahrungen direkt Betroffener aus, modelliert aus dieser Sicht heraus ein Bild der Welt. Er argumentiert nicht mit Fakten und Worten, sondern ist vielmehr ein Film, der durch den Magen geht.

Sein Erzählstil ist sprunghaft, aber nicht hetzend. Szenen werden gemächlich aufgebaut und entwickelt. Hier spricht ein Film eine andere Sprache als Film und Fernsehen dies im Allgemeinen tun, eine einfachere, verständlichere Sprache, eine menschlichere Sprache. Frustration, Aggression, Prüfungsangst, Kommunikationsprobleme: das sind hier keine leeren Worte. Der Film macht fühlbar, was sich hinter solchen Begriffen verbirgt.

So einzelgängerisch wie seine Regisseure ist auch ihr gemeinsamer Film geworden: Klassengeflüster, das Resultat aus einer gewagten Zusammenarbeit zwischen Filmemachern und Schülern, ist zu einem Film geworden, der ohne Äquivalent dasteht in der derzeitigen Filmszene: 90 Minuten sinnliches Erfahrungskino, reich an Beobachtungen, Stimmungen, Details und Atmosphäre.

Klassengeflüster. P: Odyssee Film, 1982. R: Nino Jacusso und Franz Rickenbach; B: Jacusso und Rickenbach in Zusammenarbeit mit Schülern aus dem Kanton Solothurn; K: Pio Corradi; M: Ben Jeger; Sch: Barbara Flückiger; D: Theres Rahn, Susan Ingold, Sabine Spaeti, Brigitta Marti u.a. 35 mm, s/w, 90 Minuten

Andreas Berger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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