CYRIL THURSTON

DER PENDLER (BERNHARD GIGER)

SELECTION CINEMA

Tom, der Protagonist in Gigers Film, ist V-Mann der Polizei in der Drogenszene. Vor einem halben Jahr kam er wegen Drogenhandels in Untersuchungshaft. Um freizukommen, hat sich Tom bereit erklärt, mit der Drogenfahndung zusammenzuarbeiten, ihr Informationen aus dem Milieu zuzuspielen. Seither pendelt Tom zwischen der Szene, der er sich gefühlsmässig und als Konsument nach wie vor verbunden fühlt, und der Polizei hin und her. Letztere hofft, mit ihm den Durchblick im Drogenmilieu zu erlangen und setzt ihn unter Druck. Sein zweigleisiges Leben macht ihm Mühe, denn er kann sich nicht entscheiden, auf welche Seite, die der etablierten Gesellschaft oder die der Drogen-„Unterwelt“, er sich schlagen will. Überall will Tom gut dastehen, möchte ernst genommen werden, sich als zuverlässigen, vertrauensvollen Menschen, auf den man/frau zählen kann, profilieren. Tom gehört zu den Leuten, die sich mit der Gutgläubigkeit anderer Menschen eine Lebensstrategie aufgebaut haben. Um im Leben bestehen zu können, hat er sich von jeglicher menschlicher Konsequenz abgesagt, die moralischen Werte längst beiseite geschoben und verloren. Das Verrückte bei Tom ist, dass er meint, sein Leben im Griff zu haben, immer wieder zu wissen meint, was er eigentlich will. Wenig später schon verwirft er seine Pläne, schmiedet neue, ohne zu merken, dass sein tatsächliches Verhalten dem einer Fahne im Wind gleicht, sein Selbstbetrug für ihn zu einer längst verinnerlichten Ideologie geworden ist. Ein Pendant zu Tom zeichnet Bernhard Giger in dessen Gegenspieler, dem Polizisten Steiner, der sich im Unterschied zu Tom seiner Rolle bewusst ist und weiss, auf welcher Seite er steht. Steiner bleibt der Einzige, der Toms Spiele durchschaut, diese sogar zu seinem Vorteil auszunützen versucht. Auch Steiner hat seine moralischen Werte aufgegeben, hat sie aufs Minimum reduziert — sieht dies als zwangsläufige Folge seines Jobs als Drogenfahnder an. Für Toms Freundin Su sind die moralischen und menschlichen Werte keine leeren inhaltslosen Seifenblasen. Su glaubt noch an das Ehrliche und Gute im Menschen. Sie liebt Tom und vertraut ihm, hält selbst zu Tom, als dieser sie bittet, einen für die Polizei angerissenen Drogendeal zu Ende zu führen. Tom sieht sich von Steiner unter Druck gesetzt. Er will der Polizei endlich die von ihr geforderten Erfolge ihrer Zusammenarbeit erbringen, ihnen einen grossen Fisch ins Netz liefern. Tom strapaziert Sus Vertrauen, nützt es mit seiner unerhörten Bitte gar aus. Er tut dies weniger aus Böswilligkeit, sondern mehr aus Verzweiflung darüber, dass er seiner eigenen schizophrenen Situation völlig ausgeliefert ist.

Der Pendler ist kein Drogenfilm und weit davon entfernt, dieses Milieu schildern zu wollen. In der Figur Toms zeichnet Bernhard Giger einen Mann, der es vielleicht nie geschafft hat, eine eigene Identität zu finden. Tom ist ein Suchender, ein Heimatloser, der in seiner Unentschlossenheit ewig hinter seinem Glück nachrennen wird. Ein trauriges und tristes Bild, das uns Bernhard Giger zeigt: für viele aber ein ihrer Realität nahestehendes Bild. Der Pendler spielt in einer mittelgrossen Schweizer Stadt. Die Stärke des Films liegt nicht zuletzt darin, dass es Bernhard Giger auch in diesem Film gelingt, die Darstellung eines aktuellen Themas in eine für uns Schweizerinnen vertraute Umgebung zu setzen. Toms Geschichte macht betroffen, zeigt aber auch auf, dass es mehr braucht, als im Überfluss vorhandene Schokolade oder mit Goldbarren gefüllte Tresore, um sich mit dieser unserer Heimat identifizieren zu können.

Cyril Thurston
geb. 1957, seit 1982 für die Programmierung des Kinos Xenix in Zürich mitverantwortlich, Mitarbeiter des Filmfestivals Locarno 1987/88, hat verschiedene Kurzfilme realisiert und ist seit 1991 mit einer Senegalesin verheiratet.
(Stand: 2019)
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