CAROLA FISCHER

REISE DER HOFFNUNG (XAVIER KOLLER)

SELECTION CINEMA

Eine Zeitungsmeldung hat im Jahr 1988 die Schweizer Öffentlichkeit kurz aufgeschreckt. Eine Gruppe asylsuchender Türken ist bei ihrem Grenzübertritt auf dem Splügenpass von einem Schneesturm überrascht worden, ein siebenjähriges Kind ist erfroren. Die zur Schlagzeile geronnene menschliche Tragödie wurde von vielen verdrängt, der latente alltägliche Rassismus macht sich weiterhin breit in einer Schweiz, deren Bevölkerung sich durch die fremden Menschen, die in so grosser Zahl hier Aufnahme suchen, zunehmend bedroht fühlt und nicht bereit ist, ihren Wohlstand zu teilen. Mit seinem Film greift Koller ein aktuelles politisches Thema auf (in einer Zeit, da sich das schweizerische Spielfilmschaffen primär mit den privaten Problemen der beziehungsgestörten Individuen beschäftigt, eine verdienstvolle Tatsache) und gibt der Schreckensmeldung ein menschliches Gesicht, einen Hintergrund, eine Geschichte. Das unbekannte Opfer vom Splugenpass trägt jetzt die Züge des kleinen Mehmet Ali. Ein Film gegen das Vergessen und Verdrängen.

Der Ausgangsort der Reise ist die sonnen durchflutete hügelige Landschaft des Südostens der Türkei, wo der Bauer Haydar mit seiner Familie lebt, nicht in bitterer Armut, aber in einfachen Verhältnissen. Eine Ansichtskarte aus der Schweiz, von einem Verwandten geschickt, berichtet von einem Land, wo sich jeder durch schiere Arbeit Reichtümer erwerben kann, von denen man als türkischer Bauer nur träumen kann. Es ist die Hoffnung auf ein besseres Leben, die Haydar nach langem inneren Ringen den Entschluss fassen lässt, seine Tiere und das Land zu verkaufen, seine vier älteren Kinder in der Obhut seiner Eltern zu lassen, und mit seiner Frau Meryem und dem jüngsten Sohn in eine ungewisse Zukunft aufzubrechen.

Von dem Augenblick an, da er den Erlös seines Hab und Guts in Händen hält, wird er zum Spielball in den Händen skrupelloser Geschäftemacher, die sich ihre Dienste, wie das Beschaffen der Passe und die Organisation der Reise in Bussen, Schiffscontainern und LKWs teuer bezahlen lassen. Wenn er endlich in der Schweiz ankommen wird, wird er mit leeren Händen dastehen und in Mailand sogar einen Vertrag unterschrieben haben, in dem er die Hälfte seines Verdienstes an ebenjene professionellen Schlepper abgetreten haben wird, die Haydar unerbittlich in die Katastrophe schicken. Wenn er in dem gelobten Land ankommen wird, wird er einen so hohen Preis gezahlt haben, dass sein Leben daran zerbricht.

Die Unmenschlichkeit einer Gesellschaft, in der Menschen um des Profits willen, das Elend anderer ausnützen, und sogar so weit gehen, sie in den sicheren Tod zu schicken, um weitere Geschäfte nicht zu gefährden, zeigt Koller in einfachen und einprägsamen Bildern, ohne ideologische Schuldzuweisungen. Die Schweiz zeigt ihr kaltes Gesicht in der Korrektheit der Justizbeamten, die einen Vater einsperren, der hilflos eine Nacht in einem fremden Land mit einem ihm unbekannten Klima umhergeirrt ist, sein totes Kind in den Armen, und der nicht nur wegen illegalen Grenzübertritts, sondern auch wegen Verdachts auf „Vernachlässigung der Obhutspflicht“ angeklagt wird. Kollers Film, der im Wettbewerb von Locarno den Bronzenen Leoparden erhielt, ist sicher ein konventionell gestalteter Film, dafür aber emotional bewegendes Kino, das den Zuschauer berührt. Und das ist im derzeitigen Schweizer Film selten genug.

Carola Fischer
geb. 1949, cinephile Germanistin, arbeitet in der Dokumentation „Wort“ des Schweizer Fernsehens DRS.
(Stand: 2019)
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