FRIEDA GRAFE

EINE SCHWEIZER ERFINDUNG — DIE GRANDHOTELS IN DER UNTERHALTUNGSINDUSTRIE

ESSAY

Die Verbindung zwischen diesem Bautypus und der siebenten Kunst ist vielfältig, die Wege wechselseitiger Beziehungen in der Filmgeschichte und in der Realität sind verschlungen. Da muß cs tiefergreifende gemeinsame Wurzeln geben. Was sichtbar ist, der Überbau, die Aufbauten, ist schon Hinweis genug. Das Grandhotel ist ein kinematographischer Topos, vielleicht sogar eine Allegorie vom Kino, zumindest des Kinos einer bestimmten Epoche. Wie Ritz zum Synonym für High dass wurde, verkörpert Fred Astaires tänzerische Eleganz, mit dem Abendanzug als zweiter Haut und dem top hat als Logo, einen Moment lang die ultimative Kinobewegung, die Loslösung vom Boden. Entsprechend der Zwitternatur des Kinos ist seine Beziehung zum Grandhotel physisch und symbolisch mit bautechnischen und ideologischen Dimensionen. Das Grandhotel im Kino ist eine Einrichtung, in der Film- und Sozialgeschichte einander reflektierend erhellen.

Um im weiten Feld der Filmgeschichte den Werken mit Affinität zu dieser speziellen Architektur auf die Spur zu kommen, gibt es keine Methode.

Man kann sich an Familienzugehörigkeiten halten. Zum Beispiel Lubitsch als Leitfigur und als Sammelort die Paramount, bei der Hans Dreyer, ein deutscher, bei der Ufa ausgebildeter Architekt, zwanzig Jahre lang Art Director war. Grandhotels sind das stabilste Element in Lubitschs schlüpfriger Filmdramaturgie, in Monte Carlo, Trouble in Paradise, Desire, wo er Produzent war, Bluebeard’s Eighth Wife, Ninotchka und To Be Or Not to Be. Billy Wilder lernte bei Lubitsch als Drehbuchschreiber. Sein Love in the Afternoon spielt im Pariser Ritz, das Alexandre Trauner in den Studios von Boulogne exakt replizierte; die Lubitsch-Aura des Films wird noch unterstrichen durch Schauspieler wie Gary Cooper und Maurice Chevalier. Für Außenaufnahmen von Some Like It Hot fuhr Wilder zum Hotel del Coronado in der Nähe von San Diego, das als das erste voll elektrifizierte Haus in die Hotelgeschichte eingegangen ist. Avanti! drehte Wilder an der Küste von Amalfi; Jack Lemmon als gestreßter Industrieller aus Baltimore wundert sich über den guten Geschmack seines Vaters, als er des Hotels ansichtig wird, in dem der alte Herr Jahre hindurch eine Ferienliaison mit einer Maniküre aus dem Londoner Savoy unterhielt: „Das ist was anderes als das Hilton.“ Von Billy Wilder führt, via Midnight, dessen Drehbuch er mitverfaßte, der Weg zu Mitchell Leisen, der zwei ausdrückliche Hotelgeschichten filmte, Hands Across the Table und Easy Living, nach einem Drehbuch von Preston Sturges, den Sacha Guitry bewunderte, dessen Theaterfilme wiederum - Quadrille spielt hauptsächlich im Ritz - zusammen mit denen von Lubitsch Modelle waren für Alain Resnais’ Stavisky..., die imaginäre Biographie eines historischen Finanzschwindlers, pendelnd zwischen dem Pariser Claridge und dem Hôtel du Palais in Biarritz.

Im Kino kommerzialisierte sich Kunst. Die Hollywoodindustrie will amüsieren, sie macht ihre Filme, die Wünsche und Träume des Publikums vorwegnehmend, mit der Berechnung, Vergnügen zu bereiten. Darin unterscheidet sie sich nicht wesentlich von den Strategien der Finanzspekulanten im neunzehnten Jahrhundert, der Bénazets zum Beispiel, die in Baden-Baden die Vergnügungssucht der damaligen Leisure dass ausbeuteten. Dort entschied die Badeanstaltenkommission von 1853 bei der Vergabe neuer Bauvorhaben aus kommerziellen Erwägungen gegen „reinen Kunstgeschmack“ und für „Modearchitektur“, da „nicht sowohl die Bildung des Kunstsinnes, als die Befriedigung des Publikums nach seinem Geschmack die Hauptsache sein dürfte“. Als Architekt wurde ein Pariser Bühnenbildner bestellt.

Ungenierte Unterhaltung, geistreich wie das Boulevardtheater, immer das Publikum im Visier, in dieser Mentalität sieht François Truffaut in seinem Vorwort zu Sacha Guitrys Kinoschriften dessen größten Beitrag zum Film. Er zieht zu Felde gegen die Intellektuellen, die die Kunst spalten wollen in Reflexionswerke und Divertissements. Für ihn ist Guitry das Genie, das unterhaltsam nachdenklich macht.

Ginger Rogers in Top Hat - die Szene ist, wie meistens in ihren Filmen, ein fashionables Art-déco-Luxushotel - beißend zu Fred Astaire: „Gewisse Leute tun eben alles für Geld.“ Darauf Astaire: „Dagegen ist nichts zu sagen, wenn es Tausenden und Abertausenden Vergnügen bringt.“ Die Leichtigkeit der beiden ist das Vergnügen an diesen Filmen. Ihr Eskapismus: wenn sie aus prosaischen Bewegungen in Tanzschritte fallen. Je luxuriöser die Hotelräume, um so bewegter die Nummern, oft regelt das Mobiliar die Tanzfiguren. Über Tische und Sessel pirouettierend, die Badezimmerfliesen als Lautverstärker für ihren Steptanz, triumphieren sie über den Alltag. Es ist die schiere Jubilation - die sich dem Zuschauer mitteilt -, im Augenblick zu leben, in Schwerelosigkeit und vom Zeitdruck befreit.

Lubitsch nimmt das dem Grandhotel innewohnende imaginäre Element so ernst, daß es bei ihm zum Emblem der Leichtsinnigkeit des Kinos wird. Haarscharf geht es an den Grenzen des guten Geschmacks entlang. Darin liegt das subtile kritische Moment dieser Filme. Unterhaltung gehört auch für ihn grundlegend zum Kino. Grandhotels in seinen Filmen sind komfortabler, luxuriöser Schauplatz und mehr, sie verkörpern das Unseriöse des Kinos. Genau das ist seine Stärke. Und Leichtsinn noch die beste Waffe im Kampf gegen den Faschismus. In To Be Or Not to Be nimmt er die aufwendigen Hoteldekors seiner Riviera-Filme ganz selbstverständlich für das von den Nazis besetzte Warschau her.

„Ich mußte den Film einige Male sehen, bis ich begriff, daß das Monte Carlo auf der Leinwand diese häßliche Stadt war, ein paar Kilometer östlich von Nizza, die ich so gut kannte, mit einem Casino wie eine mißlungene Zuckerbäckerei. Stroheims Monte Carlo dagegen war faszinierend. Daraus mein Schluß, daß das authentische Monte Carlo das falsche war.“ - Jean Renoir Erich Stroheim, Foolish Wives (1921)

Lubitschs Filme speisen sich aus einem doppelten Erfahrungserbe von [Instabilität. In Deutschland war er während der Weimarer Republik der reinste Vertreter des Inflationskinos, der seine Ausstattungsfilme machen konnte, weil der Mark-Wert sich so schnell bewegte. In Amerika profitierte er von der Depression, die in einem kurzen Moment moralischer Freizügigkeit die sophisticated comedy entstehen ließ.

Bei der Postmoderne heute ist die Verwandtschaft mit, auch die Prägung durch die imitativen Praktiken des Kinos unverkennbar. Berühmte Architekten der Moderne haben selten Grandhotels gebaut. Luxus steht im Widerspruch zum Credo der Funktionalität und zu technischer Rationalität. Nur von Peter Behrens gibt es ein Projekt für ein Palace Hotel in San Remo; und als Mitglied der Filmliga setzte er sich ein für von allen Literatureinflüssen freie Lichtspiele. Frank Lloyd Wright baute ein Großstadt-Grandhotel, das Imperial Hotel in Tokio, das 1967 abgerissen wurde. Auf manchen Fotos sehen Details folkloristisch irden aus wie von Fritz Längs Baumeistern Hunte und Kettelhut für die Nibelungen oder Metropolis. Frank Lloyd Wright nachgebaut, aus einem Hotel in Arizona, sind die Klos in Shining.

Jean-Luc Godard, der 1985 einen Grandhotel-Film drehte, Detective, im realen Dekor des Pariser Terminus Samt-Lazare, schreibt in seiner Filmgeschichte: Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, daß der Film im Gegensatz zu anderen Industrien ein Verlustgeschäft ist, nicht zum Geldmachen, sondern um es auszugeben.

Als Erich von Stroheim 1921 Foolish Wives drehte, für den er das Spielkasino von Monte Carlo mit dem angrenzenden Hotel de Paris detailgenau im Studio nachbaute, und der Film statt einer halben mehr als eine Million Dollar kostete, stach die Publicity die Verschwendungssucht des Regisseurs noch aus, indem sie monatelang am New Yorker Times Square in leuchtender Laufschrift die kletternden Ausgaben veröffentlichte. Wobei sie Stroheims Initiale als Dollarzeichen schrieb.

In den offiziellen Filmgeschichten heißt es an dieser Stelle, daß Stroheims Film der Produktionsfirma Universal ihren Platz als Major Company sicherte - anders ausgedrückt: als Firma, die sich Verluste leisten konnte. Hinter Stroheims Manie, nachzubauen, was es in Wirklichkeit schon gibt, steht nicht die Absicht einer möglichst kompletten Illusion. Das gäbe keinen Sinn. Fünfzehn Jahre später, in Top Hat, geht die Handlung von einem Londoner Luxushotel in die entsprechende Kategorie in Venedig, ein betont synthetisches Venedig, und nicht, weil Hollywood es nicht besser wüßte oder könnte. Kenner der Grandhotel-Geschichte wissen, daß César Ritz, dem seine Historiographen Regisseurqualitäten nachsagen, den Canale Grande in einen Innenhof des Londoner Savoy transponierte, was seinen lllustren Gästen gestattete, ohne Ortswechsel, auf der Stelle zu reisen.

In Stroheims exzessivem Realismus kommt paradoxerweise die ganze Scheinhaftigkeit des Kinos zur Ausstellung. Es sind die Reproduktionstechniken, die die Welt in Bilder verwandelt haben und in natürliche Kulissen. Umgekehrt vollziehen die Studiokonstruktionen, bei denen innen Gebautes vorgibt, außen zu sein, die Aufhebung architektonischer Begrenzungen.

Es geht in diesen Filmen, wie in den Spielergeschichten des neunzehnten Jahrhunderts, nicht um Erwerb und Gewinn - am Spieltisch wurde nichts verdient, nicht Reichtum begründet. Es ist Potlatsch, Überbietung, unproduktive Verausgabung. Der Unterschied liegt nur im Alter des Geldes. So entsteht zum Teil auch die bedrückende Schönheit der detailgenauen Ausstattungsfilme Viscontis: Er setzt Dekor aufs Spiel, der seine eigene Haut ist.

Der französische Architekt Robert Mallet-Stevens hat als einziger seiner Zunft in einer sehr kurzen Zeitspanne, in den zwanziger Jahren, für siebzehn Filme die Bauten entworfen. Im Unterschied zu den deutschen Architekten der Zeit, von denen es heißt, sie hätten einen Moment lang aufs Kino gesetzt, um zumindest im Studio zu probieren, was man sie nicht realisieren ließ, baute Mallet-Stevens eine andere, dem Kino entsprechende Architektur: „Im Kino ist der Schein die goldene Regel. Filmbauten müssen wahr scheinen und nicht real sein.“

Aufwendiger Dekor ist für Alain Resnais ein echtes Kinoelement. Sein Stavisky... war für die Verfechter historischer Genauigkeit und realistischer Wiedergabe ein Ärgernis. Er machte aus dem Betrüger, Juwelendieb und Impresario Stavisky eine reine Kinofigur. Sein Credo, sein Begriff von Kreditwürdigkeit entspricht exakt dem des Publicity Departments der Universal - theoretisch gefaßt kann man diese Überlegungen nachlesen in Adornos Untersuchung von Veblens „Theory of the Leisure Class“.

Um mehr Geld anzuziehen, muß man, was man nicht hat, mit vollen Händen ausgeben. Geld nicht zum Bezahlen, sondern zum Genießen darf gar nicht ehrlich erworben sein. Stavisky bei Resnais verkörpert die dreißiger Jahre, eine „Gesellschaft, die über ihre Verhältnisse lebte“. Theaterhaft, übertrieben, eklektisch. Grandhotel-Architektur ist für diesen Zeitgeist die ideale Herberge. Stavisky lebt in Grandhotels und erledigt da auch seine diversen Geschäfte. Als Stavisky... herauskam, sah man ihn, modisch, als einen in einer Reihe von Filmen, mit denen man in den Siebzigern die Dreißiger wiederentdeckte. Aber der spezielle Bezug dieses Modischen zum Kino entging der Aufmerksamkeit. Die Scheinhaftigkeit der Zeit, ihre schwindelerregende Unsicherheit, die Unstabilität von nicht ererbtem Reichtum hat ihren adäquaten Ort im Kino. Im Kino lebt man auf Kredit. Das Medium, dem das Festhalten der sichtbaren Realität kein Problem macht, hat als sublimste Aufgabe, dem Imaginären seinen realen Status zu verleihen und so die offizielle Realität zu problematisieren.

Als Modell für seinen Stavisky stellte Resnais sich Sacha Guitry vor, „wie Sacha Guitry Ludwig XVI. oder Ludwig XIV. spielte, der den Zuschauer nicht einen Moment darüber im Unklaren ließ, daß er, Sacha Guitry, den König spielte“. Stavisky... sollte zunächst Biarritz-Bonheur heißen, dann Alexanders Imperium — Imperium war der Name von Staviskys Theater. Ob politische, ob pekuniäre Spekulationen oder Showbusiness, alles handhabt er nach demselben Prinzip. Nicht, weil er im Herzen ein Faschist war - er hat auch mit der spanischen Rechten komplottiert -, nahm er die Ästhetisierung der Politik vorweg, die die Nazis dann auf weniger elegante Weise betrieben, sondern weil er alle Unternehmen nur medial anfaßte. Er agierte als Lebemann, hedonistisch und megaloman, und setzte selten den Fuß auf den Boden, der bis heute, wider technologisches Wissen, als die Realität bezeichnet wird.

In Amerika kam 1934 gegen die Verlotterung der Sitten durchs Kino der Hays- Code zur Anwendung. Von einem gegen Lubitschs Filme ermittelnden Beamten dieser Institution ist die Bemerkung überliefert, man sehe genau, was er meine, nur beweisen könne man es ihm leider nicht. Lubitsch bedient sich des Kinos, um sinnliches Scheinen, eine Kategorie der klassischen Ästhetik, zu materialisieren.

Die Promiskuität in seinen Filmen ist unterbaut mit der Auflösung der alten Klassenstrukturen, in operettenhafter Übertreibung, damit sie für Amerikaner noch bis in den mittleren Westen verständlich wird. Auf die Zusammenhänge wird optisch angespielt, ohne daß sie direkt abgebildet wären. Eine bestimmte Architektur bekommt, neben ihrem dramaturgischen, einen neuen Symbolwert. Seit der Renaissance waren die Bilder über die Perspektive der Architektur verbunden und oft durch sie fundiert. In dieser Art von Kino dient Architektur der Destabilisierung.

Die Filme fordern nicht zur Identifikation auf, noch weckt ihr ostentativer Luxus Neidgefühle. Das wird alles durch die elliptische Struktur verhindert, die dauernd zu bedenken gibt, was nicht im Bild ist, nicht nur das Umfeld, sondern die Kehrseite. Die vermeintlich im Namen von Realismus an ihnen geübte Kritik beweist nur, wie das Reklamedenken die kapitalistische Ästhetik unterschwellig bearbeitet.

Alles ist um eine Spur zu überdreht, zu weit, zu weiß, eben paramount. Die leicht verblödeten feinen Leute repräsentieren nicht eine Klasse, sondern sind ästhetische Produkte. Sie können mühelos auch Frisöre sein (Monte Carlo), drücken sich ineffektiv auf Bankposten herum (Bluebeard’s) oder erschnorren als Gigolos das tägliche Brot (Ninotchka), sie sind komische bis traurige Figuren. Die Hochstapler dagegen, die Fassadenkletterer und gold digger wollen den Mehrwert, sie arbeiten hart und leben gefährlich. Claudette Colbert hat in den dreißiger Jahren am häufigsten solche Rollen gespielt, mal die absteigende Adlige, mal aufsteigendes chorus girl, immer hinterm Geld her. In Midnight wohnt sie als falsche Baroness Cerny selbstverständlich im Ritz an der Place Vendôme und Weekends auf einem Schloß, dessen bürgerlicher Besitzer ihr erklärt, es einem Adligen für ein Butterbrot abgekauft zu haben: „Der Kommerz hat über die Tradition gesiegt.“ Der Regisseur Leisen über seinen Film: Die Sets waren riesig, wir haben Geld rausgeschmissen wie betrunkene Matrosen.

Von seriöser Architektur unterscheidet sich die filmische dadurch, daß sie das Katasteramt nicht mehr braucht. Es ist eine Architektur ohne Grund und Boden. Deren Räume, wie jeder Kinobesucher weiß, aber willig vergißt, nicht einmal Decken hat - zur Bewegungsfreiheit für Kamera, Kräne, Mikrophone. Die neuen Räume, ohne Grundriß, setzen sich in Einstellungen zusammen und definieren sich über Zeit.

Zwischen Palästen, Hotels und dem Kino hat ein verwirrendes Verbundsystem sich installiert, noch kompliziert dadurch, daß eine Zeitlang, vor allem in Amerika, die Aufführungsorte der Filme und die Orte von Highlife in den Filmen architektonisch verwandt waren.

Als Friedrich Wilhelm Murnau 1923 für seine Finanzen des Großherzogs auf Motiv- und Palastsuche ging, fand er in Dalmatien, auf der Insel Rab, ein Grandhotel, das ihm für die Außenaufnahmen diente und das er später als den Sitz des vom Bankrott bedrohten Zwergstaaten-Herrschers im Berliner Studio in Teilen rekonstruieren ließ. Alain Resnais dagegen, als er für L’année dernière à Marienbad das Ideal eines Grandhotels brauchte, montierte es aus mehreren realen bayerischen Schlössern, aus Nymphenburg, Schleißheim und Amalienburg.

In den Großstädten sind die Grandhotels die neuen Monumente, als solche sind sie der Ausdruck des Wesens einer Gesellschaft. Die Skyline von New York, vom Central Park aus gesehen, gebildet vom Ritz Tower, dem Sherry-Netherland, dem Savoy Plaza und dem Plaza, ist, in vielen Filmen kurz als Establishing shot zitiert, ein Wahrzeichen der neuen Welt. Das Grandhotel als Melting pot und Meeting point wird zum Inbegriff der beweglichen amerikanischen Gesellschaft, in der Klassenbarrieren dynamisch mit Aufzügen, die bei Disney „people movers“ heißen, bewältigt werden.

Ein Film von Mitchell Leisen, Hands Across the Table, hält sich für den Bau seiner Geschichte an eine original amerikanische Variante der Grande Hotellerie, das Residential Hotel, wo in den oberen Stockwerken großer Hotels, in deren Suiten, Dauergäste wohnen. So kommt im Film ein junger, an den Rollstuhl gefesselter Millionär, der ganz oben wohnt, mit der Hotelmaniküre von ganz unten in Kontakt.

Das Progressivste an kombinierter Grandhotel/Kino-Erfindung passiert in The International House, mit W. C. Fields von 1933. Da es um allerneuste Bilder geht - und um solche von Marihuana inspirierte -, sind auch die Perspektiven ungewöhnlich, und die Kamera ist außergewöhnlich mobil. Fields landet, aus Amerika kommend, auf dem Dach eines Grandhotels in China, in dem ein Kongreß abgehalten wird, auf dem die Erfindung eines chinesischen Wissenschaftlers zur Diskussion steht. Sie heißt Radioscope und ist, was wir heute als Fernsehen kennen. Die Flugzeugstartbahn ist gleichzeitig der Set für eine riesige Busby-Berkeley-inspirierte Musicalnummer, mit Mädchen, die in Zellophan und andere durchsichtige Stoffe verpackt sind. Fields trennt sich den ganzen Film hindurch nicht von seinem Zylinder und belfert angesichts total verhedderter Telefonschnüre etwas von typisch chinesischem Nudelsumpf.

In Europa verdrängten Grandhotels buchstäblich Paläste. In Paris nisteten sich das Ritz und das Crillon, unter Beibehaltung der Fassaden, in alten Adelssitzen ein. Das Adlon in Berlin setzte sich mit der Protektion von Kaiser Wilhelm II. an die Stelle des von Schinkel umgebauten Palais Redern.

Die hemmungslose Imaginationsvielfalt und theatralische Imitationslust, die bei dieser Art Bauten sich austobte, wurde nur noch überboten in den Kinopalästen, die in den Zwanzigern und Dreißigern entstanden. Im Centfox in Atlanta, Georgia, gibt es wie im Adlon orientalische, ägyptische, maurische Räume, während das Paramount in Oakland reines Art déco ist, was bedeutet, daß die exotischen Einflüsse schon integriert sind. In ihm ahnt man den Effekt, den die schwarzweißen Sets von Cedric Gibbons, Van Nest Polglase, Cameron Menzies gemacht hätten, wäre damals schon auf Farbmaterial gedreht worden. Die Architektur - der Bau von Timothy Pflueger wurde mitten in der Depression begonnen, und die Paramount war Pleite, als er fertig war - ist aufgelöst in Bewegung, die durch das Zusammenspiel von Licht und Farbe entsteht.

Häufiger als auf andere Architekturen greift das Kino auf das Grandhotel zurück. Es wird zur Chiffre für den gesellschaftlichen Wandel in der Beziehung von Kunst und Publikum. Amerikas wachsende Rolle im Verhältnis zu Europa spielt zudem immer mit hinein. Das Pariser Ritz, egal ob bei Lubitsch, Mamou- lian, Leisen, Wilder oder den Franzosen, bei Sacha Guitry oder Jacques Becker, ist der Ort, an dem Amerikaner und Europa Zusammentreffen.

Für die zusammengewürfelte, kosmopolitische Pseudogesellschaft, zu deren Bezeichnung der amerikanische Kunsthistoriker Bernard Berenson den Begriff Ritzonia erfand, waren die Grandhotels Orte der Selbstdarstellung das Publikum, statt auf Kunst zu schauen, die andere machen, ist selbst im Bild. Kunst, in der bürgerlichen Gesellschaft, wurde Darstellung der eigenen Welt, Repräsentation. So beschreibt Henry James in seinem Roman Lady Barberina die Befindlichkeit einer englischen Adligen, die in New York lebt: „...diese bildlichen Effekte, die, wie sie undeutlich spürte, Leuten eigneten, die zu Klassen gehörten, deren Geschäft die Ausdruckskünste waren. Lady Barberina hatte sich selbstverständlich nie damit beschäftigt, aber sie wußte, daß ihre eigene Klasse ihre Aufgabe darin sah, nicht auszudrücken, sondern zu genießen, nicht darzustellen, sondern dargestellt zu werden.“

Die ostentative Anhäufung adliger Lebensformen an Orten bürgerlichen Reichtums ist nicht deren Feier, sondern augenfälliger Verbrauch. Gesellschaftliche Lebensregeln werden zu Rollen und Theater.

Das ist die Stelle, an der ein gewisses Kino einsteigt. Lubitschs Filme profitieren vom Glanz einer ehemals tonangebenden Klasse nicht, um ihn einem unschuldig bewundernden Publikum darzubieten. In ihnen bricht er das Bild des Kinos - so wie einem in jedem Oberkellner ein Herr im profanierten Abendanzug entgegentritt. Seine reichen Nichtstuer verkörpern, hinterhältig, Zuschauer, das letzte Publikum, das in der Unterhaltungsliteratur ein so entscheidender Faktor wurde. In seiner alten Form, als versammelte Gesellschaft, haben die Medien in der Konsumkultur es zum Verschwinden gebracht. Die Kinos gehen ein, weil es das Publikum in Person nicht mehr gibt. Die unglaubliche Vermehrung von Festivals allenthalben und ihr Erfolg zeugen vom Wunsch, als Publikum im Kino in Erscheinung zu treten.

Die Grandhotels wurden von Orten bürgerlichen Unternehmungsgeistes zu Symbolen bürgerlichen Prestiges. Die dort zur Schau gestellten feinen Lebensformen waren wie Requisiten, die geschätzten adligen Besucher die billigste Publicity. Wie exklusiv diese Gesellschaft war, läßt sich daran ablesen, daß vor dem ersten Weltkrieg ein Monokel tragender Maître d’hôtel im Pariser Ritz darüber befand, wer dazugehörte.

In amerikanischen Filmen gibt es - bis heute, bis in Kubricks The Shining - die Standardrolle des Butlers mit englischem Akzent, mit besseren Manieren als sein Herr, der besser darüber Bescheid weiß, was dieser bei welchen Anlässen zu tragen hat. Bei Lubitsch sind die Bediensteten, die selbstvergessen die Regeln einer anderen Klasse zelebrieren, die wahren Snobs. In Vicky Baums Roman Menschen im Hotel, aus dem in Hollywood der Greta-Garbo-Film Grand Hotel wurde, dienen die Formen in umgekehrter Funktion. Die deklassierten Adligen eignen sich, ihrer vollendeten Manieren wegen, besonders als Angestellte im Grandhotel. Der Juwelendieb, im Roman und im Film, ist ebenfalls ein Adliger, der im Schutz seines Namens seine Beutezüge vornehmen kann.

In diesen zu Palästen verkleideten Herbergen steckt infolge ihres usurpierten Gehabes von Anfang an der Wurm des Unauthentischen und damit eine Kinoverwandtschaft. In Fritz Längs frühen Krimis, in Kämpfende Herzen, in Spione, steigen der angesehene Börsenmakler, der nebenbei Falschgeld- und Juwelenschieber ist, aber auch der Meisterdedektiv zum Wechseln ihrer Masken in Luxushotels ab.

Zum Grandhotel gehören, wie die kribbelnde Unsicherheit über die Identität der Gäste, die Einsteiger, die Fassadenkletterer. Die oberflächlichste Erklärung für die Neigung des Kinos zu diesen sportlichen Gaunern ist die realistische, daß versammelter Reichtum eben Diebe anlockt. Allein, das Kaliber der Regisseure, die sie zu Hauptfiguren machen, ermuntert zur Vermutung, daß über diese Figuren etwas von der neuen Raumerfahrung durch die Kinobilder sich vermitteln läßt. Gleich in den frühen Tagen des Kinos ging es damit los. Die erste Episode von Feuillades berühmtem Serial Fantômas heißt Le Vol du Royal-Palace-Hôtel. Fantômas ist ein Verwandlungskünstler in vielfältigen Masken, und er bedient sich des Hotelaufzugs, um seinen Coup abzuwickeln. Zuletzt erscheint er dem ermittelnden Kommissar im Geist, im Traum als Lebemann in Abendmantel, weißem Seidenschal und Zylinderhut.

Die Gentleman-Einbrecher bei Lubitsch, bei Hitchcock, bei Wilder - da liegt der Fall besonders, denn Audrey Hepburn versteckt sich draußen an der Fassade des Ritz - werden angezogen von der Flächigkeit der Kinobilder. Die Fassadenkletterei, zusammen mit den Vertikalbewegungen der Aufzüge, richtet den Blick auf ihre Zweidimensionalität, auf die neuen Dimensionen und Räume des Kinos.

Man macht sich von Grandhotels ein falsches Bild, wenn man mit ihnen geschlossene Gesellschaft assoziiert. Sie sind im Gegenteil Orte der Durchlässigkeit und Vermischung; Luxus, Juwelen, Geld im Überfluß sind fadenscheinige Symbole, Objektivierung frei zirkulierender Sexualität. Bei Vicky Baum heißt es: Die Sittlichkeitsbegriffe im Grandhotel waren dehnbar. Bei Henry James: Die Strenge, mit der jeder Anschein von beabsichtigten oder erhofften Abenteuern niedergehalten wird, ist nicht die am wenigsten bemerkenswerte Note in der ganzen ungeheuren Promiskuität. In Robert Siodmaks Verfilmung von Dostojewskis Spieler, Eternal Sinner, von 1949, hat man den Eindruck, der Film gestatte Freiheiten, die einem deutschen Badeort des neunzehnten Jahrhunderts nicht anstünden. Aber ein Zeitungsbericht von 1846 über „Das Modebad des 19. Jahrhunderts“ beschwört es: „...das gemischte Wesen, aus welchem unsere heutige Gesellschaft besteht, die neben aristokratischen Ansprüchen die demokratischen Elemente umschließt, neben exklusivem Wesen das freieste Sichgehenlassen...“ Der brave Journalist ist eindeutig schockiert, daß Müßiggang die Sitten aufweicht, historisch und klassenunspezifisch.

Lotte Eisner kritisiert in ihrer Dämonischen Leinwand Lubitschs Oberflächlichkeit als Vaudeville-Mentalität, die Filme mit der Tragweite von Murnaus Letztem Mann unmöglich mache. Murnau findet Lubitsch zu sehr der Bühne verhaftet. Nach seiner Auffassung ist nur das Medium, nicht aber sein Publikum der Erforschung wert. Lustvolle Verführung ist für ihn kein Sujet, so wenig wie für Lubitsch das Kammerspiel mit einem Stuhl und einem Tisch vor einer kahlen Wand der ideale Film sein könnte. Das Publikum ist bei Lubitsch, bei Hitchcock, bei Truffaut ein wesentlicher Teil der kinematographischen Institution. Der Gast ist König - und auch Opfer.

Eine bautechnische Gegebenheit des Grandhotels hat sich die Filmdramaturgie besonders bereitwillig einverleibt. Die Drehtür, bei Chaplin, ist ein Gag-Generator, der zeigt, wie Filmkomik, das Kino als Bewegungsmedium und moderne Architektur einander zuarbeiten. In The Cure, 1917, taucht sie zum ersten Mal auf, Charlie ist Krankenwärter in einem Kurhotel. Ganz spät, in A King in New York, gibt es sie noch einmal. Der Film entstand in englischen Studios, spielt aber hauptsächlich in einem New Yorker Ritz. Chaplin, der selbst als aus Amerika verbannter King of Comedy in Lausanne im Beau Rivage wohnte, einem von Exilmonarchen bevorzugten Grandhotel, spielt einen aus einem östlichen Land vertriebenen Monarchen, der im Ritz lebt und zum Lebensunterhalt sein Königtum in der Werbung vermarktet.

Die längste Tanznummer der Filmgeschichte, im Rogers/Astaire-Musical The Gay Divorcee, hat als szenischen Hintergrund mehrere wirbelnde Drehtüren. Über eine Viertelstunde dauert „Dancing the Continental“. Auch hier vertauschen, wie in einem Rebus, Innen und Außen ihre Funktionen, was entscheidend zur genaueren Wahrnehmung der getanzten, der bewegten Linien beiträgt. Das Paar tanzt federleicht und schattenhaft, der Raum ist riesig. Dennoch bleibt durch Schwarzweiß-Effekte und Vervielfältigungen die tänzerische Präzision von Rogers und Astaire gezeichnet vom Mechanismus des reproduktiven Mediums.

So wie der Adel sich gemein gemacht hat, als er, statt in privaten Palais unter sich zu verkehren, die öffentlichen zu frequentieren begann, sind die Grandhotels durchs Kino zum Phänomen von Massenhaftigkeit geworden. In The Gay Divorcee ist es allem durch die Anwesenheit eines riesigen corps de hallet ein überlaufener Ort. Die Funktion der Monumente in früheren Architekturen bestand darin, schreibt Georges Bataille, den Massen Eindruck zu machen und ihnen so staunendes Schweigen zu gebieten. Die neuen, im Kino, sind Orte der Unterhaltung und stellen sublimiert die Massenhaftigkeit aus. In Henry James’ Beschreibung des alten Waldorf Astoria denkt man als Europäer eher an Piazzas, an all die Plätze zum Ausruhen und Verweilen, die es in den New Yorker Straßen nicht mehr gibt.

Ihre Größe verlangt perfekte Organisation, die zum Militärischen tendiert. Jerry Lewis machte in Bellboy den Pagendrill zur Quelle von Gags und surreale Überfüllung des Solls zur einzigen Möglichkeit, sich als Individuum den Ansprüchen der Massenhaftigkeit zu entziehen. Aber Hedda Adlon berichtet stolz, daß Kaiser Wilhelm in den angetretenen Pagen seine Pappenheimer wiedererkannte, ganz wie Lorenz Adlon es geplant hatte.

Kunstgeschichtler haben die sich wandelnde Darstellung von Architektur in der Malerei als Symptom gesellschaftlicher Veränderung registriert. Die Grandhotels der großen Städte, die von Geschäftsleuten zu Konferenzorten gemacht wurden - die Diplomaten, die im Sacher in Wien Politik machten, so sieht man es im gleichnamigen Film von Erich Engel, benutzten dafür Separees -, leiteten die Vermassung der Luxusinstitutionen ein, sie profanierten sie durch Arbeit und Profitgerangel. Der Name „Palast Hotel“ wird in Thieles Mädchen Rosemarie mehrmals eingeblendet nur für die Zuschauer, die sowieso wissen, daß der Frankfurter Hof gemeint ist. Die Asbestmatten-Kartellbrüder des Films sind grundsätzlich auch nicht vulgärer als Wallace Beery, der schwitzende sächsische Textilfabrikant im alten Grand Hotel. Nur das Kino und die Grande Hôtellerie haben seitdem viel von ihrem Glanz eingebüßt.

Mit dem zweiten Weltkrieg sind aller Luxus und alle Eleganz verschwunden. Aber auch noch bei Thiele gibt es den in allen Hotelfilmen obligaten Kamerablick, die Vertikalität und das Fehlen von Tiefe betonend, an der von Fensterfolgen gleichgemachten Fassade hinauf. Dem folgt der Blick mit der Bewegung nach unten - dem Geld folgend, das Gerd Fröbe der Prostituierten in den Hof wirft. Der Begriff von Sexualität, den der Drehbuchautor sich und dem Publikum macht, entspricht dem nackt gewordenen Grandhotel. Sie ist nur noch der Lohn der Arbeit. Die Nitribitt wie der Baron von Gaigern im Grand Hotel bezahlen mit dem Leben.

Wenn mit filmspezifischen Sujets das Medium reflektiert wird in Filmen von Regisseuren, die ihre erste Aufgabe nicht darin sehen, mit Geschichten das Publikum zu unterhalten, erscheinen auch die Grandhotels in einem konzeptuelleren Licht. Sie sind das Gerüst der Filme. Über den modischen Rahmen für die Reichen und Berühmten hinaus strukturieren sie ihren Aufbau.

Murnau, nicht nur im Letzten Mann, auch in Tartüff und in Sunrise, verschränkt explizit zwei Raumvorstellungen, zwei Raumsprachen. Sie werden durchsichtig überdeterminiert. Der Kameraraum durchsetzt den Architekturraum - was eine Veränderung der Architektursymbolik bedeutet, wie sie seit der Renaissance in der Malerei vorherrschte. Der dynamische Kinoraum ist nicht grundrißabhängig, sondern Projektion. Bei Murnau entspricht oft ein gebauter Raum einer Einstellung. Im Letzten Mann kombiniert er zwei in ihrer Geschwindigkeit nicht synchrone Transportmittel - den sich senkenden Aufzug für die Körper, die Kamera für die flinkeren Augen - in eine Bewegung, die aus dem „Riesenkasten“ hinausführt. Das Grandhotel als internationales Superhaus repräsentiert dabei altes Erzählen und die Funktion der Architektur. Als Vorstellung, die die feudalen Paläste sich zum Vorbild nahm, ist es ein Anachronismus im Zeitalter großstädtischer Beweglichkeit, seine Architektur definitiv eine Fixierung - wie die des alten Portiers auf seine Uniform. Hier kündigt sich das Ende des Festgebauten und Bodenständigen an und die flüchtige Ästhetik der elektronischen Bilder, die Paul Virilio untersucht und beschrieben hat.

Was als bürgerlicher Unternehmergeist - ohne den utopischen Horizont der Moderne - mit der zitier- und imitationsfreudigen Grandhotel-Architektur begann und sich im unterhaltungssüchtigen Filmbau fortsetzte, ist in der populistischen Ästhetik der Postmoderne voll zum Zug gekommen. Die ist mehr Kino als das Kino heute selbst.

Man hat S. M. Eisenstein, als er in Hollywood nach Möglichkeiten zur Realisierung für sein Glashaus-Projekt suchte, die Verfilmung von Vicky Baums Grandhotel-Roman angeboten. Glasarchitektur in Fortsetzung seiner Montagetheorien und damit verbunden kinematographische Stereoskopie beschäftigte ihn seit seinem Berlin-Besuch 1926 im Hotel Hessler. In Amerika fand seine Idee neue Nahrung, als er auf Frank Lloyd Wrights Entwürfe für einen Glasturm stieß. Mit der melodramatischen Gleichzeitigkeit der verschiedensten Schicksale und deren zufälliger Verbindung wie in Vicky Baums Roman hatte er nichts im Sinn. Er wollte zeigen, wie Wahrnehmungsgewohnheiten unzeitgemäß von älteren Raumvorstellungen geprägt sind. Ihn interessierten Simultandarstellungen und die Vervielfältigung der Blickpunkte. Doch Hollywood wußte mit Sujets ohne Story nichts anzufangen.

In Jerry Lewis’ Bellboy, mehr als dreißig Jahre später, führt unter hektischem Gelächter ein total verrückter Paramount-Producer den Film ein: „Keine Story, kein Plot, bloß komische Sequenzen.“ Wenn der Bau eines Films nicht mehr nur parasitär von Geschichten abhängt, handelt die Architektur.

In der Rezeption von Marienbad hat über das Interesse an der Darstellung der Erinnerungsarbeit der Platz, die fiktive Grandhotel-Architektur zu wenig Beachtung auf sich gezogen. Dabei betonte Resnais ausdrücklich, er denke, wenn er filme, mehr als an die Geschichte an die Struktur. Er attackiert mit der aus einer Vielzahl von Gesichts- und Standpunkten zusammengesetzten Gestalt des Films die eine zentrale Perspektive. Auch ist der Zuschauer ohne festen Stand, seitdem der Held dem Mittelpunkt der Geschichte entrückt ist. Außen und Innen sind keine grundsätzlichen Kategorien des zweidimensionalen Kinoraums, denn er wird nicht begrenzt von Mauern und von Wänden, Letztes Jahr in Marienbad ist eine Filmskulptur, ein kompaktes Objekt, sagt Resnais, mit Mitteln, die aus den figurativen Künsten abgeleitet sind. Das Grandhotel ist unauthentisch, die versammelte Gesellschaft geisterhaft, von vorgestern, der französische Garten eine durch Baumaßnahmen verfälschte Natur. Alles zusammen macht ein Bild von Repräsentation. Die montierten Bilder zerstören nicht eine real existierende Einheit, sondern ein vereinheitlichendes Konzept, das durchweg die Wahrnehmung bestimmte.

Wie ein roter Faden zieht sich durch alle Grandhotel-Fiktionen die Anspielung, mehr oder weniger deutlich, auf den von Dädalus erbauten Palast, das Gefängnis für den Minotaurus.

Eine geniale Erfindung bei Jerry Lewis, die sich demonstrativ mit der Reorganisation eines Freiraums verbindet, ist der Bellboy, der mit übermenschlicher Geschwindigkeit - wozu gibt es im Kino Ellipsen - und den fahrigen Bewegungen eines Insekts den riesigen leeren Festsaal des Fontainebleau in Florida mit Stühlen für eine Kinovorführung möbliert.

Borges glaubte vor Citizen Kane von Orson Welles, den Grund für den besonderen Schrecken von Kinolabyrinthen in deren leerem Zentrum erkannt zu haben. Wahrscheinlich ist viel furchterregender, daß die starren Labyrinthe durch das Kino sich bewegen. Die Leinwandbilder, Ausschnitte, vom Cash nur provisorisch begrenzt, sind zentrifugal.

Weshalb manche Regisseure, wenn sie in ihren Filmen Bilder unterbringen, die ihre Arbeit reflektieren, natürlichen Labyrinthen in Form von Spinnennetzen den Vorzug geben. Die machen einen Effekt von disziplinierter Konstruktion, aber die innere Notwendigkeit ist eher willkürlich und um so überzeugender, je berechnender sie auf die Vergnügungssucht des Zuschauers schaut.

Frieda Grafe
geb. 1934, ist Filmkritikerin in München (Filmkritik, Die Zeit, Süddeutsche Zeitung). Ihre Arbeiten liegen in zwei Anthologien vor: Im Off (1974) und Beschriebener Film (1985).
(Stand: 2019)
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