THOMAS TODE

IM TIMETUNNEL VON CHRIS MARKER — LEVEL FIVE (F 1997)

ESSAY

Ich holte Atem, biß die Zähne zusammen, faßte den Vorwärtshebel mit beiden Händen und ging mit einem dumpfen Schlag los. Das Labo­ratorium wurde neblig und dunkel. [...] Ein wirbelndes Murmeln füllte mir die Ohren, und eine seltsam dumpfe Verwirrung senkte sich auf meinen Geist.

– H.G. Welles: Die Zeitmaschine (1895)

Reise ins Innere der Vergangenheit

Auf eine Umfrage der russischen Zeitschrift Kinowedtscheskije sapiski über die Zukunft des Films antwortete der notorische Avantgardist Chris Marker lako­nisch: »Nein, der Film wird kein zweites Jahrhundert haben. Das ist alles, Sie können das so schreiben.«1 Ein Jahrhundert, von dem man gesagt hat, daß es »im Zeichen des Films« stehe, geht zu Ende, während Marker gleichzeitig seinen vielleicht letzten Film Level Five und seine erste Arbeit auf CD-ROM Immemory vorlegt. Zur Stellung dieses Films in seinem Werk hatte er erklärt: »Level Five wird die in Sans soleil skizzierte Problematik Dokumentar/Fik­tion, Krieg/Japan, Bio/Techno weiter ausbauen und zu einem krönenden Ab­schluß führen – und vielleicht völlig mißlingen. Insofern aber, als man mir die Ehre erweist, sich für meinen Werdegang zu interessieren, kann man ihn als seinen Endpunkt betrachten (keine Lust mehr auf Filme, danach arbeite ich nur noch mit dem Computer).«2

Auf den ersten Blick ist es ein Film »über« Okinawa, jene kleine japanische Insel, die kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs von den Amerikanern unter schweren Verlusten und Massenselbstmorden auch der Zivilbevölkerung er­obert wurde. Doch mehr noch ist Level Five ein Film über die Erinnerung »an« Okinawa, über das Verdrängen einer Tragödie, mit der sich Japan schwertut und die der Westen völlig ignoriert: ein Essay über die Präsenz des Vergangenen im Gegenwärtigen, über den Umgang mit Zeit. In Sans soleil (F 1982) identifi­zierte sich Marker mit einem Zeitreisenden aus der Zukunft, der »die Fähigkeit verloren hat zu vergessen« und der sich »zunächst aus Wißbegierde, dann aus Mitleid« der Vergangenheit zuwendet. Es ist der Blick dieses Zeitreisenden, der nun in Level Five auf der leidvollen Historie von Okinawa ruht, der Blick eines militanten Humanisten, eines Heimgesuchten, der mit tiefer Melancholie sich immer wieder dem Horror zuwenden muß, den dieses Jahrhundert hervor­gchracht hat.

Der Film gleicht einer jener schlichten buddhistischen Gesten des Gebets: Er ist selber ein Medium der Erinnerung, mit dessen Hilfe Marker die im Film­gewerbe seltene Tradition der »Kommemoration«, des individuellen Eingeden­kens, pflegt. Gleich zu Beginn gesteht der Kosmopolit Marker: »Ich war so sehr Japaner geworden, daß ich an der kollektiven Amnesie teilhatte, als hätte die­ser Krieg niemals stattgefunden.« Amnesie, der zeitweilige Verlust des Erinnerungsvermögens, ist ein »Trick« des Geistes, um gesund zu bleiben: Man vergißt etwas, das zu schrecklich wäre, um damit fertig zu werden. »Gooood morning, Tokyooo«, schallt es den Tokiotern jeden Morgen aus dem Radio entgegen, im Stil der US-Armeesender, und in den Straßen wirbt ein Plakat unter dem Slogan »Sonderlieferung« mit einem amerikanischen Pin-up-Girl, das eine Bombe in der Hand trägt. Die heutigen Japaner verdrängen den Krieg und seine Opfer. »Ich habe den Eindruck, daß sie begraben wollen, was im Zweiten Weltkrieg passiert ist. Viele Japaner scheuen eine Konfrontation mit diesem Problem«, klagt Markers eloquenter Gesprächspartner Kenji Tokitsu, renommierter Ka­ratelehrer und Buchautor. Doch Amnesie ist weniger eine Krankheit als Selbst­hilfe des Körpers: Sie schützt wie das Fieber.

Mit dem Fahrstuhl in die Zukunft

Sanft beschleunigt fährt die Kamera mit einem ultramodernen, transparenten Fahrstuhl an der Fassade eines Kaufhauses hinunter und landet scheinbar in der Vergangenheit: Vor dem Eingang führen mit Kimonos bekleidete Tänzerinnen aus einer Traditionsschule Kyotos eine Darbietung auf, um für das hoch­moderne Kaufhaus zu werben. Es ist diese augenscheinlich für Japaner typische Verquickung von Vergangenheit und Modernität, die Marker an diesem Land so fasziniert (vier Filme hat er dort bislang gedreht) und die auch in seinen eigenen Filmen im Zentrum steht. Level Five unternimmt eine Zeitreise in die Vergangenheit Okinawas mittels eines modern anmutenden Bildrepertoires, das aus einem Computer des Jahres 2001 zu kommen scheint (tatsächlich ist es ein mittlerweile veralteter Power Mac des gehobenen Amateurstandards). Die innere Bewegung des Films ist also ein gleichzeitiges Vor- und Zurückfahren in der Zeit, ganz im Sinne jener Szene aus Hitchcocks Vertigo (USA 1958), in der die Kamera vorwärts zoomte und gleichzeitig im Raum zurückfuhr. Marker testet die Möglichkeiten elektronisch formulierter Bilder aus, probiert ihre optische Interaktion mit Archivbildern und traditionell dokumentarischen Aufnahmen, zum Beispiel Interviews. Eine Hobbyprogrammiererin ist die Protagonistin des Films, ein ominöses Computerspiel der dramaturgische Mo­tor und ein Internet-ähnliches Informationsnetz ein unerschöpflicher Informationsspender.

Es ist das erste Mal in Markers Œuvre, daß eine Schauspielerin auftritt und uns durch den Film lotst (von dem Fotofilm La jetée [F 1962] einmal abgese­hen). Die Performance-Künstlerin Catherine Belkhodja spielt eine schöne und interessante Frau namens Laura, die ihr Leben vor dem Computer zu verbrin­gen scheint. Sie spricht die ganze Zeit direkt in die Kamera zu einem unsicht­baren Gesprächspartner – offenbar ihr vor kurzem auf mysteriöse Weise um­gekommener Freund. Dieser »Dialog mit einem Verstorbenen« kann auch als ein über drei Monate geführtes elektronisches Bild-Ton-Tagebuch gelesen wer­den. Sobald Laura sich in den Rechner einloggt, wird ihr »log in« genau datiert. Ihre dort eingespeisten (Selbst-)Gespräche und Reflexionen zeichnet sie selber auf, justiert zuweilen mit einer Fernbedienung das Bild, das wir von ihr sehen. Wir erfahren, daß ihr Geliebter an einem Computerspiel über die letzten Kriegstage Okinawas gearbeitet hat, das Laura nun vollenden will, da sie hofft, so einen Hinweis auf seinen rätselhaften Tod zu finden. Dieses Videospiel – so will es die Erzählfiktion – übermittelt Laura wie auch dem Zuschauer die Be­richte über Okinawas Schicksal, einschließlich der Interviews mit Augenzeugen und Experten.

Lauras Versuche, zusätzliche japanische Armeen aus Formosa nach Okinawa zu transportieren, um die Niederlage der Insel zu verhindern, beantwor­tet der Computer stets mit einer Fehlermeldung (»Fehler 14 ist eingetreten«, »Request denied «). Im Zuge dieser Schwierigkeiten mit der Programmierung beschließt Laura, einen Bekannten namens »Chris« hinzuzuziehen, den sie spöttisch kokett als »Montage-Genie« charakterisiert. Diese Koryphäe ist nie zu sehen, spricht aber plötzlich aus dem Off, mit der Stimme von Chris Mar­ker: »An dieser Stelle der Geschichte kam ich dazu ... und ich nahm Lauras Vorschlag als eine amüsante Herausforderung an.«3 Im folgenden wechseln Lauras Monologe und durch »Chris« in Japan recherchierte Bildbeiträge sich regelmäßig ab. Laura ihrerseits sucht nach weiteren Zeugnissen im »Netz der Netze«, dem Mega-Informationsnetz OWL (= Optional World Link, was aber — wie das »gemorphte« Logo zeigt – ebensogut mit »Eule« zu übersetzen ist ). Beide scheinen sich nie zu begegnen, leiten sich aber die Ergebnisse ihrer Nach­forschungen gegenseitig zu, wobei Chris dem Zuschauer auch zusätzliche De­tails über Laura und ihren verstorbenen Freund übermittelt. Eine irritierende Doppelbödigkeit entsteht dadurch, daß wir uns nie sicher sind, an wen sich Lauras intime, komplizenhafte Ansprachen richten: an den verstorbenen Ge­liebten, an den Helfer »Chris« oder gar an den filmenden Regisseur Marker (wie etwa bei der ironischen Titulierung als »Montage-Genie«). Ihre Monologe sind – wie sich deutlich spüren läßt – von unterschiedlicher Qualität (mal pathe­tisch, mal philosophisch, mal theatralisch oder auch »spoken aside«). Ganz offensichtlich changiert das Verhältnis der inszenierten zu den improvisierten Passagen.4 Im folgenden wird zwischen der Filmfigur »Chris« und dem Filmregisseur »Marker« unterschieden, um einer möglicherweise zu postulierenden Identität nicht vorzugreifen.

Vorwärts in die Vergangenheit

Markers Faszination für die »neuen Technologien« wird besonders deutlich in seiner Darstellung des Informationsnetzes OWL. Mit kalkulierter Nostalgie läßt er Laura die Frühzeit der Computernetze beschreiben, in denen ein paar anarchische, ausgeflippte Hacker Paßwörter knackten und in verbotene Berei­che eindrangen, um mit den Informationen abzuhauen, wie einst Robin Hood in Sherwood Forest. Doch es ist wohl Markers notorischer Skeptizismus, der ihn vor einer zu emphatisch-enthusiastischen Sicht der Informationsvernet­zung bewahrt. Im OWL-Netz, einem zweidimensional animierten Internet mit Zugang zu großen Bilddateien, recherchiert Laura stets getarnt, ganz so, wie man »in den prähistorischen Zeiten des Btx auch Pseudonyme benutzte«. Sie deckt per Computer ihr Gesicht mit unterschiedlichen Bildmasken ab, die jeweils nur die Augen und den Mund freilassen. Marker findet damit einen sehr bildhaften Ausdruck für das in Netzen dieser Art verbreitete Spiel mit ver­schiedenen Persönlichkeiten, verschiedenen Rollen: Laura reist als »multiple Persönlichkeit«.

Dazu paßt auch ihr Bericht über ihre »Begegnung« im Netz mit einem Ty­pen namens Michel, der angibt, eine im Sterben begriffene Berühmtheit zu sein. Doch Laura zweifelt daran. Weiß man je, ob der andere nicht nur ein Spiel treibt, sich einen Spaß macht? Laura lernt noch weitere Schattenseiten des Net­zes kennen: Sie fühlt sich dort von Anmachern bedrängt, verfolgt, regelrecht ausspioniert und plötzlich konfrontiert mit Leuten, die von dem noch unvoll­endeten Okinawa-Projekt bereits gehört haben wollen. Schließlich wagt sie nicht einmal mehr, offen ihr Recherchethema zu nennen. Ganz und gar nicht futuristisch wirkt dagegen der vorgeführte Gebrauch der OWL-Technologie, die häufig noch an die eher lokal orientierte Mailbox erinnert: Lauras Gesprächspartner scheinen stets Franzosen zu sein, lesen dieselben Zeitungen wie sie, können sich in derselben Stadt mit ihr »verabreden«.

Das von Lauras Freund hinterlassene Videospiel über Okinawa besteht aus elektronisch fabrizierten Bildern, die Marker – wohl aufgrund der mangelhaf­ten Auflösung – stets nur kurz zeigt (meistens nur das Startmenü). Sie werden jeweils unverzüglich ersetzt durch ein Vollbild, das mit Hilfe einer Videokarte lediglich in den Computer eingespeist wurde. Bei einem Großteil der bearbei­teten Bilder handelt es sich um gewöhnliche Videotricks, zum Beispiel ineinan­derkopierte Bilder, Farbverfremdungen, Bild-im-Bild-Montagen. Interessanter dagegen sind die zuweilen leicht irisierenden Oberflächen, welche die Kamera durch Einstellung einer geringeren Farbanzahl erzeugt, beispielsweise bei dem unerwartet gewalttätigen »Gladiatorenkampf« zweier Stiere, denen Schaum aus dem Maul tritt, aufgepeitscht durch die aggressiven Rufe ihrer Antreiber. Die schillernde Oberfläche erinnert uns daran, daß wir es mit bearbeiteten Bil­dern zu tun haben und nicht mit authentisch aufgefaßter »Wirklichkeit«.

Marker zeigt uns keine High-Tech-Animationen, sondern eine mit einfachsten, oft zusammengebastelten Mitteln erstellte Science-fiction-Szenerie, Dar­in liegt für ihn die Utopie des Computerwerkzeugs. Im Zeitalter der immer perfekter vorgetäuschten Illusionen nimmt er für sich das Recht auf eine »naive Informatik« in Anspruch. Er bedient sich des Computers vor allem, um dispa­rate Bild- und Tonquellen einzuspeisen und in einer einzigen Matrix zu be­arbeiten: Handycam-Video (die Interviews), Digitalvideo (Lauras Monologe), 16-mm-Filmaufnahmen (Okinawas Märkte), Fernsehmitschnitte, Archivmate­rial, Photographien, Schriftzüge, Geräusche, Musiken, Sprache, Animationen. Leicht kann er dort auch seine Lieblingsbilder aus früheren Filmen unterbrin­gen: Der Kopf einer antiken Statue aus La jetée dient Laura als Maske, über das Gesicht einer Koreanerin aus dem Fotobuch Coréennes flutet ein rotes Meer hinweg, ein tanzender Elefant aus Slon Tango wird zum zugespielten Bild im Netz. Level Five funktioniert trotz der Computerbilder wie ein klassischer Film, der sich die Welt der neuen Medien bloß zum Thema nimmt.

Deutlich aufwendiger als andere Szenen ist die Prozedur des Zugangs zum Okinawa-Spiel gestaltet. Von einem Alarmläuten begleitet, erscheint ein blinkender Handabdruck auf dem Schirm, im Sekundenabstand ersetzt durch tie­ferliegende Schichten der Hand (bis zur »Platinenmuskulatur«). Laura läßt ihre Hand durch Auflegen auf einen gespeicherten Abdruck scannen, bis offenbar der Vergleich mit dem Muster den Zugang freigibt: »Access granted«. Den höchst individuellen Handabdruck anstelle eines schlichten Paßworts zu verwenden ist ein Topos der Science-fiction. Doch ist es ein Zufall, daß Marker gerade diese Szene der Identitätskontrolle, ebenso wie die Sequenz der Masken, besonders sorgfältig ausgearbeitet hat?

Archive des Horrors

Die Bildanmutung des Okinawa-Spiels ist zunächst die von üblichen Strategiespielen: Landkarten, Armee-Einheiten, Flottengeschwader, Kamikazeflieger. Mit ungewöhnlicher Akribie hat der Filmemacher Marker die Namen der Kampfverbände und den Schlachtverlauf rekonstruiert – und doch zeigt er uns diese Sicht der Generalstäbe auf »Armee-Spielsteine« nur selten. Später, als er in einem Kriegsmuseum eine Schützengraben-Rekonstruktion betrachtet, macht Chris eine erinnernswerte Bemerkung über Kriegssimulationen, ob sie nun im Film, im Computer oder im Museum entstehen: »Es fehlt auch hier ... der Geruch nach Schlachtfeld.« Die Popularität von Kriegsszenen in unseren Massenmedien nähme rasant ab, sobald der Geruch hinzugefügt würde. Ein von Marker entworfenes Computerspiel mit diesem Thema mußte also andere Elemente aufweisen, die eine Aufarbeitung, ein Stück Trauerarbeit ermöglichen können.

Das Spiel (und damit der Film) versammelt Momente des Eingedenkens. Über eine Menüanzeige ruft Laura gespeicherte Experten- und Augenzeugen­berichte auf. Da ist zum Beispiel der Filmemacher Nagisa Oshima, den Marker als »unermüdlichen Ausloter des Gedächtnisses« lobt und der mit seinen Fil­men immer wieder gegen das Verdrängen des Krieges angeht. Ein Ausschnitt aus Shisha wa itsumademo wakai (Die Toten bleiben ewig jung, Japan 1977) zeigt trauernde Eltern bei einer Kommemorationsfahrt auf hoher See: Ihre Kinder waren noch vor Beginn der Schlacht von Okinawa per Schiff evakuiert und bei der Überfahrt versenkt worden. Zehn Jahre später filmt Oshima die Eltern, wie sie Sake, Kränze und Blumen ins kalte, tiefblaue Meer werfen, »um die Seelen der Ertrunkenen zu trösten«, wie der spezifisch japanische Ausdruck heißt. In Ikiteiru umi no bohyo (Das unvergeßliche Kreuz auf dem Meeres­grund, Japan 1976) taucht Oshimas Kamera nach den unter Wasser liegenden Relikten des Zweiten Weltkriegs: rostige Wracks der Kampfflugzeuge, fahle Menschenschädel. Ein Durchbrechen der Amnesie wird im Ausschnitt aus John Hustons Film Let There Be Light (USA 1946) vorgeführt. Ein unter Schock stehender GI, der nicht mal mehr den eigenen Namen weiß, wird durch die Hypnose eines Armeepsychologen auf das Schlachtfeld von Okinawa zurück­versetzt, um den Schock durch Nacherleben zu überwinden. In dieser Studie über qualvolle mentale Therapien, mit denen aus dem seelischen Gleichgewicht geworfene Menschen geheilt werden sollen, wird plötzlich die klinisch traumatische Dimension der von Marker ermittelten Erinnerungsmomente deutlich. Das anästhesierte, also schmerzfreie Gedächtnis kann nur durch Vergegenwärtigung der schrecklichen, erschütternden Erlebnisse aktiviert werden und einer etwas besseren Allgemeinverfassung zugeführt werden.

Weitere Zeremonien des Eingedenkens spürt Marker auf im pietätvollen Verhalten 20jähriger japanischer Mädchen an dem Ort, an dem die japanischen Generäle Harakiri, den rituellen Suizid, begingen: eine Stätte, die noch heute – wie uns versichert wird – bei jedem Japaner eine spontane Geste des Gebets hervorruft. Und selbst die letzten Worte des kommandierenden Generals Cho an seinen Adjutanten galten einer Reminiszenz: »Erinnerst du dich noch an den schönen französischen Film, den wir 1941 zusammen in Saigon gesehen haben?« Als ob ein tieferer Sinn darin läge, nennt uns Chris darauf den sehn­suchtsvollen Titel des Films, Le Danube bleu (Emile-Edwin Reinert, F 1939; Musik: Joé Hajos), und läßt dessen melancholische Leitmelodie »Schwarze Augen« erklingen, die Cho gehört hatte, als er Harakiri beging. Das unter­gehende Sonnenlicht streift die Klippen Okinawas, während die Kamera auf den Horizont des tiefblauen Meeres schwenkt. Die wenigen Erläuterungen, die Chris noch ergänzt, lassen vermuten, daß Marker daran vor allem die paradox verwickelten Wege der Geschichte faszinieren: daß Le Danube bleu, ein französisches Lustspiel über ungarische Zigeuner, von einem japanischen Militär in einer vietnamesischen Stadt gesehen, im Moment des Todes mit Hilfe einer Melodie erinnert wird.

In Level Five wird der Musik mehrfach eine besondere Stützfunktion für den Gedächtnisprozeß zugesprochen, und häufig werden mit Erinnerungen verbundene Melodien an- und nachgespielt (am Synthesizer laut Abspann: Mi­chel Krasna, das ist Chris Marker). So intoniert Laura unter anderem das Titel­lied aus Otto Premingers Film Laura (USA 1944), das – wie sie uns erläutert­ der Komponist in dem Moment verfaßte, als er verstand, daß seine Frau ihn für immer verlassen sollte. Im Touristenbus auf Okinawa stimmt die Reiseführerin noch einmal das Lieblingslied der 46 Krankenschwestern an, die in einer Höhle erstickten, da das Oberkommando sie zwischen den Fronten zurückließ, mit dem Befehl, sich nicht zu ergeben. Die Reiseleiterin ist im Gegenlicht kaum zu erkennen, aber Marker interessieren einzig die emotionalen Valeurs: die Geste des Gedenkens. Alle diese Lieder sind mit dem Tod verbunden, und sei es der Tod einer Liebe.

Level Five reiht ein Erinnerungsritual an das nächste, und doch scheint der Film auf einen einzigartigen Augenzeugenbericht zuzusteuern: den des christ­lichen Pfarrers Shigeaki Kinjo. Marker präsentiert sein Zeugnis wie ein wert­volles Fundstück: Als einziger Interviewpartner kehrt Kinjo zuvor regelmäßig im Film wieder, ohne sofort mit Namen identifiziert zu werden. Zugleich er­zählt Laura bereits früh von einem Kind namens Kinjo und macht Andeu­tungen über sein trauriges Schicksal. Als Kinjo schließlich sein Erleben der allerletzten Kriegstage Okinawas schildert, werden Name und Person zur Deckung gebracht, und der Film erreicht seinen dramaturgischen Höhepunkt: Als 19jähriger Junge vertraute er der japanischen Propaganda über die blutrün­stigen GIs und erschlug seine Mutter und seine jüngeren Geschwister mit einem Stock, damit sie nicht dem Feind in die Hände fielen. Als er seinen Tod im Kampf suchte, wurde er von den Amerikanern gefangengenommen. Seit diesem Tage verbringt er sein Leben im Wissen um einen schrecklichen Irrtum. Er nahm sein Schicksal an, wandte sich dem Christentum zu und wurde Pfarrer. Er wid­met sein Leben der Trauerarbeit. Er klagt nicht allein die wahrheitsgemäße Thematisierung der Kollektivselbstmorde in den japanischen Schulbüchern ein, sondern auch ein Eingeständnis der Öffentlichkeit, daß die Erziehung im Geiste der Samurai falsch und lebensverachtend war. »Er fordert ein, wozu Na­tionen und Menschen am wenigsten imstande sind: ihrer erlebten Vergangen­heit ins Gesicht zu sehen und um Vergebung zu bitten.« Gleichzeitig erscheinen Bilder der leidvollen japanischen Historie auf dem Gesicht eines menschlichen Kunststoffdummys: schattenhaft erkennbare Ablagerungen der Geschichte auf einem Gesicht von formloser Individualität.

Anschließend resümiert Chris, wie die Massenselbstmorde mit anderen Stationen des Leidens zur Tragödie Okinawas zusammenwirkten: »Zusammen mit den standrechtlichen Exekutionen durch die japanische Armee und den Opfern während der Schlacht ließen sie die Zahl der Ziviltoten Okinawas auf 150 000, ein Drittel der Bevölkerung, ansteigen. Keine andere menschliche Gemeinschaft hat so etwas durchgemacht, ausgenommen die Deportierten.« Doch der unterschwellige Vergleich von Zahlen wirkt immer irgendwie ab­geschmackt. Hier ist der sonst so feinfühlige Sprachstilist Marker wohl zu weit gegangen in seinem Unterfangen, Okinawas Tragödie zwischen die größten Katastrophen des Krieges einzureihen, den Holocaust und die Atombombe.5 Kinjo macht in seiner demütigen, bescheidenen Redeweise begreifbar, daß das Leid des einzelnen unermeßlich ist. Marker dagegen muß die Gruppe der Toten als Ganzes betrachten, will er sie doch in den Rahmen der Weltgeschichte einbetten als Vorgeschichte von Hiroshima: Okinawa war ein Bauernopfer; man opferte einen Stein, »um den Rest der Partie zu retten«. Die für die Amerika­ner höchst verlustreiche Eroberung Okinawas sollte – nach japanischer Über­legung – abschrecken und zu Friedensverhandlungen unter Erhalt der Mon­archie führen, doch in den USA wurde sie zum Argument für den Einsatz der Atombombe. Ihr Abwurf hat die Geschichte des gesamten Jahrhunderts ver­ändert. Hier nun legt Marker seine Trumpfkarte aus: »Das bedeutet, daß unsere Lebenswege bis in ihre Einzelheiten hinein von dem Geschehen geprägt wor­den sind, das sich dort auf dieser kleinen Insel zutrug ...«

Zeitreise im »absoluten Film«

Erstmals in einem Marker-Film äußert in Le mystère Koumiko (F 1965) die junge Japanerin Kumiko Muraoka diesen Gedanken weltweiter Verkettung: »Es ist wie die Welle des Meeres nach einem Erdbeben, selbst wenn das Ereig­nis sehr weit entfernt geschehen ist, nähert sich die Welle nach und nach und kommt schließlich bis zu mir.« Ebenso wie Kumiko denkt auch Marker an Nachwirkungen nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit. Das Bild der Welle verkörpert die Idee einer Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und ist eine Metapher für den nicht linear verlaufenden Zeitfluß.» An­fang und Ende sind unabsehbar. Und während eine Welle des Meeres noch auf den Strand auf läuft und sich dort ausbreitet, zieht schon der Sog der vorher­gehenden das Wasser auf den Meeresgrund zurück.«6 Das Bild der Welle taucht in La jetée, Le fond de l'air est rouge und Sans soleil an dramaturgisch wichtigen Stellen auf. Die Vergangenheit ist nicht einfach tot, ihr Wirken wird zuweilen erst lange nach den Ereignissen spürbar, »wie die Bowlingkugel von Boris Kar­loff in Scarface, die noch die Kegel umreißt, auch wenn die Hand, die sie schleu­derte, längst tot ist« (Le fond de l'air est rouge, F 1977).

Meereswellen, in Zeitlupe verlangsamt, branden an die Klippen Okinawas, als Chris vom »letzten Akt« der japanischen Generäle berichtet, ihrem Tod durch eigene Hand. Nahezu eine Dublette des Bildes der in Zeitlupe an die Steilküste brandenden Wellen findet sich in Sans soleil, wo Marker suggeriert, daß es sich um den Blick eines Außerirdischen auf unsere Erde handle oder vielmehr um den Blick eines Zeitreisenden, der aus unserer Zukunft komme. Beide Szenen sind mit einer pulsierenden, psychedelischen Synthesizermusik unterlegt, die einen tranceartigen Gemütszustand hervorruft. Die so bearbeite­ten, bewußt von den anderen abdriftenden Bilder und Töne suggerieren, daß wir uns hier in einem Parallelraum, einer Parallelzeit befinden, in jenem (in Sans soleil mehrfach thematisierten) »absoluten Film«, der den Gegensatz von Vergangenheit und Gegenwart »durch ein Anschwellen des Jetzt aufzuheben vermag«.7 Die Metapher der Welle steht für Wandel, Fluten und Übergang, ver­weist auf eine Welt, die keine Linearität und keine scharf umrissenen Grenzen kennt und in welcher der Flügelschlag eines Schmetterlings in China in bezug zu unserer eigenen Existenz tritt.

Im Mahlstrom der Bilder der Vergangenheit

Laura ist nicht der wirkliche Name der Frau, sondern nur ein Kosename, den ihr der Geliebte im Gedenken an Otto Premingers gleichnamigen Film Laura gab. Mehrfach ist auch eine delirierend wirkende Melodie aus dem Film, das Laura-Thema, in Level Five zu hören. Die mysteriöse Referenz an Premingers Film liefert ähnliche Hinweise zur Interpretation wie die Hommage an Hitch­cocks Vertigo in Sans soleil. In Premingers psychologischem Thriller recher­chiert der junge Inspektor McPherson den Mord an der attraktiven »Karriere­frau« Laura und verliebt sich allmählich in die Tote. Als er in ihrer Wohnung im Sessel einschläft, unterhalb ihres lebensgroßen Porträts, taucht die Totgeglaubte dort plötzlich höchst lebendig wieder auf. Der Mörder hatte sich im Opfer ge­irrt, wird vom Inspektor gestellt, und alles wendet sich für das neue Paar zum Guten. In Vertigo läßt sich eine fast identische Konstellation ausmachen, Auch hier forscht ein Detektiv nach einer Frau, verliebt sich in sie und erleidet, als sie vor seinen Augen Selbstmord verübt, einen Schock. Nach einem fiebergeschüt­telten Aufenthalt im Krankenhaus lernt Scottie eine Frau kennen, die seiner verlorenen Liebe frappierend ähnlich sieht und deren Kleidung und Frisur er nun nach dem Bild jener »idealen« Frau umgestaltet. Sie entpuppt sich schließlich als genau die Frau, die er damals beschattet hatte und die als Doppelgänge­rin in einer Erbschaftsintrige ihren Tod nur vortäuschte. Legen wir Markers eigenwillige Interpretation von Vertigo zugrunde, dann findet der zweite Teil von Vertigo, das Wiederfinden der Geliebten und die Fortsetzung der Liebes­geschichte, nur in der übermächtigen Phantasie von Scottie statt.8 Es ist zu vermuten, daß Marker auch in Premingers Laura einen Film über das »wahn­sinnige Gedächtnis« sieht, über einen Menschen, der mit einer überdurch­schnittlichen Einbildungskraft ausgestattet ist und sich in eine Parallelwelt träumt: Inspektor Mark McPherson.9 »Ich war so beeindruckt, daß man in ein Bild verliebt sein kann und dann eine richtige Dame an seine Stelle tritt«, gesteht Markers Laura in Level Five.

Nicht nur Markers Lieblingsfilme handeln von Leuten, die von ihren Erinnerungen heimgesucht werden und sich eine »Zone« in ihrer eigenen Phanta­sie einrichten, sondern auch seine eigenen. In La jetée wird der Zeitreisende von einer übermächtigen Phantasie, nämlich von dem »Bild« einer Frau aus seiner Kindheit, getrieben, die Realzeit zu verlassen, Raum und Zeit zu über­brücken. In Sans soleil bastelt der Videoartist Yamaneko, ein Alter ego Markers, sich mit Hilfe eines Videosynthesizers eine eigene (Video-)Welt, die ganz ihm gehört und in der er die Bilder der Vergangenheit ändern kann. Das obsessive Leitmotiv all dieser Filme ist im Motto von Le tombeau d'Alexandre (F 1993) pointiert gefaßt: »Nicht die Vergangenheit waltet über uns, sondern die Bilder der Vergangenheit.«

Nach den vielen Geschichten von Männern, die sich Frauen nach einem Bilde erschaffen, zeigt uns Marker in Level Five in der Figur seiner Laura eine Alternative auf. Auch sie hat den Tod des Geliebten erfahren müssen und führt noch täglich (Selbst-)Gespräche mit ihm. Zunächst glaubt auch sie – ganz wie Scottie und Mcpherson –, daß der Tote in Wirklichkeit noch lebe und sie ihn wiedertreffen könne. So ist sie überzeugt, einem Doppelgänger auf der Straße begegnet zu sein; ein andermal glaubt sie, ihn bei einer »maskierten« Begegnung im Netz an bestimmten Formulierungen wiederzuerkennen. »Treibst du ein Spiel mit mir?« fragt sie verunsichert. Doch in ihrer Abdrift, ihrem persön­lichen Wahn, findet Laura einen Weg, ganz im Sinne von Kinjo, ihrer Vergan­genheit ins Auge zu sehen. Sie berichtet unvermittelt über eine andere maskierte Frau im Netz, die alles über Laura und das Spiel zu wissen scheint. Als Laura die Frau auffordert, ihre Maske abzunehmen, blickt sie in ihr eigenes Gesicht: ein stroboskopisch flimmerndes, von einem Windheulen begleitetes Antlitz – ein Bild des Schreckens, wie das der Medusa.

Im nächsten Moment wird Laura aus dem Spiel geworfen, verbrennt sich ihre Finger am Muster des Handabdrucks: »Access denied« blinkt es vom Bild­schirm, begleitet von einem Alarmläuten. Hat sie sich – den (ausgelegten?) Spu­ren des Liebhabers folgend – jener »versteckten Wahrheit« genähert und erhält keinen Zugang mehr zum Spiel, dem Archiv der Bilder der Vergangenheit? Sol­len wir etwa annehmen, daß sie an dieser Stelle das erreicht, was sie und ihr Freund auf der ihnen eigenen privaten Hit-Skala stets mit »level five« bezeich­neten, die höchste Stufe einer Klassifizierung von menschlichem Verhalten? Kaum einer hatte je »level two« erreicht, und Laura fragte sich, ob man wohl sterben muß, um »level five« zu erreichen. Sicher ist, daß Laura Distanz ge­wonnen hat. Sie wird optisch und akustisch in die Ferne gerückt, erscheint nun in Schwarzweiß und spricht, ohne daß wir ihre Stimme hören können. Und plötzlich spricht Chris über ihren »Zustand«, so wie man über den Zustand einer Kranken berichtet. »Laura hatte begriffen, daß das Spiel nie dazu dienen könne, die Geschichte neu zu gestalten. Es würde sie nur sinnlos wiederholen, mit löblicher, aber wahrscheinlich sinnloser Beharrlichkeit.« Die gewöhnlichen Strategiespiele dienen dazu, den Lauf der Geschichte zu ändern, »verlorene Schlachten zu gewinnen«. Im Gegensatz dazu war das Okinawa-Spiel darauf beschränkt, die Geschichte genau so, wie sie sich abgespielt hatte, zu reprodu­zieren. An den Fakten durfte nicht manipuliert werden.

So hatte Laura mit Hilfe des Spiels ihres Geliebten verstanden, daß sie kein »Freispiel« bekommt, keine »zweite Chance«, ihre Liebesbeziehung zu reani­mieren. Die verlorenen Schlachten der Liebe sind nicht zu gewinnen. Lauras Erkenntnis, daß sie sich von der Vergangenheit lösen muß, pflichtet Chris in einem Vergleich zur Historie bei: »Die Vergangenheit in Erinnerung zu be­halten, um sie nicht noch einmal durchleben zu müssen, war eine Illusion des 20. Jahrhunderts.« Marker ist überzeugt, daß es nichts nützt, die Vergangenheit präsent zu halten. Einen der Gründe dafür nannte er bereits im Motto von Sans soleil, einer Sentenz von T. S. Eliot: »Because I know that time is always time. And place is always and only place.« Die hierauf folgende, von Marker nicht ausdrücklich zitierte Zeile lautet: »And what is actual is actual only for one time. And only for one place«. In der Zeit gibt es kein Zurück.

Doch Chris äußert Zweifel, ob Laura tatsächlich ihre Krankheit, die sie selber »Zeitmigräne« nannte, überwunden hat. In der Tat sehen wir als nächstes, daß sie das Gespräch mit dem Geliebten nicht aufgegeben hat. Ihr folgender Monolog läßt sich aber wohl so verstehen, daß sie nun annimmt, daß er durch­aus lebt, sie aber verlassen hat, um ihr und auch sich selber das langsame, quälende Absterben ihrer Beziehung zu ersparen. Sie dankt ihm für dieses »Ge­schenk«, für »ein Leben, in welches nichts Mittelmäßiges sich einschleichen konnte, weder die Lüge noch die Grausamkeit«, von dem nun nur ein Gefühl einer reinen Liebe bleibt. Erwähnte Marker nicht in seiner Rezension von Ver­tigo, daß »die Liebe tatsächlich der einzige mögliche Sieg über die Zeit ist«?10 Nachdem Laura Abstand zu den sie heimsuchenden Bildern der Vergangenheit gewonnen hat, kann sie auch die höchste Form der Selbstüberwindung üben, den Verzicht auf eine Liebe. Sie zoomt das Bild, das die Kamera von ihr macht, heran und stellt es unscharf.11 Sich von der Vergangenheit lösen heißt sich von den Bildern der Vergangenheit lösen, und also entspricht den blasser werden­den Erinnerungen ein immer unschärfer werdendes Bild. Konsequenterweise ist dies Lauras letzter Monolog, und als Chris nach ihr sucht, findet er nur noch einen verlassenen Arbeitsplatz vor.

Die Sonne, die niemals untergeht

Laura hatte bereits früh ihrer eigenen Situation einen Namen gegeben: »Oki­nawa mon amour«. Marker spielt damit auf Hiroshima mon amour (F 1959) an, jenen eindringlichen Film seines Freundes Alain Resnais, der die schmerzhafte Durchdringung von Erinnern und Vergessen auszudrücken vermochte. Dort begegnen eine Französin und ein Japaner einander in Hiroshima, zwölf Jahre nach der Bombe, doch sind beide verheiratet, und die Frau steht kurz vor ihrer Heimkehr nach Frankreich. Ihre kurze Liebesbeziehung ist überschattet von der Unmöglichkeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen (die Bombe, die deut­sche Okkupation in Frankreich), und der Notwendigkeit, sie zu vergessen, um weiterzuleben. Die Überlagerung einer persönlichen Tragödie mit einer kol­lektiven findet sich in der Konstellation von Lauras Liebeskummer und der Tragödie von Okinawa wieder. Ist es zu gewagt, zu behaupten, daß Level Five ein Remake von Hiroshima mon amour ist, nur daß bei Marker die Liebes­beziehung einen höheren Grad der Auflösung kennt, nämlich den Tod eines der Liebenden? Auch in Resnais' Film erreicht die Französin den höchsten Grad der Selbstüberwindung, als sie nach Tagen des Zweifelns und Zögerns schließlich dem Geliebten sagt: »Ich werde dich vergessen! Ich vergesse dich schon!« Aber Marker wäre nicht Marker, wenn er seiner Version nicht noch einen Nachsatz anfügte, und sei es über dem Abspann: ein melancholisches, von Mouloudji gesungenes Chanson: »Un jour tu verras, on se rencontrera« - ­eines Tages gibt's ein Wiedersehen. Der Auftrag für Hiroshima mon amour war einst an Resnais und Marker zusammen ergangen, doch letzterer wollte sich nicht den Zwängen einer Großproduktion mit Schauspielern aussetzen und zog sich schon bald aus dem Projekt zurück.12 Nun, fast vierzig Jahre später, kann Marker mit Hilfe der Computertechnik und einer einzigen Schauspielerin seine Version des Films auch in der Kategorie des »intimate and solitary film­making« vorlegen. Der Film ist das Manifest eines »machbaren Kinos«, wie Marker im Presseheft betont: »Man kann niemals Lawrence von Arabien so drehen, noch Andrej Rubljow oder Vertigo. Aber die Werkzeuge sind nun vorhanden, und es ist wirklich vollkommen neu, daß ein Kino der Intimität, der Einsamkeit, das man nur im Zwiegespräch mit sich selber erarbeitet wie ein Maler oder Schriftsteller, daß so ein Kino sich andere Möglichkeiten erschließt als die des Experimentalfilms.«

Wird es je einen letzten Marker-Film geben?

Kinowedtscheskije sapiski 12 (1991).

Brief vom März 1995, zitiert in: »Level Five«, in: Birgit Kämper/Thomas Tode (Hgg.), Chris Marker – Filmessayist (= Cicim 45-47), München 1997, S. 330.

In der deutschen Fassung von Level Five wird Markers Text von Christoph Engel ge­sprochen.

In einem Interview in L'Humanité (19.2.1997) bestätigt Catherine Belkhodja die­sen Eindruck: »Sagen wir also, daß der Film entstanden ist aus z.T. äußerst präzisen Texten, z.T. völlig improvisierten und z.T. aus über­arbeiteten Improvisationen, die auf Texten von Chris fußten.«

Der Vergleich ist in mehrfacher Hinsicht diskutabel: in den Dimensionen, darin, daß Okinawas Einwohner als Japaner Opfer und Täter zugleich waren, und daß die Deportier­ten keine »natürliche« Gruppe waren, sondern »von außen« so definiert wurden. Noch beim Besuch des sogenannten Requiemsaals in Oki­nawa hatte Chris selber vor einer gegenseitigen Aufrechnung der Toten mit Hilfe einer zy­nisch-paradoxen Sentenz gewarnt, die das Denken solcher Vergleiche bloßstellt: »Meine Toten sind toter als deine Toten.«

Ursula Langmann, »Das geträumte Ge­schichtsbuch«, in: Cicim 8 (Juli 1984), S. 56.

Ausführlich zum Thema des »absoluten Films«: Wolfgang Beilenhoff, »Sans soleil als mediale Erinnerungsreise«, in: Cicim 45-47 (wie Anm. 2).

Nachzulesen in Markers Artikel: »A free replay: notes sur >Vertigo<«, in: Positif 400 (Juni 1994), S. 79 ff., deutsch in: Cicim 45-47 (wie Anm. 2). Eines der überzeugendsten Argu­mente für diese Interpretation ist das abrupte und gänzlich spurlose Verschwinden von Scot­ties Ex-Freundin Midge im zweiten Teil, für die – laut Marker – in der Vorstellungswelt des wie im Fieberwahn Liebenden kein Platz mehr ist.

Die Interpretation, daß es sich im zweiten Teil des Films um eine Wunschvorstellung von McPherson handelt, formulierte bereits Kristin Thompson: »Closure Within a Dream? Point of View in >Laura<«, in: Film Reader 3 (Februar 1978), S. 90-105. Auch in: dies., Breaking the Glass Armor, Princeton / New Jersey 1988, S. 162-194.

Marker (wie Anm. 8).

Im übrigen weiß wohl nur Marker, warum das äußere Anzeichen dieser »Läuterung« Lau­ras in einer aufgelösten Frisur besteht.

Siehe Birgit Kämper / Thomas Tode, »Ge­spräch mit Alain Resnais«, in: Cicim 45-47 (wie Anm. 2).

Thomas Tode
geb. 1962, Filmemacher, Publizist, arbeitet an einer deutschen Edition der Schriften Dziga Vertovs.
(Stand: 2019)
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