LILIAN RÄBER

KULT - LABEL UND LEGENDE

ESSAY

Times of Innocence

Weil es in diesem Text um Legenden geht, stelle ich auch eine an den Anfang. Es ist die Geschichte eines kleinen, verschrobenen Films, dessen Produktion zirka eine Million Dollar kostete. Er trägt den Titel The Rocky Horror Picture Show und basiert auf einem Musical, das 1973 in London einen leidlichen Erfolg hatte feiern können. Dies erweckte das Interesse eines amerikanischen Produzenten, der die Rechte für Musical und Film erwarb. Im September 1976 hatte der Film in New York in einer Mitternachtsvorführung seine Premiere. Sieben Jahre nach der Stonewall-Revolution war das Leben der Drag Queens in Greenwich Village um einiges angenehmer geworden: Man hatte sich eine gewisse Freiheit erkämpft, frequentierte seine Klubs und besass einen neuen Stolz auf die eigene Kultur. In dieser Situation kam der Film gerade recht. Von niemandem gross beachtet, landesweit nur mit sieben Kopien gestartet, er­reichte er New York und landete in Greenwich Village wie ein Ufo inmitten von Endzeit-Gläubigen. Man kann die Geschichte drehen und wenden, wie man will - sie gibt keine endgültige Erklärung her. Beschreiben lässt sich einzig, was passierte. Das Publikum kam, sah und kam wieder. Es kam eine ganze Woche lang und mehr, es begann mit Zwischenkommentaren die Dialoge zu unterstützen, es kam mit Wasser, Zeitungen und Reis, und schliesslich kam es in Drag, gekleidet wie Frank N. Eurter, der süsse Transvestit und Protagonist. Es tanzte vor der Leinwand den Time Warp-Tanz. Ganz und gar eignete es sich den Film an, bis er schliesslich vom Ritual nicht mehr zu trennen war. Das ist der eine Teil der Legende. Der zweite Teil beginnt mit folgender Feststellung: Das Treiben blieb nicht unbemerkt. Die Begeisterung war ansteckend und zog ein immer grösseres Publikum an. Nun war dieses Phänomen nicht mehr zu übersehen - auch, oder vielmehr gerade, von den Mainstream-Medien nicht. Sie besprachen und analysierten es. Damit wurde wiederum mehr Interesse erzeugt - ein noch breiteres Publikum fand sich ein, um zu sehen, was an der Geschichte dran war, um dabei zu sein, um sich unter die Kultisten einzurei­hen. Das war der Anfang vom Ende. Danach kamen die Voyeure und dann, wie die Fans berichten, Schlägertrupps, die sich zum Ziel setzten, den versammel­ten Homosexuellen das Vergnügen an ihrer Show zu verderben. Sie sollen jeweils laut gejubelt haben, wenn Riff Raff am Ende Frank N. Furter umbringt. Das wirkte, und die Homosexuellen blieben zu Hause, worauf auch das Inte­resse der Schläger erlahmte. Und zu guter Letzt, nach der ganzen Aufregung, kamen die Studis, die sich ja immer Mühe geben, da zu sein, wo die Action ist.1

So weit die Legende zum Kultfilm par excellence. Es geht in ihr um das Einzig­artige und Spezielle, das in seinerWirkung unerklärlich ist, und es geht in ihr um die Beschmutzung und Zerstörung dieses Speziellen im Moment der Ent­deckung durch den Mainstream, wodurch der Ausverkauf an die Massen ein­geleitet wird. Damit ist die Legende zum Kultfilm par excellence gleichzeitig die Kultfilmlegende par excellence. Sie ist mit sämtlichen Elementen bestückt, die zum Argumentationsmuster der Popkultur gehören, jenem Konglomerat aus Erzeugnissen der Alltagskultur, in dem sich alles um die geradlinige Ent­wicklung vom Nichts zum Star dreht und «Erfolg» ein höchst zwiespältiges Wort ist, weil es bedeutet, die ursprüngliche Idee verraten und verkauft zu haben. Nur mit den Elementen dieser Legende lässt sich, wie ich glaube, der Begriff Kult, wie er heute verwendet wird, überhaupt definieren.

Gemeinhin gelten Kultfilme als eigentlich schlechte, billig produzierte Filme, die das Attribut B-Movie tragen, die (oft) an der Kasse floppen und erst über ein beharrliches Fanpublikum, das sich darin in einer verqueren Art selbst erkennt, eine grössere Aufmerksamkeit erlangen. Will man dieses Phänomen erklären, so greift man zu Behelfswörtern wie «Zeitgeist», «Subkultur» oder «Communities». Allein diese Codes zeigen, wie stark der Kultbegriff mit der Popkultur und ihrem Verhältnis zur Subkultur verknüpft ist. Kult ist der Ge­genpol zum Mainstream, wie er seit den frühen Siebzigerjahren existiert. Davor teilten sich die Lager in die bürgerliche Öffentlichkeit und die Gegenöffent­lichkeit. Es gab politische Meinungen und gelebte Sexualität, die in der Öffent­lichkeit nicht willkommen waren. In einer kurzen Kampfphase Ende der Sech­zigerjahre gab es, von der Gegenbewegung her betrachtet, ein «Establishment», das sich seiner selbst überaus sicher war und das man herausfordern wollte.

Heute gibt es kein Ausserhalb mehr. Der Mainstream nährt sich geradezu von den Trends der Subkultur, und die Entdeckung unerklärlicher Vorlieben und Praktiken gehören zum Daily Business eines jeden Mediums. Kult ist darin ein gern gesehener Gast.

Was ein Kultfilm ist, wurde und wird oft als Frage des Standpunktes behandelt. Es geht immer darum, wer das Wort «Kult» für etwas in Anspruch nimmt: Sind es die Fans, die Medien oder die PR-Leute? Sind es nicht die Fans, hat sich die Kultzusehreibung automatisch als Fake entlarvt, als etwas Unechtes, Künst­liches, das man nicht ernst zu nehmen braucht. Diese Kultdefinition bewegt sich jedoch innerhalb der zum Kultfilm gehörigen Legende, die besagt, dass die Fans der Ursprung eines jeden Kults sind. Damit kommen wir also keinen Schritt weiter. Ich versuche deshalb die Argumentation umzukehren und be­haupte: Ein Kultfilm ist dann echt, wenn ihm irgendwer Teile der Legende zu­schreibt. Bespricht also beispielsweise eine Journalistin schwärmerisch einen Film als etwas absolut Neues und Einzigartiges oder behauptet ein Zuschauer, dass es nicht mehr so sei wie früher, seit die Konsum-Kids den Film für sich entdeckt hätten, dann handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Kult. Diese Definition hat den furchtbaren Nachteil, dass plötzlich alles Kult ist, denn irgendwer findet sich immer, die oder der solche Dinge sagt - und sei es die Werbeagentur der Produktionsfirma. Ich zum Beispiel sehe mir zurzeit begeistert die Filme von Jackie Chan an. Für die Arbeit am vorliegenden Text habe ich mir einige Publikationen über Kultfilme gekauft, unter anderem ein Handbuch zum Hongkong-Film und Jackie Chans Autobiografie, die ich in einem Zug durchgelesen habe. «Der Hongkong-Film ist inzwischen zu einem Milliardengeschäft geworden, und eine Kultgemeinde rund um die Welt ver­folgt die atemberaubende Action, die von Stars wie Jackie Chan, Ching Sue Tung oder Michelle Khan, Cynthia Rothrock und Jade Leung in Szene gesetzt wird», steht im Klappentext von Sex und Zen und eine Kugel in den Kopf.2 Alleine bin ich mit meiner Begeisterung für den Kung-Fu-Star also keineswegs. Der Support für mein Fantum wird mir zudem von einer eher zwiespältigen Seite angeboten, die sich nicht scheut, die Worte «Milliardengeschäft» und «Kultgemeinde» in einem Satz zu verwenden. Kann also Jackie Chan über­haupt noch Kult sein? Oder anders gefragt: Wer geht heute wie mit Kult um?

Talking Business

Betrachten wir Filme zuerst aus der Warte der Industrie als Produkt, das erfolg­reich und mit möglichst viel Gewinn verkauft werden soll. Erste und wichtigste Bestimmung des Produktes ist die Zielgruppe. Wer soll es kaufen? Unter die­sem Aspekt muss auch das Label Kult verstanden werden, das in den letzten Jahren auffallend häufig angewendet wird. So unterschiedliche Filme wie Pulp Fiction (Quentin Tarantino, USA 1993), Trainspotting (Danny Boyle, GB 1996) oder Scream (Wes Craven, USA 1996) tragen diesen Stempel. Funktioniert das Label als Verkaufsargument, lautet die Frage, was für einen Inhalt es bezeichnet. Labels, wie zum Beispiel Genrebezeichnungen, dienen einerseits der Produk­tionsfirma bei der Kalkulation von Risiken bzw. des Gewinns, andererseits die­nen sie immer auch der Vermarktung. Trägt ein Film ein spezifisches Label, so geht es dabei um eine klar umrissene Erwartung, die eine Zuschauerin darauf aufbauen kann - wo Western draufsteht, muss auch Western drin sein.3 Was also kauft sie, wenn sie ein Ticket für einen Kultfilm erwirbt? Die Antwort lässt sich der Definitionsschwierigkeiten wegen vielleicht am besten im Ausschlussver­fahren finden. Was kauft sie, wenn sie ein Ticket für keinen Kultfilm erwirbt?

Genau betrachtet werden die meisten Filme nicht als Kult gekabelt. Ein Film mit Tom Hanks oder mit Julia Roberts zum Beispiel wird von den Majors nicht als Kultfilm angepriesen. Dahinter steckt eine einfache Überlegung. Diese Stars sollen ein allgemeines Publikum ansprechen. Manchmal sind es Filme für die ganze Familie oder einfach für ein Durchschnittspublikum, das gewöhnliche Unterhaltung sucht. Der Begriff Kult hingegen wird verwendet, wenn eine Dif­ferenz zu diesem Allgemeinen hergestellt werden soll.4 Er bezeichnet das Spe­zielle, Andere, von der Normkultur Abweichende. In Hollywood-Massstäben gedacht, sind das jene Filme, die nicht als Blockbuster konzipiert und produ­ziert wurden, oft auch Filme, die früher im so genannten Independent-Bereich angesiedelt waren, der mittlerweile fast vollständig von den Majors aufgekauft worden ist.5 Zielpublikum des Labels Kult sind die so genannten Adopters. In der Marketingsprache sind Adopters jene Konsumentinnen und Konsumenten, die keine Trends begründen, aber sie als Erste aufnehmen. Sie gelten als kauf­kräftige und konsumwillige Gruppe und werden deshalb speziell umworben. Sie wollen wissen, was gerade in ist und wo es stattfindet, um daran teilzuhaben. Um sich zu informieren, lesen sic Trendmagazine und Lifestyle-Zeitschriften. Die Angst, etwas zu verpassen, ist ja einer der offensichtlichsten Effekte der Popkultur. Wer also ein Ticket zu einem Kultfilm gekauft hat, besitzt ein Stück Zeitgeist und darf sich darauf freuen, bald ein bisschen mehr «dabei» zu sein.

Die Promotion eines filmischen Produktes hat längst die Ausmassc eines gene­ralstabsmässigen Angriffes angenommen. Die Medien haben im totalen Mar­keting eine klar definierte PR-Rolle, die sie auf jeden Fall erfüllen, egal, ob sie positiv oder negativ über den Film berichten. Die einzige Verweigerungsstrate­gie bestünde im Totschweigen eines Produktes. Aber schliesslich werben auch die Medien um ihre Leserinnen und Zuschauer. Von der Unterhaltungsindustrie vorgegebene Start- und Tourneedaten sind Material, das sich gut planbar in das Informationsangebot für Konsumentinnen und Konsumenten fügt. Ausserdem konzentriert sich der Medienmarkt in den ausgehenden Neunzigerjahren in Richtung eines globalen Mediensystems, in dem die Inhalte von elektronischen Medien und traditionellen Printmedien zunehmend verschmelzen. An dieser Entwicklung beteiligen sich auch Film-Majors und Musikgiganten, die zusam­men eine einzige, grosse, globale Unterhaltungsindustrie bilden.6 In diesem System verliert die klare Trennung von Information und Unterhaltung zuneh­mend an Gewicht. Viel eher geht es jetzt im Stil der Popkultur um den Verweis von allem auf jedes. Divergierende Inhalte werden locker verknüpft. So wird beispielsweise ein Anriss für einen Bericht über verlängerte Aufenthaltsfristen für Ausländer, bevor sie sieh um die Einbürgerung bewerben dürfen, mit dem Titel des erfolgreichen Films Schweizermacher überschrieben.7 Ob Politik oder Kultur, beides wird, so behandelt, zu Pop. Diese generelle Popkultura- lisierung erstreckt sich über alle redaktionellen Teile und findet ihren beson­deren Niederschlag in speziell eingerichteten Trend- und Lifestyle-Gefässen sowie im Kulturbund, der sich in dieser Hinsicht geradezu anzubieten scheint. Auf dieser Ebene lässt sich alles gleichzeitig als Berichterstattung über und Werbung für etwas begreifen - der definitive Siegeszug der Popkultur. Von Kult wird darin deshalb so gerne geschrieben und gesprochen, weil man in derselben Familie gross geworden ist und weil gerade die Illusion des Unentdeckten und ausserhalb Stehenden ein grundlegender Bestandteil dieses alles umfassenden Systems ist. Wenn wir also über Kult reden, werden wir dieses Sowohl-als- auch, das «wahr&falsch», das «authentisch&künstlich» nicht mehr los.

Fanproduction

Es gibt sie tatsächlich: Fans, die wie Angehörige eines eigenen Stamms ihrem Kult frönen, ohne dass eine allgemeine Öffentlichkeit von ihrem Treiben weiss. Rainer Winter zitiert in seiner Studie mit dem Titel «Der produktive Zu­schauer» ein ethnografisches Dokument, in dem ein Treffen der Anhängerinnen von Horror- und Splattermovies beschrieben wird: das Festival des fantasti­schen Films 1989 in Paris. Der Ethnograf erfährt den Vorführsaal als eine Arena, in der die Jugendlichen miteinander spielen, sie «verfolgen und balgen sich, brüllen sich gegenseitig an und lachen».8 Dazu läuft aggressive und rhythmus­betonte Musik. Als der Film beginnt, «ist das Gebrüll so laut geworden, dass wir den Ton des Filmes nur bruchstückhaft verstehen können. Als das Phan­tom zum ersten Mal auftritt, ertönen laute <tuez, tuez>-Rufe.» Der Anlass wird für den Ethnografen und seine Begleitung ein unvergessliches Erlebnis.

Sehr oft wird solches Verhalten bei Exploitation- und Horrormovie-Fans entdeckt. Das Label Kult scheint effektiv zu Billigem, Trashigem und exzessiv Gewalttätigem zu gehören. Wer im Internet nach diesem Stichwort sucht, fin­det Artikel über Scream-Queens, B-Movie-Mailing-Lists, den Cult-Movies-Web-Ring oder die Aufforderung zum Abhalten von Bad-Movie-Nights. In allen Fällen handelt es sich um Fangemeinden mit hohem Insiderwissen, die dem etablierten Kino gegenüber eher negativ eingestellt sind. Titel wie 7.ombie! vs. Mardi Gras, Cut up, Curse of the Queerwolf oder Nudist Colony of Dead werden innerhalb dieser Subkultur diskutiert und zum Verkauf angeboten.9

Für einen Major, der sich überlegt, wie er sein neustes Produkt anpreist, sind solche Leute nicht gerade ein attraktives Zielpublikum. Was ihn hingegen interessieren könnte, ist die aktive Haltung, die diese Kultistinnen und Kultis- ten dem Gegenstand ihres Fantums entgegenbringen, und die Produktivität, die sie dabei entfalten. Er versucht ja, die Grenzen zwischen Fiktion und Realität aufzuheben bzw. Aspekte des Fiktionalen in den Alltag der Konsumentinnen und Konsumenten zu transferieren und sie so produktiv zu machen. Ein Bei­spiel für eine gelungene Marketingstrategie beschreibt Ian Conrich anhand der Nightmare on Elm Street-Filme (A Nightmare on Elm Street, Wes Craven, USA 1984; Part 2: Freddy’s Revenge, Jack Sholder, USA 1985; Part y: The Dream Warriors, Chuck Russel, USA 1987; Part 4: The Dream Master, Renny Harlin 1988; Part 5: The Dream Child, Stephen Hopkins, USA 1989; Freddy’s Dead: The Final Nightmare, Rachel Talalay 1991).10 Das Merchandising dazu kon­zentrierte sich ironischerweise auf die Figur des Kinderschlächters Freddy Krueger, der mit seinen coolen Sprüchen und witzigen Auftritten der eigent­liche Star der Reihe ist. Produziert wurden zum Beispiel Krueger-Masken mit Gesichtsverbrennungen oder ein Handschuh mit den charakteristischen Ra­sierklingen an Stelle der Fingernägel. Beides wurde ein Verkaufsrenner bei Kin­dern, die in Freddy Krueger offensichtlich eine positive Identifikationsfigur sahen. Ein anderes Beispiel für die Überschneidung von Konsumrealität und Fiktion ist das US-amerikanische Release des vierten Star Wars-Filmes Episode 1: The Phantom Menace (George Lucas, USA 1999). Die Premiere wurde zum Ereignis, das den Film selbst um Meilen überrundete. Um eine Karte dafür zu ergattern, standen die Zuschauerinnen gerne stundenlang an. «Aber das wahre intergalaktische Spektakel findet natürlich draussen in den Spielwarenläden statt. Bei «Toys R Us>, der preiswertesten Adresse von NYC, sind die Episode 1-Basic-Figuren seit Tagen ausverkauft», schrieb ein Kultteilnehmer und Jour­nalist, der es bis in den Kinosaal geschafft hatte.11 Und weiter: «Statuen von Darth Maul, Queen Amidala und Battle. Droids in Lebensgrösse, Pit Droids als T-Shirt-Ständer. Naboo-Fighter und Pod Racer baumeln fett wie Wookies von der Decke. Der Episode / -Trailer plärrt pausenlos von der sternezerstörergros­sen Videowand. Kleine Japaner mit Darth-Maul-Doppelklingen dreschen auf ihre noch kleineren Schwestern mit läppischen Jedi-Schwertern ein! Verängs­tigte Eltern! Überlastete Verkäufer! Wild knipsende Touristen! 1999, das Jahr, in dem Star Wars brach.»

Das Drama, das im Rahmen eines gelungenen Marketings stattfindet, über­trifft mittlerweile jenes auf der Leinwand. Im Fall von Star Wars ist den Lucas-Film-Enterprises etwas Begehrtes gelungen: die Produktion von Fans, die be­reit sind, ihrem Kult viel Geld, Zeit und Ideen zu opfern - und das nicht beschränkt auf eine kleine Gruppierung skurriler Freaks, sondern als ein Mas­senphänomen. Der so «hergestellte» Fan fügt sich für den Major lückenlos in das Konsumnetz, das rund um ein filmisches Produkt gesponnen wird. Und, was den Major noch mehr freuen dürfte: Er wird sogar produktiv. Er kauft sich zum Beispiel ein T-Shirt, um sich als Fan zu markieren und wird dadurch auto­matisch Werbeträger für den Film. Damit stehen die beiden Produkte auf glei­cher Ebene: Der Film bewirbt das T-Shirt und das T-Shirt den Film. Der Perpetuum-Mobile-Effekt erzeugt einen Mehrwert, der eigentlich nach dem ersten Anstoss keine Investition mehr benötigt - das kommt einem urkapitalistischen Traum gleich. Majors müssen sich demnach fragen, wie sie am besten Vorgehen, um Fans zu produzieren.

Werfen wir einen Blick auf jene Filme, die für eine grosse Öffentlichkeit produziert wurden, sich aber an der Fanhaltung kleiner Gruppen orientieren. Slasher-Filme haben in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre ihren Weg in den Mainstream gefunden. Die Sommer-Hits von 1996 bis 1999 hiessen unter ande­rem I Know What You Did Last Summer (Jim Gillespie, USA 1997) und I Still Know What You Did Last Summer (Danny Cannon, USA 1998), Scream und Scream 2 (Wes Craven, USA 1997) oder The Faculty (Robert Rodriguez, USA 1998). Diese Filme, die an der Kasse immerhin so erfolgreich waren, dass es sich lohnte, das Prinzip mit weiteren Titeln zu wiederholen - in Produktion sind 1999 I Know What You Did Last Summer 3 (Regie und Produktionsdaten offen), Scream 3 (Wes Craven, USA 1999) und Scream If You Know What I Did Last Halloween (Keenen Ivory Wayans, USA 1999) -, haben mit den ur­sprünglichen Slasher-Movies nicht mehr viel gemein. Es handelt sich in allen Fällen um Produkte, die direkt auf den Mainstream zugeschnitten wurden - und als ganzes Genre das Label Kult erhalten haben - und die sowohl inhalt­lich wie auch ästhetisch dem Mainstream um einiges näher sind als den kruden Vorlagen. Als Produkte der Popkultur platzieren sie sich im selben intertextuellen Zeichennetz. Sie machen Referenzen auf andere Produkte der Popkultur, auf TV-Sendungen, auf Commercials und Musik und aufs Kino. Gleichzeitig werden in ihnen gezielt andere Slasher-Movies zitiert. Intertextualität als dra­maturgische Strategie wurde mit Tarantinos Pulp Fiction definitiv im kollek­tiven Bewusstsein verankert und ist seither für den amerikanischen Film ein unumgängliches Stilmittel. (Dies gilt übrigens für den Kultfilm schon seit jeher. Bereits The Rocky Horror Picture Show klotzte im Eingangssong «Science Fic­tion/Double Feature» mit Bezügen zu B-Movies, von The Day the Earth Stood Still [Robert Wise, USA 1951] über Flash Gordon [Frederich Stephani, USA 1936] bis zu It Came From Outer Space [Jack Arnold, USA 1953].) Die modernen Produkte sind zudem hochgradig selbstreferenziell. So stellt eine Hauptdarstellerin in The Faculty die These auf, dass Aliens nicht erst seit kur­zem auf der Erde sind, sondern die Invasion schon von langer Hand geplant und vorbereitet haben, und zwar genau mit Filmen wie The Faculty, damit die Leute nicht mehr daran glauben, wenn die Aliens wirklich zuschlagen.

Von den Fans wird erwartet, dass sie solche Referenzen und Bezüge er­kennen und würdigen. Man liefert ihnen die Codes, die sic für ihren Diskurs brauchen, und bietet ihnen das Zeichennetz, in dem sie ihr Fantum ansiedeln können. Im für den Major besten Fall wird das Angebot von den Fans akzep­tiert; ein Kult wird aufgebaut. Im nicht so gelungenen - aber keineswegs fehl­geschlagenen - Fall mäkeln die Fans an den Produkten herum: «It’s like liste­ning to the radio - nothing new, just samples of former hits», schreibt ein User auf der imdb-site zu The Faculty.12 Aber solange sich die Fans über einen Film streiten, geht das Konzept für den Major immer noch auf.

Future Fan

Je mehr sich die Marketingplanung verdichtet und je mehr ihre Produkte auf dem Markt sind, desto grösser wird die Sehnsucht nach dem Unplanbaren. Nur so lässt sich meiner Ansicht nach begründen, warum der Kultbegriff zurzeit so stark ist, und zwar sowohl als Label als auch als Legende. In einem hochgradig reflexiven Diskurs, an dem Produktion und Konsumentinnen teilnehmen, hat das Label Kult - und damit das Zufällige - die paradoxe Hauptrolle. Tatsäch­lich enthält die Legende vom Kultfilm sämtliche Bestandteile der Legende vom Kapitalismus. Denn einen echten, das heisst nicht geplanten Kultfilm produ­ziert zu haben, kommt einem Lottogewinn gleich: geringe Investition, immen­ser pekuniärer Ertrag und unermessliche Image-Akkumulation. Ein bereits legendäres Beispiel dafür ist die Produktionsgeschichte von The Blair Witch Project (Daniel Myrick / Eduardo Sanchez, USA 1999), die ein Budget von nur 35000 Dollar und nach vier Wochen Laufzeit schon ein Einspielergebnis von 80 Millionen Dollar auflistet.13 Solche Fälle sind allerdings sehr selten. Viel öfter bringt etwas trotz immensem Aufwand und guter PR nicht die erwarte­ten Zuschauerzahlen. Hollywood kann auf eine schmerzliche Geschichte von Flops zurückblicken - Kino ist und bleibt ein Risikogeschäft. So klingt es wie eine Reminiszenz an kapitalistische Grundbedingungen, wenn man vom Pub­likum spricht, das in seiner Launenhaftigkeit eine Art letzten, aber entschei­denden Prüfstein darstellt. Ganz unvermutet kann es seine Gunst einem kleinen Produkt zuwenden und den Produzenten vom Tellerwäscher zum Millionär machen. Umgekehrt kann es eine Riesenkiste mit allem Drum und Dran un­erklärlicherweise durchfallen lassen. «Kultfilme werden gemacht, aber nicht von den Produzenten, sondern von den Konsumenten. Kultfilme sind Kassen­erfolge, aber nicht alle Kassenerfolge werden Kultfilme. Viele Kultfilme haben im Nachhinein eine Aufwertung zum Klassiker erfahren, andere stossen nach wie vor bei der offiziellen Filmkritik auf Ablehnung», steht auf dem Klappen­text von 1000 Kultfilme auf Video.14 Das erinnert an die Mythen, die an der Börse herumgeistern. Das kapitalistische Motto lautet: Spiele und gewinne! Und so produziert man paradoxerweise Filme mit dem Label Kult, um die Legende Kult zu meistern.

Wie aber gehen die Fans damit um? Schliesslich müssen sie die strategisch auf sie zugeschnittenen Produkte konsumieren. Überraschungen sind keine mehr zu erwarten. Und es gibt viele Stimmen, die deshalb den Untergang des echten Kultisten betrauern, dem mit dem Aufkommen des Videos sozusagen die Grundlage für sein in einem sozialen Rahmen ausgclebtes Fantum entzogen wurde.15 Es gibt aber auch Stimmen, die gerade im verbesserten Zugang, den das VHS-System zu vielen Filmen bietet, die vielleicht nie ins Kino kommen, die ideale Grundlage für ein richtiges Fantum sehen. Es scheint mir nicht zufäl­lig, dass die beiden Autoren des 1998 neu aufgelegten Heyne-Kultfilm-Bandes lediglich ioo Titel auflisten, während Jean Lüdeke im selben Verlag für seinen Band Kultfilme auf Video deren 1000 ausfindig macht. Der Unterschied in der Einschätzung stammt mit Sicherheit aus dem Widerspruch zwischen einem intellektuellen und einem populärkulturellen Zugang. Der zweite setzt auf Trivialität und Wiederholbarkeit und ist näher bei den Konsumentinnen und Konsumenten, während der erste in alter Manier nach dem Herausragenden sucht. Intellektuelle Distinktion wirkt aber unter den heutigen Bedingungen einer beinahe weltweit verbreiteten, allgemeinen Popkultur, in der die Distink­tion unterschiedlicher Fangemcinden herrscht, beinahe lächerlich.

Wo alles immer nur das eine ist, kommt es eigentlich nicht mehr so sehr darauf an, wofür man Fan ist. Ich behaupte, dass das Fantum frei wählbar ist. Ob TV- Serie oder Kinofilm, spielt keine Rolle. Sämtliche Produkte, die sich im pop­kulturellen Kontext ansiedeln und das Referenzsystem Pop bedienen, eignen sich dazu. Denn zentral am Fantum ist nicht mehr der Inhalt, über den man sich identifiziert, sondern die Haltung an und für sich. Fanpositionen entstehen etwa nach folgendem Rezept: Nehmen wir eine beliebige TV-Serie, auf die wir vielleicht durch die Medien (!) aufmerksam geworden sind, und setzen uns zu regelmässigen Zeiten vor den Bildschirm. Schauen wir uns Folge um Folge an und spüren, wie wir bald schon Spezialistinnen werden. Erkennen wir das Ein­zigartige, die innere Gesetzmässigkeit der Serie, beginnen wir, sie zu formu­lieren, und schon sind wir Fans. Jetzt können wir zum Beispiel ein Buch her­ausgeben und anderen potenziellen Fans unser Wissen kommunizieren. So (angeblich) geschehen bei Christian Lukas und Sascha Westphal, die zur US- amerikanischen TV-Serie Buffy - the Vampire Slayer (deutscher Titel: Buffy - im Bann der Dämonen, Regie div., Produzent: Joss Whedon, USA 1997 -) ein Fanbuch geschrieben haben. Der Klappentext beschreibt dessen Inhalt folgen­dermassen: «Dieses inoffizielle Buch von Fans für Fans erlaubt endlich einen Blick hinter die Kulissen des TV-Phänomens mit ausführlichen Episoden- Guides, Starinfos, witzigem Insidcrwissen und spektakulären Hintergrund­berichten aus der Welt des Ungewissen.»16 Die Einführung trägt den Untertitel «Das Erfolgsmärchen einer Mystery-Serie». Die beiden Autoren ziehen darin den Schluss, dass das «Einzigartige» an der Buffy-Serie ihre Genre-Ambivalenz und die Dialoge sind: nie ironisch gebrochen, aber immer voller popkultureller Referenzen. Voilà, damit benehmen sich Lukas und Westphal wie zwei muster­gültig «produzierte» Fans. Sic erkennen das offensichtliche Prinzip. Aber an­statt enttäuscht zu sein, weil diese Offensichtlichkeit eine Beleidigung für die eigene Intelligenz darstellt, begeben sie sich vielmehr mit offenen Augen in dieses PR-Geflecht, das aus allem, aus Fans, Film, Video, Presse, Internet usw., einen dichten, nicht mehr entwirrbaren Bedeutungsteppich macht. Lukas und Westphal erzählen «Hintergründe» und befragen gleichzeitig deren Wahrheits­gehalt, wohlwissend, dass diese Hintergründe auch PR-Gags sind. Sie produ­zieren mit ihrem Buch selbst einen PR-Artikel und freuen sich darüber, dass Buffy dem kleinen Fernsehsender WB Network so viel Geld gebracht hat. Kurz: Sie stehen dazwischen und schlagen sich weder auf die eine noch die andere Seite.17 Sie gehen davon aus, dass Fans heute nicht mehr zwischen den PR-Effekten und der «Wahrheit» - des Fantums zum Beispiel - unterscheiden. Das Kommerzielle daran ist allen bewusst - man tritt dem Klub bei, um exakt daran zu partizipieren. Fürs Fantum braucht es lediglich noch die Codes, aber keine Echtheit mehr. Fröhlich pflegt man die Teile der Kultlegende - die Buffy- Darstellerin Sarah Michelle Gellar ist der grösste weibliche Star in der Ge­schichte des TVs, unzählige Fanpages haben ihren Ruhm in die ganze Welt ge­tragen und damit den Erfolg herbeigeführt; die Serie ist ein neuartiges, nie da gewesenes Phänomen usw. - und bastelt am eigenen Fantum. Die Lust daran entsteht offensichtlich gerade inmitten von Kodierungen, die das fiktionale Produkt beinahe überhäufen, bis cs nicht mehr sichtbar ist. Jeder einzelne neue Text, der dazu entsteht, wird mit Freuden begrüsst und in den Kanon aufge­nommen, seien es Gerüchte um Spin-off-Serien, Pressematerial, Videokassetten oder User-Kritiken. Gemeinsam webt man am grossen Bedeutungsteppich; die Teilnahme an und für sich ist der Inhalt geworden.

Damit haben Fans zweifellos übernommen, was ihnen durch das Marke­ting der Majors in den letzten zehn Jahren nahe gelegt worden ist: aktiv zu sein, ohne damit etwas zu meinen. Allerdings glaube ich, dass das kein Verlust ist. Denn seien wir ehrlich: Wer glaubt heute wirklich noch an etwas unfassbar Neues, Einzig- und Andersartiges, wie es die Kultfilmlegende suggeriert. Es geht längst nicht mehr um das Neue, sondern um das Eigene; und die Tatsache, dass alle Beteiligten darüber informiert sind, enthebt uns vom Anspruch der intellektuellen Begründung von Kult und erlaubt uns, selbst irgendeine absurde Fanhaltung zu erfinden, ln diesem Sinne wünsche ich allen ihren Kult!

1 The Rocky Horror Picture Show, Jim Sharman, USA 1975. Diese Version der Legende wurde aus verschiedenen Quellen zusammen­gesetzt: aus dem Heyne-Kultfilme-Band, Ro­nald M. Hahn / Volker Jansen, Kultfilme: Von "Metropolis» bis «Rocky Horror Picture Show», München 1985. Darin wird ein Interview von Jonathan Rosenbaum mit Rocky-Kultisten in Sight and Sound zitiert, und schliesslich habe ich selbst noch meine Teile dazu beigetragen.

Stefan Hammond / Mike Wilkins, Sex und Zen und eine Kugel in den Kopf: Der Hong­kong-Film, München 1999.

Vgl. Paul Watson, «Theres No Accoun­ting for Taste», in: Deborah Cartnell I I.Q. Hunter I Heidi Kaye / Imelda Whclcdon (Hgg.), Trash, Popular Culture and its Audi­ence, London/Chicago 1997, S. 66-83.

Vgl. Franz Derendinger, «Kuh heute - die Metamorphose der Aura», in: Zoom 8 (1998), S. 21-27.

Vgl. Jen Haas / Lilian Räber, «Alle Filme lügen, Interview mit Todd Haynes», in: WoZ (3. 12. 1998).

Eine Auflistung der Besitzverhältnisse und gegenseitigen Beteiligungen bis ins Jahr 1997 findet sich in Edward S. Herman / Robert W. McChesney, The Global Media: The New Missionaries of Corporate Capitalism, London 1997­

Im Zürcher Tages-Anzeiger vom 25. 6. 1999.

Rainer Winter, Der produktive Zuschauer: Medienaneignung als kultureller und ästheti­scher Prozess, München 1995, S. 148.

Die Titel sind beliebig ausgewählt und ohne genauere Angaben aufgelistet. Vgl. www. rcel.progress.com

Ian Conrich, «Seducing the Subject, Fred­dy Krueger, Popular Culture and the Night­mare on Elm Street Films», in: Cartnell / Hun­ter/Kaye/Wheledon (Hgg.) (wie Anm. 3), S. 118/119.

Mark Sikora, «Szenenapplaus und Gänse­haut. Ein Erlebnisbericht aus New York vom Ereignis der Stunde: Die Star Whrs-Prcmiere», in: Spex 7 (1999), S. 48.

Vgl.www.imdb.com

Vgl. NZZ 192 (20. 8. 1999).

Jean Lüdcke, 1000 Kultfilme auf Video, München 1994.

Vgl. Hahn /Jansen (wie Anm. 1), S. 645.

Christian Lukas / Sascha Westphal, Buffy - Im Bann der Dämonen: Das inoffizielle Fan­buch über die neue Kultserie und ihre Hinter­gründe, München 1999.

John Fiske nennt das die «Kultur der Schnittstelle», die von den grundlegend skepti­schen Fans beinahe automatisch eingenommen wird. Vgl. John Fiske, «Elvis: Body of Know­ledge», in: montage/av 2/1 (1993), S. 47.

Lilian Räber
geb. 1967, ist Historikerin und arbeitet als freie Filmjournalistin - vorwiegend für die WochenZeitung, lebt in Zürich.
(Stand: 2019)
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