THOMAS CHRISTEN

DIE UNIVERSITÄT ZÜRICH UND DIE FILMWISSENSCHAFT — EINE LANGE GESCHICHTE

CH-FENSTER

Seit über dreizehn Jahren gibt es das Fach Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Die erste Ordinaria Christine N. Brinckmann, die im Herbst 2002 eme­ritiert wurde, hinterlässt einen sorgfältig und schrittweise ausgebauten Lehr­bereich, eine gut ausgestattete, funktionierende Infrastruktur und - grosses Interesse: Über 350 Studierende belegen Filmwissenschaft als Nebenfach; seit 1989 sind rund sechzig Lizenziatsarbeiten und sechs Dissertationen entstanden. Bis es so weit war und Filmwissenschaft an der Universität Zürich studiert wer­den konnte, gab es eine lange Vorgeschichte, die mindestens bis ins Jahr 1959 zurückreicht. Sie ist gezeichnet von vielen Initiativen unterschiedlicher Per­sönlichkeiten, von gesellschaftlichen und universitätspolitischen Spannungsfel­dern, von frühen Visionen und blankem Unverständnis. Diese Geschichte soll hier, soweit sie in mehrjährigen, «en passant» ausgeführten Nachforschungen rekonstruiert werden konnte, dargestellt werden.

Die zuletzt erfolgreiche Etablierung des Fachs Filmwissenschaft kann nicht als Folge jahrzehntelanger und stetiger Bemühung gesehen werden. Sie resul­tierte eher aus dem (glücklichen) Zusammentreffen isolierter Faktoren - wobei die Möglichkeit, 1989 Filmwissenschaft gegen das bereits vorhandene, aber nicht weitergeführte Fach der Literaturkritik einfach auszutauschen, eine wich­tige Rolle gespielt haben dürfte. Ausserdem sah die zuständige Fakultät Ende der Achtzigerjahre durchaus ein, dass ein Fach wie Filmwissenschaft notwen­dig war. Dennoch - oder gerade deswegen - lohnt es sich, die weitgehend un­bekannte und mit dem Tod der wichtigsten Protagonisten auch in Vergessenheit geratene Vorgeschichte dieser Institutionalisierung zu beleuchten. Sie ist im Gegensatz zur letzten Phase, die schliesslich zur Etablierung des Fachs führte, geprägt vom Aufeinanderprallen verschiedener Vorstellungen. Damals - Mitte der Sechzigerjahre - hätte die Universität Zürich im deutschsprachigen Raum durchaus eine Pionierrolle einnehmen können, und eigentlich wären dafür ver­schiedene Faktoren äusserst günstig gewesen. Es geht im Folgenden darum, nicht nur diese Faktoren zu benennen, sondern auch mögliche Gründe für das Scheitern der Institutionalisierung einer Zürcher Filmwissenschaft zwischen dem Ende der Fünfzigerjahre und den Siebzigerjahren nachzuzeichnen.

Frühe Konturen eines Fachgebiets

Die Motion Nr. 966 des Kantonsrats Karl Hackhofer, die vom Rat am 2. Feb­ruar 1959 überwiesen wurde, war kurz gehalten, aber die Zielrichtung unmiss­verständlich: «Die Regierung wird [...] eingeladen, die geeigneten Schritte zu unternehmen zur Aufnahme der Filmwissenschaft in den Lehrplan unserer Universität.» Einleitend begründete Hackhofer seine Forderung mit der gesell­schaftlichen Bedeutung und dem Einfluss des Films: Beide liessen eine akade­mische Beschäftigung und Auseinandersetzung wünschbar erscheinen. Und zwar in einem eigens etablierten Fach, das sich ausschliesslich um den Film kümmere, denn eine Zersplitterung des Forschungsgegenstands in verschie­dene andere Fachbereiche sei unbefriedigend.

Konkreter wurde Hackhofer, der sich in der katholischen Filmarbeit enga­gierte, in einem Aufsatz mit dem Titel «Die Wünschbarkeit eines filmwissen­schaftlichen Studiums», der im Branchenblatt Schweizer Film Suisse vom April 1959 erschien. Er entwickelte an dieser Stelle ein bemerkenswert klares und weitsichtiges Konzept, das genaue Vorstellungen der wissenschaftlichen Teilbereiche des Fachs enthielt. Hackhofer erkannte zwar an, dass auch andere Disziplinen sich mit dem Film beschäftigten, doch nur ein eigenständiges Fach vermöge spezifisch filmologische Betrachtungsweisen hervorzubringen und damit den Gegenstand von der Peripherie ins Zentrum zu rücken. Obwohl der Autor ein weites Spektrum der zukünftigen Wissenschaft entwarf, favorisierte er eine geisteswissenschaftliche Ausrichtung. «Filmästhetik, Filmgrammatik, Filmstilistik» und «Filmgeschichte» seien als Kern des Faches zu betrachten und bedürften spezifischer Lehrkräfte, die erst noch ausgebildet werden müss­ten. Demgegenüber könnten die Teilbereiche Filmpsychologie, Filmrecht, Filmwirtschaft, Filmpolitik und Filmtechnik durchaus in Kooperation mit anderen Fachgebieten abgedeckt werden.

Was Hackhofer als Kern des Faches bezeichnete, die Teilbereiche Film­ästhetik, Filmgrammatik, Filmstilistik und Filmgeschichte, deckt sich exakt mit der Definition, wie sie heute an der Universität Zürich gepflegt wird, auch wenn die Bereiche heute Filmanalyse, Filmgeschichte und Filmtheorie genannt werden. Zudem gibt es eine weitere bemerkenswerte Übereinstimmung zwi­schen damaliger Vorstellung und heutiger Realisation: Auch in dieser frühen Konzeption von 1959 stand die Ausrichtung von «Film als Kunst» im Zentrum - gerade sie liefere die Legitimität für eine eigenständige Disziplin.

Wer sollte das neue Fach studieren? Auch mit dieser Frage beschäftigte sich Hackhofer pragmatisch. Er entwickelte ein Dreistufenmodell, in dem die Adressaten genannt waren: 1. Lehrveranstaltungen zur Allgemeinbildung aller Studierenden (wodurch die Möglichkeit entstand, Defizite der Schulausbildung zu kompensieren). 2. Spezifische Ausbildung für künftige Lehrer, Psychologen und Pädagogen (Filmpädagogik). 3. Ein eigenes Studienfach, das «eine intel­lektuelle Elite für Film, Fernsehen, Presse, Radio usw. auf den Beruf vorberei­ten könnte».

Versuche zur Legitimierung der Filmwissenschaft

Hackhofer konnte nicht ahnen, dass sich die Regierung zur Behandlung seines Vorstosses sechs Jahre Zeit lassen und dass erst dreissig Jahre später ein Lehr­stuhl für Filmwissenschaft an der Universität Zürich eingerichtet würde. Gleichwohl dürfte er sich darüber im Klaren gewesen sein, dass ein politischer Vorstoss allein nicht genügte, um das Ziel zu erreichen.

Hackhofer holte sich deshalb Schützenhilfe, 1960 erfolgte die Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für Filmwissenschaft und Filmrecht. Sie be­stand aus zwei Abteilungen, einer juristischen und einer filmologischen, und wurde von ihm selber präsidiert. Die Leitung der filmologischen Abteilung - die Namensgebung verrät eine Beeinflussung durch die gleichnamige französi­sche Bewegung der Nachkriegszeit - übernahm Martin Schlappner. Die Liste der Gründungsmitglieder liest sich wie ein Who’s who Schweizer Exponenten von Filmkultur im weitesten Sinne, darunter Hubert Aepli, damaliger Kanzler der Universität Freiburg, der bereits ab 1956 einen wesentlichen Beitrag zur Etablierung von Kursen über Film an dieser Hochschule leistete; Pater Stefan Baumberger, Leiter des katholischen Filmbüros und Redaktor der Zeitschrift Der Filmberater; Donald Brinkmann, Professor für Psychologie an der Uni­versität Zürich, der in den Sechzigerjahren sporadisch Lehrveranstaltungen zur Filmpsychologie und -Wirkungsforschung durchführte (der einzige Ver­treter der Zürcher Universität, der jedoch bereits 1963 starb und deshalb in den entscheidenden Jahren der universitären Auseinandersetzung mit der Film­wissenschaft keinen Einfluss nehmen konnte); Freddy Buache, Leiter der Cinémathèque Suisse in Lausanne; der Filmpädagoge Hans Chresta von der Arbeitsgemeinschaft Jugend und Film; Hugo Mauerhofer, Chef der Sektion Filmwesen des Eidgenössischen Departements des Innern, sowie Willy Rotz­ier, Konservator des Kunstgewerbemuseums Zürich, das im gleichen Jahr die einflussreiche Ausstellung «Der Film» durchführte. Diese Ausstellung gab auch den Anstoss zur Gründung der Gesellschaft.

Die Ziele der Gesellschaft lagen im Wesentlichen auf drei Ebenen. Zum einen wollte sie ein Netz- und Koordinationswerk aller am Film interessierten Kreise bilden und dazu auch Vertreter der Film- und Kinowirtschaft einbezie­hen. Zweitens engagierte sich die rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Abteilung unter der Leitung von Mario M. Pedrazzini, dem späteren Ordina­rius für Privat- und Handelsrecht an der Hochschule St. Gallen, in Fragen des Urheberrechts und der Filmgesetzgebung. Ein drittes Ziel bestand darin, die mit wissenschaftlicher Methodik betriebenen filmkundlichen und filmrecht­lichen Forschungen in der Schweiz zu koordinieren. Als besonders vordring­liche Aufgaben nannten die Statuten, die in der Zeitschrift Schweizer Film Suisse I vom 20. Januar 1960 publiziert wurden, die Einführung filmwissen­schaftlicher Vorlesungen und Seminarien an den Hochschulen und die Förde­rung des Filmunterrichts auf den dafür geeigneten Schulstufen.

Welchen Einfluss die Gesellschaft ausübte und welchen Umfang ihre Akti­vitäten bezüglich der Etablierung der Filmwissenschaft einnahmen, ist aus heu­tiger Sicht schwer abzuschätzen. Bekannt ist etwa die Durchführung einer Tagung unter dem Titel «Film und Fernsehen, Probleme der Gestaltung und Erziehung» im April 1962 in Zürich. Ein Unternehmen, das ebenfalls darauf abzielte, der «sehr komplexen und noch keineswegs gefestigten Wissenschaft», wie es im Bericht des Regierungsrates des Kantons Zürich vom 1. Juli 1965 hiess, zu mehr Ansehen und Prestige zu verhelfen, war die Lancierung der Schriftenreihe der Schweizerischen Gesellschaft für Filmwissenschaft und Filmrecht. Deren Bände erschienen seit 1963 in verschiedenen schweizerischen Verlagen. Den Anfang machte die von Hanspeter Manz herausgegebene Inter­nationale Filmbibliographie, die eindrucksvoll bewies, dass Film nicht nur ein Freizeitvergnügen, sondern ein ernst zu nehmender Gegenstand intellektueller Auseinandersetzung geworden war - auch wenn dies noch nicht bis in die Sphären der Geisteswissenschaften in der Schweiz gedrungen war.

Die Versuche, Filmwissenschaft an der Universität Zürich zu institutiona­lisieren, schlugen in den Sechzigerjahren fehl. Sie orientierten sich zu stark an externen Faktoren, und es gelang nicht, die etablierten Hochschulfächer einzu­binden oder auch nur dafür zu interessieren. Mit Ausnahme des zu früh ver­storbenen Psychologieprofessors Donald Brinkmann gab es niemanden in der zuständigen Philosophischen Fakultät I, der gegenüber dem neuen Wissen­schaftsbereich Interesse bekundete.

Eklat

Allerdings zeigte die drohende politische Debatte im Zürcher Kantonsrat zur Motion Hackhofer dennoch Wirkung. Sechs Jahre nach Hackhofers Vorstoss lag 1965 der Bericht des Regierungsrates über die Einführung der Filmwissen­schaft an der Universität Zürich endlich auf dem Tisch. Damit war die Univer­sität gefordert.

Bereits im Sommer 1964 hatte die Fakultät auf Initiative ihres damaligen Dekans Wehrli beschlossen, Lehraufträge in den Gebieten Geschichte, Ästhetik, Soziologie und Pädagogik des Films zu erteilen. Das führte dazu, dass im Sommersemester 1965 der Filmpublizist und Buchhändler Hanspeter Manz über «30 Jahre deutscher Film» las. Die Vorlesung wurde von einem Film­zyklus im Vortragssaal des Kunstgewerbemuseums begleitet und stellte Werke aus der Zeit des Weimarer Kinos sowie des Nationalsozialismus vor. Bevor Hanspeter Manz seinen Lehrauftrag durchführte, war für das Wintersemester 1964/65 bereits Martin Schlappner als Dozent vorgesehen gewesen. Schlappner, promovierter Germanist mit einer Dissertation über Thomas Mann und Frankreich, befasste sich als langjähriger Redaktor bei der Neuen Zürcher Zei­tung mit dem Spezialgebiet Film und Fernsehen und war Verfasser mehrerer Filmbücher. Er hatte zunächst akzeptiert, gab aber später den Lehrauftrag wieder zurück. Dabei dürfte der Umstand, dass Dekan Wehrli mit Hanspeter Manz vorgängig einen Nichtakademiker verpflichtet hatte, nur ein Grund für Schlappners Rückzieher gewesen sein. Wesentlicher war wohl, wie er in seinem Artikel «Die Zürcher Universität und die Filmwissenschaft» in der Neuen Zür­cher Zeitung vom 19. August 1965 formulierte, dass die zuständige Fakultät kein eigenständiges akademisches Fach Filmwissenschaft haben wollte - was sich übrigens auch in universitätsinternen Stellungnahmen und Vernehmlas­sungen zeigt. Weiter kritisierte Schlappner nicht nur das allmähliche, zögerliche und häppchenweise Herantasten an den Film als wissenschaftliche Disziplin, sondern auch das fehlende Konzept, wie eine solche auszusehen hätte. Aller­dings stellt sich die Frage, wie die Universität zu einem Konzept hätte kommen sollen, wenn neben dem Interesse auch die Fachkompetenz fehlte.

Schlappners Artikel zeichnet nicht nur ein Momentbild der Institutiona­lisierungsgeschichte eines Fachbereichs, sondern zeugt von der persönlichen Betroffenheit des involvierten Filmkritikers und Redaktors. Er ahnte offen­sichtlich, dass wohl noch viel Zeit vergehen würde, bis der Film in der univer­sitären Schweiz - und insbesondere in Zürich - zum Gegenstand von Lehre und Forschung in einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin werden würde. Schlappners ungutes Gefühl sollte sich bewahrheiten: Erst rund 25 Jahre spä­ter, im Wintersemester 1989/90, wurde der erste Lehrstuhl für Filmwissen­schaft zusammen mit einer entsprechenden Infrastruktur eingerichtet.

Kommissionsarbeit

Schlappners angriffiger Artikel zeitigte neben der Replik durch den Dekan in einem Leserbrief in der Neuen Zürcher Zeitung vom 30. August 1965 zwei Fol­gen: Die Fakultät verlor alle Lust, sich mit Film zu beschäftigen, war gekränkt über die Kritik von aussen und liess den Plan fallen, schrittweise das Angebot an filmwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen auszubauen. Erst zu Beginn der Siebzigerjahre sollte es eine Renaissance in der universitären Beschäftigung mit Film geben, und zwar auf Initiative interessierter Fächer wie Sozialpsycho­logie, Publizistikwissenschaft, Ethnologie und Volkskunde. Immerhin führte der regierungsrätliche Bericht zur Motion Hackhofer dazu, dass der Kantons­rat im Winter 1965/66 eine Kommission bildete, die in mehreren Sitzungen zwischen Universität, Erziehungsdirektion und den Initianten einer univer­sitären Filmwissenschaft zu vermitteln versuchte. Der Regierungsrat betonte darin die Autonomie der Universität bezüglich ihrer Lehrgebiete. Die Univer­sität manifestierte erneut ihr Desinteresse an der Filmwissenschaft. Als direkte Folge dieser Kommissionsarbeit wurde eine neue Motion über Filmwissen­schaft und Filmerziehung formuliert. Eingereicht wurde sie am 2. Mai 1966 vom Kommissionsmitglied Kantonsrat Erwin A. Lang, der einleitend festhielt: «Der Film als Träger von Ideen und Mittel künstlerischen Ausdruckes verlangt eine geistige Bewältigung, zu welcher der junge Mensch erzogen werden muss. Dieser Aufgabe kann sich die Schule nicht entziehen.» Um die geforderte Film­pädagogik realisieren zu können, sei es nicht nur nötig, den Film in den Ober­stufenunterricht einzubeziehen, sondern man müsse auch die Möglichkeit schaffen, Lehrer in diesem Gebiet auszubilden. Dazu sei die Einrichtung des Fachs Filmwissenschaft nötig.

Als Reaktion auf diese Motion setzte der Regierungsrat am 20. April 1967 eine Fachkommission ein, die sich mit der Frage der Gestaltung des Filmunter­richts auf allen Stufen beschäftigen und konkrete Vorschläge ausarbeiten sollte. Unter dem Vorsitz des Pfarrers, Erwachsenenbildners und Kantonsrates Paul Frehner gehörten der Kommission Lehrer verschiedener Oberstufen an, dar­unter neben dem Berufsschulinspektor und Filmpädagogen Hans Chresta auch der Geschichtslehrer und Redaktor der Zeitschrift Cinema, Viktor Sidler, so­wie Martin Schlappner, der innerhalb der Kommission die Empfehlungen für die Universität ausarbeitete. Ein Vertreter der Universität fehlte, was einerseits konsequent war, da es dort ja keine Fachleute für Filmwissenschaft gab. Ander­seits konnte es so natürlich nicht gelingen, die Philosophische Fakultät I zu einem Wandel ihrer ablehnenden Haltung zu bringen.

Die Verknüpfung von Filmerziehung und Filmwissenschaft erscheint aus heutiger Sicht konsequent und als mutiger Schritt, das Problem ganzheitlich anzugehen und zu lösen. Allerdings wurde damit das Fuder überladen. In der Folge gab es weder eine Filmerziehung, die diesen Namen verdient hätte, noch eine Filmwissenschaft an der Universität, welche die Grundlagen für eine päda­gogische Auseinandersetzung hätte liefern können. - Eine solche Verknüpfung mit pädagogischen Bestrebungen müsste auch heute noch weitgehend geleistet werden, falls sie überhaupt noch als wünschenswert erscheint.

Das bis Ende 1968 zur Vernehmlassung stehende Konzept unterbreitete Vorschläge zur Filmerziehung an den Schulen. Dabei wurde der Universität eine Schlüsselstellung zugedacht, nämlich die der Ausbildung der Lehrerschaft. Eine solche Ausbildung sei aber ohne entsprechende Forschung nicht sinnvoll, deshalb schlug der Bericht der Expertenkommission die Einrichtung eines Fachgebiets Film innerhalb der Philosophischen Fakultät I vor. Für die Ausbildungs- und die Forschungsaufgabe sei zudem eine entsprechende Infrastruktur notwendig: ein Institut mit einem Leiter, verschiedenen Lehrbeauftragten und Gastdozenten, einer Bibliothek mit wissenschaftlichem Personal sowie Projek­tionsmöglichkeiten für Filme aller Formate und Arbeitsplätze mit Visionierungsmöglichkeiten (Schneidtische).

Die Beschreibung der filmwissenschaftlichen Teilbereiche fiel umfangrei­cher aus als bei Hackhofer zehn Jahre zuvor. Neben dem geisteswissenschaft­lichen Kern, der im Wesentlichen aus Filmgeschichte, Filmtheorie, Filmanalyse und dem Verhältnis von Film zu anderen Künsten bestand, erschien gleich­berechtigt ein sozio-kultureller Bereich, der bezeichnenderweise mit «Me­diumsforschung» überschrieben wurde. Er sollte sich Fragen der Wirkung, der Kommunikation und der Soziologie des Films widmen und verstand Film als Massenmedium. Flier zeigt sich eine deutliche Ausweitung, die im allgemeinen Trend der späten Sechzigerjahre lag. Die Abkehr vom Konzept «Film als Kunst» lieferte der Universität in ihrer Stellungnahme jedoch billige Gegen­argumente - von der Bedrohung ihrer Aufgabe durch Fächer, die nicht eigent­lich in ihren Rahmen gehören, ist die Rede: Man befürchtete gar, dass die Uni­versität ihrem Wesen entfremdet würde. Zudem lieferten die Betonung des massenmedialen Aspekts und die Nähe zu soziologischen Themen ein Ab­grenzungsproblem mit der Publizistikwissenschaft, die dem Film zwar keinen besonderen Stellenwert einräumte und noch stark auf die Printmedien ausge­richtet war, die sich aber besonders für das Fernsehen unter einer massenkom­munikativen Perspektive zu interessieren begann. Weiter war die Infragestel­lung des Lehrstuhlsystems durch die Expertenkommission für den Fachbereich Filmwissenschaft zwar ein mutiges Denkexperiment. Damit aber erschien das neue Fach wenig kompatibel mit anderen Fächer im Rahmen eines Phil.-I-Studiums.

Die Argumente der Universität gegen die Filmwissenschaft zeugten von einigem Unwissen und Vorurteilen. Sie gipfelten in der (falschen) Behauptung, die Fakultät biete bereits kontinuierlich filmwissenschaftliche Lehrveranstal­tungen an. Daran schloss sich die «Feststellung», es sei nicht einfach, «für ein wissenschaftlich noch nicht konsolidiertes und umstrittenes Gebiet geeignete Referenten zu finden» (wofür, wenn es denn so gewesen wäre, vielleicht auch die Haltung der Universität mit ein Grund war). Auch die Verknüpfung mit einer zeitgemässen Lehrerausbildung wurde kaum hergestellt. Zwischen den Zeilen ist zudem zu lesen, dass unter den Studierenden gar kein ausgewiesenes Bedürfnis für Filmwissenschaft bestehe. Diese Meinung sollte sich hartnäckig bis in die Achtzigerjahre halten, als man bei der Einrichtung von Lehrstuhl und Seminar für Filmwissenschaften von Studierendenzahlen ausging, die weit unter den realen lagen.

Die Siebziger- und Achtzigerjahre: auf die lange Bank geschoben

Nach der Vernehmlassung lief auf Universitätsebene zunächst einmal gar nichts. Die Motion Lang wurde schubladisiert. Der Präsident der Experten­kommission, Paul Frehner, doppelte im Zürcher Kantonsrat mit einer weiteren Motion vom 19. Januar 1970 nach. Sie argumentierte ebenfalls mit der gesell­schaftlichen Bedeutung der Massenmedien und betrachtete Filmwissenschaft als eine Art Basiswissenschaft für audiovisuelle Medien, was die Einrichtung dieses spezifischen Fachbereichs rechtfertige. Neben Grundlagenforschung sah Frehner die Hauptaufgabe des Fachs in der Ausbildung von Lehrkräften, denn wer Film und andere audiovisuelle Medien verstehe wolle, müsse dies, ähnlich wie bei Literatur oder Kunst, auch erlernen. Ein am 10. Januar 1972 nach­gereichtes Postulat von Paul Frehner lässt darauf schliessen, dass der Kommis­sionsbericht für Filmerziehung und Filmwissenschaft keine direkten Folgen zeigte. Der Tonfall im Postulat klingt empört: «Der Staat sollte endlich einmal die an ihn gestellten Anforderungen erfüllen. Ich halte es für beschämend, dass ausgerechnet der Kanton Zürich gegenüber den anderen Kantonen derart im Hintertreffen ist.»

Seit Mitte der Siebzigerjahre fanden mehrere Lehrveranstaltungen über Film in verschiedenen Fächern statt. Sie zeigten eindrücklich, dass von einem fehlenden Interesse seitens der Studierenden nicht die Rede sein konnte. Zu er­wähnen sind die beiden Vorlesungen von Martin Schlappner zum Schweizer Film (in Publizistik) sowie die Lehrveranstaltungen von Viktor Sidler über Film und Gesellschaft, Filmrezeption und der mehrteilige filmhistorische Zyk­lus mit Begleitprogrammen (ebenfalls im Fachbereich Publizistik, teilweise auch in Verbindung mit Sozialpsychologie). Aber auch das Fach Ethnologie ist in diesem Zusammenhang zu nennen, das in mehreren Lehrveranstaltungen Film als Mittel ethnografischer Forschung thematisierte. Mit der Projektgruppe «Community-Medien», geleitet von Heinz Nigg, kam es zu Verwicklungen in die Jugendunruhen in Zürich 1980 und zur harten Konfrontation mit der Er­ziehungsdirektion. Ab Wintersemester 1981/82 führte die Abteilung für Geis­tes- und Sozialwissenschaften an der ETH Zürich einen permanenten Lehrauf­trag für Filmkunde, der abwechselnd Veranstaltungen in Theorie und Praxis anbot.

Happyend: Filmwissenschaft wird Studienfach an der Universität Zürich

Bei der Einführung des neuen Fachs betonte der Regierungsrat, dass bislang eine «empfindliche Lücke» im Lehrangebot der Philosophischen Fakultät I existiert habe, die nun geschlossen würde. Die Chance der Neueinführung bot sich an, nachdem die Universität entschieden hatte, Literaturkritik nach der Emeritierung des bisherigen Lehrstuhlinhabers Werner Weber 1987 nicht mehr weiterzuführen. Die Ausschreibung der neuen Professur stellte den Aspekt «Film als Kunst» in den Mittelpunkt und positionierte das zukünftige Fach näher bei den Geistes- als den Sozialwissenschaften - wohl auch in Abgrenzung zur Publizistikwissenschaft. Auf das Wintersemester 1989/90 hin wurde Chris­tine N. Brinckmann, davor an der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität Frankfurt am Main tätig, erste Ordinaria für Filmwissenschaft in Zürich.

Festzuhalten gilt es einen entscheidenden Unterschied zwischen den Be­mühungen Ende der Fünfziger- und in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre, die kein konkretes Resultat zeigten, und denjenigen in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre, die schliesslich reüssierten: In den frühen Versuchen kamen die entscheidenden Anstösse von ausserhalb der Universität, während die Hoch­schule auf einer traditionellen Auffassung von Bildung verharrte. In den Acht­zigerjahren dagegen ergriff die Universität schliesslich selbst die Initiative, da­gegen musste nun eher die Politik von der Notwendigkeit der Filmwissenschaft überzeugt werden.

Dank für Unterstützung und Auskunft: Franz Ulrich, Bernadette Meier, Cinémathèque Suisse - Dokumentationsstelle Zürich, Staatsarchiv des Kantons Zürich, Cinémathèque Suisse, Lausanne, Alex Bänningcr, Hanspeter Manz, Rolf Niederer, Mario M. Pedrazzini, Viktor Sidler, Hanspeter Stalder sowie Philipp Brunner für die kritische Durchsicht.

Thomas Christen
Geb. 1954. Studium der Germanistik, Publizistikwissenschaft, Psychologie und Filmwissenschaft. Dissertation über Das Ende im Spielfilm: vom klassischen Hollywood zu Antonionis offenen Formen (Schüren 2002).

Seit 1997 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Filmwissenschaft. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Art Cinema, europäischer Film, Filmgeschichte, Narratologie, Selbstreflexivität. Forschungsprojekt über «Formen des filmischen Exzesses» (Habilitation), «Martin Schlappner, die Neue Zürcher Zeitung und der neue Schweizerfilm» sowie Projekt der Herausgabe einer mehrbändigen Einführung in die Filmgeschichte.
(Stand: 2021)
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