WALTER RUGGLE

DIE ZEIT IST EINE BLUTWURST — AUSLÄNDISCHE FILME IN DER SCHWEIZ

FILMBRIEF

Lieber Jonas

Wie die Zeit doch vergeht! Eben noch strebten wir dem orwellschen 1984 zu. Im Jahre 2000 bist du 25 geworden, und schon naht dein 30. Geburtstag. Damals, als du das Licht der Projektorenwelt erblickt und euer Familienbild auf der Mauer beim Haus mit Kreide überkritzelt hast, standen die Leute Schlange vor den Kinos in den europäischen Städten, um den Beschluss deiner Zeugung und deine Grossfamilie zu geniessen. Es war eine Zeit kollektiver Träume, Mitte der Siebzigerjahre, es war eine ausgesprochen cinephile Zeit. Man neigt ja mit zunehmendem Alter zu nostalgischen Gefühlen und muss aufpassen, die Vergangenheit nicht zu sehr zu verklären. Ganz schafft man das wohl nicht, auch wenn man bei genauerem Hinsehen im Damals das Dafür und das Dawider ausmachen muss.

«Ist die Zeit eine Blutwurst?», fragt Jacques Denis als Geschichtslehrer seine Klasse im Film, der deinen Namen trägt und nach dem in der Folge manch ein Junge getauft wurde. Denis stand 1975, eine meterlange Blutwurst hoch haltend, vor der Landkarte «Le monde Arabe» im Schulzimmer und wollte von den Schülerinnen und Schülern wissen: «Worin bestehen die Windungen der Zeit?» Die Idee des Fortschritts sei es gewesen, «dass die Eroberer nicht nur Sieger, sondern ausgewählte höhere Wesen waren», die «die Flaschen der niedrigen Kulturen» geöffnet hätten, aus ihnen ihren Durst stillten und die Flaschen dann an der nächsten Wand zerschmetterten.

Schaut man sich im Heute um, so staunt man einmal mehr über das Visionäre im Kino von damals und darüber, wo das Leben und die Geschichte uns hingebracht haben. Aus Orwells Schreckensvision von «Big Brother is watching you» ist ein millionenträchtiges Kommerzunternehmen geworden, das der Volksablenkung dient, während überall stillschweigend die Überwachungskameras in unserem Alltag installiert werden. Die modernen Eroberer scheinen nicht einmal mehr den Durst stillen zu wollen; sie sind sich selber gut genug in der blindwütigen Aufwühlung und Zerstörung von allem Anderen. Selbst mit der Kritik ihres neokolonialistischen Verhaltens verdienen sie Unsummen – oder gäbe es einen Unterhaltungsfilm wie Fahrenheit 9/11 ohne die Politik der Verantwortungslosigkeit? Postman hatte Recht: Wir werden uns zu Tode amüsieren. Wenn kritisches Kino zu sehr Teil der Unterhaltungsindustrie wird, dient es mehr der Ablenkung als der Bewusstseinsbildung. Selbst der Revolutionär Che Guevara wird heute weichgespült, bis nichts mehr von seinen Idealen übrig bleibt und seine Figur leicht konsumierbar runterglitscht wie Caramel-Pudding.

Wenn wir das Kino betrachten, so betrachten wir nichts anderes als einen Spiegel der Welt. Über die Präsenz des ausländischen Kinos in der Schweiz soll ich schreiben, haben mir die Leute vom Jahrbuch CINEMA gesagt (das ja auch schon ins Alter gekommen ist). Aber nicht über jenes Kino, das die Welt mit den oft genug kriegerisch anmutenden Mitteln des Eroberers und Besatzers einnimmt, vielmehr über jenes, das es auch und immer noch gibt, und darüber, womit dieses andere Kino bei uns zu leben hat. Ich habe an dich gedacht, lieber Jonas, und an die kollektiven Träume, die wir mit dir und deinen diversen Eltern geteilt hatten. Du bist ja das Kind einer Grossfamilie und einer Generation, in der man füreinander denken und sorgen wollte – eine Fiktion, ich weiss, aber eine schöne. Das Land, in das hinein du geboren wurdest, hat sich in gewisser Hinsicht geöffnet und gleichzeitig beängstigend stark eingeigelt. Diejenigen, die das Bild seiner nationalen Werte am lauthalsigsten vertreten, arbeiten gleichzeitig mit aller Konsequenz und verbissen an der Beseitigung seiner inneren Werte. Sie bauen beinahe alles ab, was das Land einst ausgezeichnet hat, von der Bildungsqualität über das Gesundheitssystem bis hin zur sozialen Sicherheit, dem humanitären Engagement und eben auch der Kultur. Da sie sich ihrer eigenen Identität offenbar nicht sicher sind, wehren sie sich gegen alles Fremde, jedenfalls dann, wenn es nicht über einen US-Grosskonzern oder ihre eigenen Firmen importiert wird. Und weil ihnen alles Fremde fremd bleiben soll, scheuen sie auch die Berührung mit dem Anderen und verkümmern in ihrem selbstbeschränkten Zustand.

Irgendwann werden sie erwachen und feststellen, dass sie den Lebensraum, den sie verteidigt haben, mit ihrer Abbau- und Entsolidarisierungspolitik so weit aushöhlten, dass er leer geworden ist wie ein kitschiges Landschaftsbild. Ich schreibe dir diese Zeilen von einer Reise aus dem Ausland, das für einen Schweizer oder eine Schweizerin ja fast die ganze Welt abdeckt – was sind schon 41 293 in einem Gesamten von über 510 Millionen Quadratkilometern? Nicht einmal der zehnte Teil eines Promilles oder gerade mal ein 12 353stel. Ich schreibe dir also von irgendwo im grossen Rest der Welt, und ich stelle fest, dass man von aussen noch immer durchaus neidvoll auf Dinge zu Hause blicken kann, die anderswo bereits dem totalen Abbauprozess zum Opfer gefallen sind. Ich frage mich, warum wird das bei uns so wenig wahrgenommen? Warum handelt man bei uns nicht konsequent anders, um dieselbe Entwicklung zu verhindern? Ich könnte nun über die Arbeitsplatzsituation schreiben oder den Umgang mit Schwächeren, ich könnte über Steuerabbau, überdimensionierte Schulklassen reden oder fehlende Solidarität und Einzelkämpfertum. Aber ich will mich aufs Kino beschränken und mit der Situation anderswo vor Augen diejenige zu Hause betrachten.

Wie bei jedem Organismus zeigt sich, dass man im Kleinen sieht, was im Grossen gilt. Das Kino lässt sich austauschen, als Anschauungsmaterial zeigt es, wie die globalisierte Welt strukturiert ist. Als wäre dies eine naturgegebene Sache, sind unsere Kinoprogramme dominiert von US-amerikanischen Produktionen, die mit den Präzisionswaffen der global agierenden Strategen auf uns losgelassen werden. Störung und Zerstörung anderer Kulturen ist da unvermeidlicher «collateral damage». Immerhin existieren noch Alternativen, und zwar weit mehr, als ich sie im westlichen Ausland ausmache. In grossen deutschen oder italienischen Städten müssen die Leute froh sein, wenn sie noch irgendwo weit weg ein Nischenkino haben, das ihnen Filme des Südens oder Ostens zeigt. In den USA selber sind mehr als 96 Prozent der Filme einheimische Ware, und der Blick auf den Rest der Welt bleibt beinahe ausgeklammert, eine elitäre Sache, die an Festivals und Sonderveranstaltungen stattfindet. Wen erstaunt es da noch, dass in diesem Land so wenig Bewusstsein über das Sein und den Wert des Anderen besteht?

Solche Einheitskostversorgung ist ein Zustand, den wir vom alten Ostblock her verabscheuen. Immerhin ist die Vielfalt im Eigenen in den USA bedeutend grösser, erreichen uns via US-Kinomaschine immer wieder grossartige Filme und gibt es eine unabhängige Produktion, die sich sehen lässt und die ich so wenig missen möchte wie das sehenswerte Kino vom grossen Rest der Welt. Manch ein Land hat sich Anfang der Neunzigerjahre gegen diese angedrohte Einheitskost aus Hollywood gewappnet und gesetzliche Massnahmen zum Schutz der Vielfalt ergriffen – mit dem positiven Effekt, dass man die eigene Filmproduktion von Frankreich bis Südkorea sicherte und stärkte und dort ein breites Angebot an Filmen in den Kinos garantiert hat. Vielfalt beflügelt auch das Eigene, erst der Kontakt mit dem Anderen bringt uns weiter. Inzucht führt zu Degeneration.

Angesichts der Situation in anderen Ländern, die kulturell verarmen und deren filmische Vielfalt schwindet, erkennt man auch die Gefahr besser. Ich erinnere mich, wie uns die Niederlassungen von US-Majors versicherten, dass in der Schweiz niemals und unter keinen Umständen mehr als 50 Kopien eines Filmes zum Einsatz kommen würden – du, Jonas, warst damals knapp zehn Jahre alt, und ich war als Filmredaktor an einer Medienorientierung in Biel. Inzwischen donnern dieselben Firmen mit bis zu 140 Kopien auf den Markt, der 512 Leinwände umfasst. Das heisst nicht nur, dass schon bei zwei Grossstarts die Hälfte des einzunehmenden Territoriums besetzt ist, das bedeutet logischerweise, dass sich die Mehrzahl der anderen Filme die übrigen Leinwände aufteilen muss. Und das heisst auch, dass ein Verdrängungskampf von oben (Kommerz) nach unten (Kleinkultur) herrscht und immer weniger qualitativ anspruchsvollere Filme einen Platz finden. Es wird nicht nur ausgegrenzt, was nicht zu rentieren verspricht, es findet immer weniger Platz, was nicht im Paket mit Kassenknüllern zusammen verkauft wird.

In den letzten zwei Jahren hat diese Entwicklung beängstigende Ausmasse angenommen, wobei man paradoxerweise gleichzeitig feststellen muss, dass die Vielfalt im Angebot zugenommen hat. Als 1988 die Stiftung Trigon-Film ihre Arbeit aufnahm und Filme aus dem Süden und dem Osten in die Kinos zu bringen begann, sah man in der Schweiz keinen einzigen Film aus Afrika, keinen Film aus Lateinamerika und höchstens mal eine Kung-Fu-Produktion aus Asien. In der Zwischenzeit hat sich das Angebot ganz klar zum Besseren gewendet, und wir bekommen auf Schweizer Leinwänden Filme aus aller Welt zu sehen. Damals gab es aber auch eine Kontingentierung der Filmeinfuhr, das heisst, eine US-Zweigniederlassung konnte vielleicht 20 oder 25 Titel ihres Konzerns einführen – heute drängen dieselben Firmen mit bis zu 76 Titeln in einem Jahr auf denselben Markt.

Spielt doch keine Rolle, wirst du sagen, am Ende kann ja das Kino bestimmen, was es zeigen möchte. Klar, könnte es, würde man meinen, aber hat es wirklich die freie Wahl? Wenn ein Kino eine gemischte Programmation macht und auf Kassenknüller angewiesen ist, dann wird es auch all jene Filme zeigen müssen, die selbst die Mitarbeitenden der Majors, die sie vertreiben, als Schrott bezeichnen. Das Paketbuchen ist zwar von Gesetzes wegen verboten, aber Normalität. Die mittelmässige bis schlechte Ware kann den Kinos nicht aufgezwungen werden, aber das Kino kann den entsprechenden Verleiher auch nicht zwingen, ihm zum Schweizer Start einen Kassenknüller zu geben. Spurt das Kino also nicht, so ist zufällig einfach keine Kopie des gewünschten Films mehr verfügbar.

In Frankreich gibt es eine selbstbewusste Politik, die auf eine eigene kulturelle Identität pocht und sich in den grossen Wirtschaftsverhandlungen der späten Achtzigerjahre für die «exception culturelle» stark machte. Da war man überzeugt, dass es in der Kultur auch noch andere Massstäbe geben sollte als den der finanziellen Rendite. Im Gegensatz dazu haben andere Länder wie die Schweiz, der das Selbstbewusstsein ganz offensichtlich fehlt und deren Interessenvertreter in der Politik andere Prioritäten haben, ihre Schutzmassnahmen Anfang der Neunzigerjahre im letzten Jahrhundert abgebaut und dafür von den USA Gegenleistungen erhalten, zum Beispiel Landerechte für die Swissair in einer mittelgrossen Stadt namens Atlanta.

Wenn man sich an diese Entwicklungen zurückerinnert, lieber Jonas, dann bekommt man Lachanfälle. Atlanta war eine der ersten Destinationen, die die serbelnde nationale Luftfahrtsgesellschaft wieder gestrichen hat. Nur, während die Swissair und Atlanta als ihre Destination heute nicht mehr existieren, gibt es die kontingentfreie Schwemme von nordamerikanischer Massenware in unseren Kinos. Du kennst mich und weisst, dass ich viele US-Produktionen zu den besten Filmen der Geschichte zähle, aber um diese geht es nicht. Es geht um all das untere Mittelmass, das – an die Kassenknüller geklebt – heute unsere Kinos besetzt und die Kinos in all jenen Ländern, deren Politikerinnen und Politiker sich nicht echt und überzeugend für den Schutz der Vielfalt stark gemacht haben und der Wirtschafts-Kolonialmacht Handlangerdienste boten.

Der Argentinier Fernando Solanas zeichnet in seinem Film mit dem sprechenden Titel Chronik einer Plünderung (Memoria del saqueo, Argentinien 2004) nach, wie es zur Ausblutung eines Landes oder einer Branche von aussen immer Leute im Innern des Landes braucht, die ihren Beitrag leisten. Die finden sich natürlich auch in der Filmbranche, denn für Geld ist alles zu haben. Als es vor ein paar Jahren darum ging, in der Schweiz ein neues Filmgesetz zur Sicherung der kulturellen Vielfalt zu gestalten, wurde von den US-Majors mit massiven Mitteln dagegen gekämpft. Noch in diesem Jahr 2004 und unter dem neuen zahnlosen Gesetz wehrten sich Vertreter jener US-Kräfte, dass jeder Kino-Ort seine eigene Programmvielfalt haben darf mit Windungen und Argumenten wie dem nachfolgenden (bitte lach nicht, das ist eins zu eins so formuliert worden, inklusive Schreibfehler bei der Schweizer Ortschaft): «Vor diesem Hintergrund ist vielmehr zu fragen, wieviel Reisezeit welchem Teil der Bevölkerung zugemutet werden soll, um eine bestimmte Angebotsvielfalt zur Auswahl zu erhalten. Wenn dem Einwohner von Andermatt (UR) zugemutet wird (werden muss), das Kino im Kantonshauptort Altorf zu besuchen, so leuchtet nicht recht ein, warum dem Winterthurer mit excellenter Zugsverbindung nach Zürich nicht zugemutet wird, das Kino in Zürich zu besuchen.» Das will im Klartext heissen: Es reicht, wenn in Winterthur US-Mainstream läuft, die Arthouse-Filme können diese Menschen ja in Zürich anschauen. Warum? Weil es in Andermatt kein Kino gibt und die Andermatter ja auch nach Altdorf reisen müssen, wenn sie ins Kino wollen.

Diese Leute haben ein simples Problem mit der Vielfalt in den Kinos unseres Landes: Sie sehen in der Vielfalt eine Bedrohung ihrer Gewinnmaximierung. Daneben ist entscheidend: Sie betrachten Film als Handelsware und nicht als Kulturgut. Sie freuen sich denn auch schon auf den Tag, an dem ihre Produkte per Satellitenverbindung zeitgleich weltweit in die Säle eingespiesen werden können, in Säle notabene, die sie mit der entsprechenden Technik ausrüsten, damit ihnen der freie Zugang auch sicher gewährt ist. Das Gegenteil von Vielfalt ist und bleibt Einfalt, das Gegenteil von kultureller Bereicherung ist und bleibt kulturelle Verarmung.

Von aussen betrachtet sieht die Situation in der Schweiz immer noch gut aus, denn noch gibt es gerade in Winterthur einen Kinobetreiber, der an alle Winterthurerinnen und Winterthurer denkt und an die Lebensqualität vor Ort. Der Film hat ja, im Gegensatz zur Theaterinszenierung zum Beispiel, den grossen Vorteil, dass er überall in derselben Version betrachtet werden und also ganz einfach zu seinem Publikum kommen kann – und dieses nicht zu ihm reisen muss. Film hat aber, im Gegensatz zu den meisten anderen Kultursparten, auch das Handicap, dass er in der Regel in einem rein kommerziell orientierten Umfeld funktionieren muss und sich dadurch reine Unterhaltungskost mit Anspruchsvollem trifft. Es geht mir nicht darum, das eine abwertend gegen das andere auszuspielen, es geht darum, dass mit einer Politik wie der zitierten deutlich wird, dass die Vertreter des einen Kinos dem anderen keinen Platz einräumen wollen. Anders als beim Theater oder in der klassischen Musik gibt es den Schonraum für den anspruchsvolleren Film zu wenig, die kleinsten Filme sind an vielen Orten demselben Marktdruck ausgesetzt wie die Blockbuster.

Quantitativ ist es im Moment in der Schweiz noch so, dass Vielfalt herrscht, dass es viele Filme gibt, unterschiedliche Filme, Filme aus verschiedenen Ländern und von diversen Autorinnen und Autoren. Qualitativ schwindet ganz still etwas, was man als eine gesunde Filmkultur bezeichnen möchte, in der auch kleinere Filme eine Laufzeit haben, in der sie entdeckt werden können, in der Kinomachende nicht nur dem Druck der Quote und dem Zwang ausgesetzt sind, unerwünschte Filme spielen zu müssen, weil sie sonst erwünschte Filme nicht bekommen. Heute wird aus dem Programm gekippt, was in den vier ersten Spieltagen nicht auf Touren kommt. Heute wird auf für Werktätige unattraktive Programmschienen gesetzt, was nicht mit massiven Werbemitteln lanciert werden kann, nicht synchronisiert ist oder nicht mit Namen grosser Stars aufwartet. Ich spitze zu, lieber Jonas, ich weiss, doch damals, als du noch ein kleiner Junge warst, gab es wohl weniger Filme, aber man liess sie länger leben.

Es gebe generell mehr kulturelle Angebote heute, wirst du einwerfen, und du hast Recht. Kulturell ist bei uns extrem viel los, und oft fällt es einem schwer, sich zwischen all den Theateraufführungen, Konzerten, Lesungen, Ausstellungen oder Filmen zu entscheiden. Im Bereich des Films kommt einfach erschwerend dazu, dass er vom Jahrmarkt herkommt und vom Jahrmarkt her betreut wird. Viele Kinobetreibende sind keine Cinephilen, die Herzflattern bekommen angesichts eines grossartigen Travellings, einer gewagten Montage, des Atems einer Einstellung oder einer konsequenten Kadrage. Es sind Krämer, die eines im Auge haben: ihre Kasse. Verleiher können dir ein Liedchen darüber singen, mit was für Rappenspaltereien man es im Alltag zu tun hat und wie wenig Grosszügigkeit bei Einzelnen vorhanden ist – meist bei jenen, die selber am meisten Geld hätten. Doch du weisst es natürlich auch aus Alain Tanners Film: Generosität ist selten eine Sache der Besitzenden.

«Das Bessere wird systematisch beseitigt», heisst es am Ende von Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000. Ich höre Kästner rufen, wo denn bei mir das Positive bleibe. Es existiert natürlich, sonst hätte ich schon lange aufgegeben und wäre auf die Alp gezogen oder auf eine griechische Insel. Es gibt so viele wunderbare, bereichernde, kluge und beglückende Filme, denen man eine Visibilität in diesem Markt des Spektakulären und des Spekulativen verschaffen möchte. Und es existieren in der Schweiz immer mehr Einzelkinos in kleineren wie grösseren Orten, die sich aus der kommerziellen Verdammnis ausgeklinkt oder gar nicht erst eingeklinkt haben. Das heisst: Kinos, in denen FilmliebhaberInnen ihr eigenes Programm gestalten nach ihren eigenen Bedürfnissen, Träumen, Wünschen, nach ihrer Lust und Laune. Und sie beweisen mit ihrer Resonanz eines: Das anspruchsvolle Publikum gibt es, es gibt ein Publikum, das älter ist als 23. Es will auch andere Bilder, Geschichten und Formen sehen, intellektuell gefordert sein und dies zu normalen Spielzeiten, in seiner abendlichen Freizeit zum Beispiel – und überall, auch an kleinen Orten. Ich könnte dir landauf, landab eine stolze Reihe von solchen Kinos auflisten, du kennst das eine oder andere selber, Kinos, die keine Abspulstätten angeschwemmter Filmkopien sind, Kinos, in denen man sich kreativ ums eigene Publikum kümmert und darum, dass dieses die ganze Welt zu sehen bekommt und dies nicht nur aus einer Perspektive und nicht nur in einer Filmsprache. Ich wünsche mir und viel mehr noch dir, dass es noch viele solche Kinos werden. Das mag utopisch klingen und verträumt, das passt überhaupt nicht in unsere Zeit, in der es keinen Platz für Utopien gibt, nur: Wo wären wir, ohne sie? Wo kämen wir ohne sie hin?

Dich, lieber Jonas, gäbe es nicht, wenn deine Eltern damals nicht geglaubt hätten, dass es im Leben noch andere Qualitäten geben würde als die der Rendite. Insofern stehst du für mich immer noch für diese Hoffnung. Ich grüsse dich und freue mich aufs Wiedersehen, weil mir Begegnungen wichtig sind.

Walter Ruggle
Publizist, Kinoleiter und Direktor der Stiftung Trigon-Film, die herausragende Filme aus Afrika, Asien und Lateinamerika verleiht. Er hat während zwanzig Jahren als Filmkritiker gearbeitet und diverse Bücher veröffentlicht.
(Stand: 2005)
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