MARIANN STRÄULI

DIE WELLENSCHLAG-VARIANTE

ESSAY

Kein Mann ging bloss deswegen ins Kino, um einen Film zu sehen. Er ging hin, um im Dunkeln zu sitzen und an seiner Freundin herumfummeln zu können. Frauen hingegen gingen ins Kino auf der Suche nach jenem erhabenen Reich, wo es keine solch erniedrigenden Grabsch- und Fummelattacken gab wie die, denen sie in eben jenem Moment ausgesetzt waren. Während sie zu verhindern suchten, dass ihnen die Knöpfe von den Blusen gerissen wurden, suchten sie mit tränenblinden Augen die Leinwand nach Hinweisen darauf ab, warum ihr eigenes Leben so ganz anders als das ihrer Lieblingsstars war. Gab es keine Möglichkeit, so fragten sie sich, ein bisschen Respekt oder auch nur Höflichkeit zu erlangen?

Quentin Crisp, How to Go to the Movies (1989)

Mit der Erotik geht es heute wie mit den Poulets, viel zu viel davon überall zu billig im Angebot, aber ein richtiges Poulet wirst du nicht finden. Sie sind ausgestorben; sie haben uns gekränkt verlassen, als sie merkten, dass irgendwie warm gemachte tote Hühner ebenfalls als Poulets bezeichnet werden. Das richtige Poulet war ein Unikat, es brauchte dazu ein gutes Huhn und eine gute Köchin, willens, vor dem Backofen kniend ihre Schönheit zu ruinieren: Wer aus einem Huhn ein Poulet macht, wird flammend rot im Gesicht und fettig. Nun haben oder sind wir die gepflegte, entspannte Gastgeberin, aber eben: kein Poulet.

Viel zu viele Bilder tosen unablässig gegen die von Computerarbeit ermüdeten Augen, um in unseren Rattenhirnzonen kalkulierte Reize auszulösen; gleichzeitig verkam le désir im wissenschaftlichen Diskurs zum abgenudelten Fachbegriff. Das Kino hat uns jeden Traum leuchtender und deutlicher gezeigt, als wir ihn selber hätten träumen können. Wir liessen uns mit Massenware aus dem Hollywood-Versandkatalog oder, falls mehr Typ qualitätsbewusste Konsumentin, Phantasmen von Autorenfilmern abfüllen. Doch was Erotik vorführt oder zu sein behauptet, ist deren Unterbindung und Film eine Form der Lichtfolter, die dazu zwingt, die Augen offen zu halten und andern zuzuschauen. Erotik ist, wenn man ... Erotik ist, wenn man die Augen schliesst. Umso rätselhafter, dass dem Kino das Prädikat «Erotisch besonders wertvoll» verliehen wurde und es diesen Ruf halten kann. Wie mühselig, aus neunzig Minuten lang aus 24 Bildern pro Sekunde etwas erotisch Verwendbares – ein Blick, eine Szene, ein leichtes Scherbeln in einer Stimme – zu erhaschen und damit im eigenen Innern abzutauchen! Erfolgreiche Vergleichsgruppen denken nicht dran, bei Bedarf ins Kino zu gehen; sie stellen das ganz anders an, zum Beispiel so: an einem heissen Nachmittag die Fensterläden schliessen und sich allein für ein halbes Stündchen aufs Bett legen und dösen. Oder die beliebte Wellenschlag-Variante: ebenfalls Augen zu und dösen, doch mit Wellenschlag im Hörbereich. Ob Süssoder Salzwasser spielt keine Rolle. Sehr gute Erfahrungen – und nicht so wetterabhängig – werden aus der Textilbranche mit Seide als grossem gemeinsamem Nenner und aus der Botanik gemeldet, hier freilich stark individualisiert. Manche arbeiten experimentell («zerriebene junge Walnussblätter»), andere gehen auf Nummer sicher und lassen bei sich zuhause eine Trüffel verrotten, was Schmetterlingsaufruhr in sämtlichen Weichteilen während Tagen garantiert. Und natürlich die Klassiker: sizilianischer Jasmin, reife Rosen und so fort. Mit den sonnenwarmen Brombeeren fangen wir gar nicht erst an, denn Essen und Erotik führt geradewegs in Engelsküchen und zurück zum Poulet. («‹Succulent›, flüsterte Lucienne mit halb geschlossenen Lidern ...»)

Sicher, auch mit Kino lässt sich was machen – hier wäre die Beschreibung der einen oder anderen Sequenz oder jenes Kinobesuchs der Knisterstärke 120 mit Soundso am Platz –, doch eben nicht, weil Erotik eine besondere Stärke von Film wäre, sondern wegen der fast unbegrenzten erotischen Befähigung von uns Menschen. Visuelle Erotik ist eine unter vielen. Sie ist nicht das Gelbe vom erotischen Ei. Ich komme vom Geflügel einfach nicht los. Brillat-Savarin erzählt übrigens in seiner Physiologie des Geschmacks eine total niedliche Geschichte, voll impliziter Erotik, von einem jungen Paar mit unwiderstehlicher Lust auf eine Poularde de Bresse mitten in der Nacht.

Schliesslich kommt man um die Verlaubsfrage nicht herum: Wie wichtig ist überhaupt Erotik für die Welt in ihrem Innersten? Existenziell, das Ein und Alles, behaupten Auto und Shampoowerbung, und nicht nur sie. Da wäre doch noch anderes. Die Frauen jedenfalls, von denen Quentin Crisp so bewegend schreibt, sehnen sich nicht nach Erotik. Sie möchten etwas Respekt, etwas Freundlichkeit.

Mariann Sträuli
geb. 1955, Filmhistorikerin. Promovierte über japanischen Stummfilm. Unterrichtet, publiziert, kuratiert Retrospektiven und Festivalprogramme und leitet Filmrestaurierungs- und Archivprojekte.
(Stand: 2006)
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