PETER PODREZ

IM SCHEITERN SCHWELGEN — DIE EROBERER-TRILOGIE DES WERNER HERZOGS

ESSAY

Auf Fitzcarraldo, den Eroberer des Nutzlosen! Auf Ihr Wohl!1

Das Kino Werner Herzogs ist eines der Reise und der Grenzüberschreitung, und dies in doppeltem Sinne: Es ist das Kino eines Regisseurs, der auf der selbst proklamierten Suche nach einzigartigen Bildern die ganze Welt bereist, auf jedem Kontinent und in zahlreichen Extremräumen wie der Sahara oder der Antarktis Filme gedreht hat. Es ist aber auch ein Kino, das sowohl in seiner dokumentarischen als auch fiktionalen Form Reisen, Räume, Grenzen und ihre Überwindungen thematisch in den Mittelpunkt stellt. Gerade in seinen Spielfilmen inszeniert Herzog immer wieder Figuren, die Grenzen nicht nur überschreiten, sondern nahezu überschreiten müssen – manchmal durch äussere Umstände gezwungen, häufiger noch allerdings aus einem inneren Drang heraus, der keine Alternative zulässt. In Stroszek (Werner Herzog, D 1977) beschliesst der gleichnamige Strassensänger, der in Berlin kein Bein mehr auf den Boden bekommt, den Grossen Teich zu überqueren und in den USA nach seinem Lebensglück zu suchen, in Nosferatu – Phantom der Nacht (Werner Herzog, D / F 1979) unternimmt Graf Dracula von Transsilvanien aus eine Schiffreise um halb Europa, um nach Wismar und zum Ziel seiner Obsession, Lucy, zu gelangen; die Beispiele liessen sich bis zu aktuellen Filmen wie The Wild Blue Yonder (Werner Herzog, D / F / A / GB 2005) fortsetzen. In meinem Beitrag möchte ich mich mit einer besonderen Erscheinungsform des Grenzüberschreiters auseinandersetzen, die Herzog in einigen seiner bekanntesten Filme etabliert. Aguirre, der Zorn Gottes (Werner Herzog, D 1972), Fitzcarraldo (Werner Herzog, D / PER 1982) und Cobra Verde (Werner Herzog, D / GHA 1987) sind dergestalt nicht nur durch den gemeinsamen Hauptdarsteller Klaus Kinski miteinander verbunden, sondern noch vielmehr durch den Figurentypus, den er verkörpert: Sie lassen sich als Eroberer-Trilogie in Herzogs Gesamt-Œuvre lesen. Ich möchte im Folgenden zeigen, welche gemeinsamen Inszenierungsmuster die drei Filme im Hinblick auf die Figur des Eroberers und seinen Umgang mit Räumen und Grenzen aufweisen, und deutlich machen, wie sie ein für Herzog unausweichliches Schicksal des Eroberers zelebrieren: sein Scheitern.

Grenzen errichten, Grenzen auslöschen

Die Figur des Eroberers bezieht sich auf eine spezifische Bedeutungsdimension von Grenze, nämlich auf die Territorialgrenze. In diesem Sinne erscheint die Grenze als dezidiert räumliches Phänomen, mehr noch, als ein Phänomen, das Raum überhaupt erst gestaltet – nicht Räume produzieren Grenzen, sondern Grenzziehungen bringen Räume hervor. Erst durch seine Grenzen lässt sich ein Raum nach innen als kohärent wahrnehmen und nach aussen von anderen Räumen differenzieren, oder anders ausgedrückt: Erst Grenzziehungen trennen Gebiete voneinander und markieren Hoheitsräume und Herrschaftsreichweiten; räumliche Grenzen sind also immer auch Grenzen der Macht und werden häufig genug als solche gekennzeichnet, beispielsweise durch Wachtürme, Befestigungsanlagen usw. Wie aber konstituieren sich Grenzen? Hierzu existieren im Wesentlichen zwei paradigmatische Antworten.2 Die These von der natürlichen Grenze, u. a. vom Geografen Friedrich Ratzel vertreten, postuliert, dass von der Umwelt vorgegebene Bedingungen wie Flüsse, Gebirgsmassive usw. sozialräumliche Formationen determinieren, auf der anderen Seite argumentiert etwa Georg Simmel:

«Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.»3

Grenzen erscheinen somit auf der einen Seite als stabile, zeitlose und naturalisierte Phänomene, auf der anderen Seite als von natürlichen Bedingungen zunächst unabhängige soziale und kulturell-historisch wandelbare Konstrukte. Vom Deutungsmuster unabhängig produzieren Grenzen immer auch Grenzverletzer,4 d. h. Figurentypen, die sich der vorgenommenen räumlichen Reglementierung verweigern und nach verschiedenen Logiken dagegen vorgehen. Während etwa der Nomade Grenzen schlichtweg ignoriert und Räume nach Belieben durchstreift, versucht der Flüchtling eine spezifische Grenze, die ihn in einem bestimmten Raum gefangen hält, zu überwinden und in einem anderen Raum Asyl zu suchen. Auch der Eroberer lässt sich als Grenzverletzer kategorisieren, er aber trachtet vor allem nach der Aneignung von Räumen. Nachdem er eine Grenze überschritten hat, nimmt er das betretene Territorium in Besitz und errichtet neue symbolische oder materielle Grenzen, welche die alten auslöschen und die neue (Macht-)Ordnung repräsentieren, mithin den Raum als Herrschaftsgebiet des Eroberers markieren.

Jurij Lotmans filmische Raumsemantik

Ausgehend von diesem Umgang mit Grenzen und Räumen kann der Eroberer im Film nicht nur mithilfe einer Figurenanalyse, sondern auch raumtheoretisch gelesen werden, wobei vor allem der Ansatz des russischen Literaturwissenschaft­lers und Semiotikers Jurij Lotman eine fruchtbare Lektüre ermöglicht. Lotman entwickelt 1972 in Die Struktur literarischer Texte5 eine räumlich perspektivierte Erzähltheorie, die von ihm zwar auf das Feld der Literatur angewendet wird, aber genuin medienunspezifisch ist und sich, wie Lotman selbst betont, auf alle sekundären modellbildenden semiotischen Systeme, darunter auch den Film, übertragen lässt. Ich möchte an dieser Stelle in Anlehnung an Kay Kirchmann und Sven Grampp6 von einer filmischen Raumsemantik sprechen.

Jeder Film konstruiert nach Lotman ein eigenständiges Weltmodell, das grundlegend räumlich organisiert ist. Die filmische Welt besteht dergestalt aus abstrakten semantischen Räumen, die durch eine Grenze in binäre Oppositionen geteilt werden, etwa arm vs. reich, zivilisiert vs. barbarisch usw. Jedes Element der Diegese (Figuren, Objekte etc.) lässt sich einem solchen semantischen Raum zuordnen. Entscheidend ist nun, dass diese abstrakten Bedeutungsräume im Film in aller Regel an konkrete topografische Räume gekoppelt sind. Armut wird so beispielsweise an das Dorf (den Mietsblock, ein Entwicklungsland usw.) rückgebunden, Reichtum beispielsweise auf die Stadt (die Villa, einen Industriestaat usw.) bezogen. Topografische Räume im Film sind also immer mit verschiedenen, kontrastierenden Bedeutungen besetzt und durch eine Grenze voneinander getrennt.

Diese Grenze ist für normale Figuren impermeabel, sie bleiben ihrem Raum verhaftet. Der Eroberer hingegen präsentiert sich als handlungstragende Ausnahmefigur: Er bricht aus einem (semantisierten topografischen) Raum auf, überwindet die Grenze und betritt einen (anders semantisierten topografischen) Gegenraum. Seine Grenzüberschreitung konstituiert ein für die narra­tive Struktur des Films relevantes Ereignis. Nach Lotman lassen sich zwei Ereignistypen unterscheiden: Bei einem normalen Ereignis bleibt die grundlegende Ordnung der Räume aufrechterhalten, höchstens Figurenmerkmale können sich verändern. Ein Metaereignis dagegen belässt Figurenmerkmale unberührt, erschüttert aber die fundamentale räumliche Ordnung der Diegese, d. h. Grenzen werden verschoben, ausgelöscht und neu gezogen, alte Semantisierungen werden überschrieben und durch neue ersetzt. Es ist also immer ein Metaereignis, das der Eroberer durch die Inbesitznahme neuen Territoriums anstrebt, sei es durch die Grenzausdehnung eines bestehenden oder durch die Etablierung eines neuen semantisierten topografischen Raumes.

Welcher Art das Ereignis auch immer ist, nach Lotman muss es getilgt werden, damit die dadurch ausgelöste Grenzverletzung in einen konsistenten Zustand überführt werden und die filmische Narration zu einem Ende kommen kann. Dies ist auf mehrere Arten möglich: Die Figur, die die Grenze überschritten hat, kann schlicht ohne Veränderungen in den Ausgangsraum zurückkehren (Rückkehr); sie kann in den Ausgangsraum zurückkehren und ein Element des semantisch oppositionellen Gegenraums mit sich bringen (Beuteholerschema); oder sie kann gänzlich im Gegenraum aufgehen, d. h. entweder die Merkmale aus dem Ausgangsraum ablegen und sich an den Gegenraum anpassen oder schlichtweg dort zugrunde gehen (Aufgehen im Gegenraum); dies alles sind Muster der Ereignistilgung, die mit normalen Ereignissen korrelieren, die räumliche Ordnung der filmischen Welt bleibt in allen Fällen unberührt. Das Metaereignis hingegen bringt auch eine Metatilgung mit sich: Das gesamte räumliche System der Diegese konstituiert sich neu und die ursprüngliche Grenzüberschreitung erscheint nicht mehr als solche, da die alten Grenzen ihren Status verloren haben, oder anders ausgedrückt: Der Eroberer als zentraler Agent der filmischen Narration begründet durch die Annexion von Räumen nicht nur eine neue Ordnung der Diegese, sondern tilgt in dem Moment, in dem er neue territoriale Grenzen zieht, rückwirkend auch seinen alten Status als Grenzverletzer.

Für eine raumtheoretische Betrachtung der Eroberer in Herzogs Filmen bleibt also zusammenfassend nicht nur zu fragen, auf welche Art und Weise die Figuren selbst ausgestaltet werden, sondern auch, mit welchen Semantiken die Räume besetzt sind, aus denen die Eroberer stammen, und welche Bedeutungen den Räumen eingeschrieben sind, die sie in Besitz zu nehmen suchen. Schliesslich gilt es, besonderes Augenmerk auf die Inszenierung von Grenzen, Grenzüberschreitungen und neuen Grenzmarkierungen zu richten.

Grössenwahnsinnige Kolonialisten und wilde Kannibalen

Die Filme der Eroberer-Trilogie sind bereits durch das gemeinsame historische und geografische Setting miteinander verbunden. Alle spielen zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert, also in der Hochphase des neuzeitlichen Kolonialismus, und weisen einen starken Bezug zum südamerikanischen Kontinent auf. Aguirre, der Zorn Gottes begleitet spanische Konquistadoren auf ihrem Eroberungsfeldzug zum Goldland El Dorado entlang des Amazonas, Fitzcarraldo handelt vom gleichnamigen Unternehmer, der einen Landstrich am peruanischen Fluss Ucayali in Besitz nehmen will, um dort Kautschuk abzubauen und aus dem Gewinn ein Opernhaus im Urwald zu bauen, und in Cobra Verde bricht der titel­gebende Bandit aus Brasilien auf, um im afrikanischen Königreich Dahomey ein verlassenes Fort zurückzuerobern und den stagnierenden Sklavenhandel wieder anzukurbeln. Die Eroberer werden von Herzog nach ähnlichen Mustern inszeniert und erscheinen als höchst ambivalente Figuren, denn in allen Filmen überlagern sich gleichsam zwei Perspektiven: ein Blick, der sich an den Schattenseiten der kolonialistischen Epoche abarbeitet und den Eroberer als ausbeuterischen, grössenwahnsinnigen Militaristen negativ besetzt, aber auch ein kolonialer Blick, der den Eroberer verklärt und das zu Erobernde als primitiv und bedrohlich stigmatisiert. Zugespitzt formuliert: In Herzogs Filmen fliessen auf eigentümliche Weise der heutige Blick auf den Eroberer und der damalige Blick des Eroberers ineinander.

Das militaristisch-ausbeuterische Kolonialgebaren des Eroberers wird in Aguirre, der Zorn Gottes bereits während der Anfangssequenz, der Überquerung der Anden, deutlich. Von den Konquistadoren versklavte Indianer werden mit Lasttieren gleichgesetzt, auf dem Rücken schleppen sie Ausrüstung und Sänften, in Nahaufnahmen sehen wir ihre Ketten. Die Konquistadoren hingegen sind mit den zentralen Symbolen des Eroberers ausgestattet – Flaggen, Uniformen / Rüstungen und vor allem Waffen – und offenbaren sich im Verlauf des Films als Brandschatzer und Mörder. Auch Cobra Verde erscheint als militaristischer Ausbeuter: Er betritt Afrika in einer Admiralsuniform und bildet als waffenschwingender General eine Amazonenarmee aus. Die männlichen Sklaven, die ihm zugeführt werden, beurteilt er wie Tiere nach ihren Zähnen und verkauft sie als Ware, die weiblichen beutet er als Sexualobjekte aus. Und auch der scheinbar positiv gezeichnete Fitzcarraldo macht keine Ausnahme. Er behauptet zwar, nicht mit Kanonen anzurücken, doch wenn er den Urwald mit den Klängen von Caruso beschallt, dann gemahnt durch die Bildgestaltung das am Schiffsbug aufgestellte Grammophon an eben ein Kanonenrohr und der Opernliebhaber an einen Feldherren. Als er kurz darauf seinen Dampfer über einen Berg transportieren will, um zu dem begehrten Landstrich zu gelangen, nimmt er die Hilfe der ansässigen Indianer in Anspruch: Minutenlang sehen wir Dutzende von Eingeborenen, die das Erdreich aufgraben und Gerüste bauen, Fitzcarraldo hingegen spaziert durch die Reihen und erteilt Befehle. Sein weisser Anzug hat längst den Status einer Uniform angenommen.

Herzogs Eroberer sind aber nicht nur Ausbeuter, sondern auch Grössenwahnsinnige. Sie akzeptieren keine diesseitigen oder jenseitigen Autoritäten wie Cobra Verde, ihre Hybris drückt sich häufig in Monologform aus, wie bei Fitzcarraldo, der ausruft: «Ich werde grosse Opern nach Iquitos bringen! Ich bin in der Überzahl! Ich bin die Milliarden!» Aguirre hingegen verkündet: «Wenn ich, Aguirre, will, dass die Vögel tot von den Bäumen fallen, dann fallen die Vögel tot von den Bäumen herunter. Ich bin der Zorn Gottes; die Erde, über die ich gehe, sieht mich und bebt.» Während dieser Sätze ist der Blick des Eroberers ins Off des Bildes gerichtet, allerdings, wie die Blickachse und der fehlende Gegenschuss suggerieren, nicht auf seine Mannen, sondern in ein – mit Gilles Deleuze gesprochen7 – absolutes Off, einen gänzlich anderen Raum, der sich filmisch nie konstituieren wird. Es ist ein Blickregister, das in den Filmen häufig etabliert wird und suggeriert: Der grössenwahnsinnige Eroberer lebt in einer vollkommen anderen Welt.

Diese negativen Zuschreibungen vermischen sich nun mit einem eurozentrisch-kolonialen Blick auf den Eroberer und das zu Erobernde. Jener Blick manifestiert sich in einzelnen Bildern, etwa wenn der grausame Militarist zum ruhmreichen Feldherren überhöht wird. Ein Beispiel hierfür bietet eine Inszenierung Aguirres, bei der Herzog auf die künstlerische Darstellungstradition historischer Feldherren zurückgreift: Er filmt den Eroberer aus einer leichten Untersicht, eine Hand in die Hüfte gestemmt, den Kopf schräg nach oben gerichtet und in ein visionäres Bild-Off blickend.

Der koloniale Blick manifestiert sich aber auch in der räumlichen Konfiguration der Eroberer-Trilogie. Die zentralen semantischen Oppositionen aller Filme lauten vertraut vs. fremd, kultiviert vs. primitiv und sicher vs. gefährlich. Diese Bedeutungen werden an die wesentlichen topografischen Räume zurückgebunden: den Raum, aus dem die Eroberer aufbrechen (das kolonialisierte Südamerika), den Raum, den sie erobern wollen (Afrika bzw. das unerforschte Südamerika), und einen ideellen Raum, der niemals gezeigt, auf den aber fortwährend Bezug genommen wird (Europa). Der koloniale Blick macht klar, dass der zu erobernde Raum immer negativ aufgeladen ist. Dabei wird Fremdheit mit Unterentwicklung und jene mit Bedrohlichkeit gleichgesetzt. Diese Zuschreibungen gelten für den Naturraum, aber auch für seine Bewohner: Nahezu permanent ruft die Eroberer-Trilogie das Bild des primitiven Wilden auf. Afrika erscheint in Cobra Verde als Heimstatt johlender Hysteriker, die ihre Feinde pfählen und aus den Schädeln Trinkgefässe für ihren wahnsinnigen König herstellen. In Fitzcarraldo und Aguirre, der Zorn Gottes wird der indianische Kannibale heraufbeschworen, der im Urwald Jagd auf Menschen macht. «Fleisch, Fleisch, Fleisch kommt vorbeigeschwommen», übersetzt ein Sklave das Gebrüll von Indios, die das Floss der Konquistadoren erblicken.

Der koloniale Blick wirkt aber auch in die andere Richtung und bekräftigt, dass der vertraute, sichere und vor allem kultivierte Gegenraum der europäische ist. Dieser europäische Raum wird niemals direkt gezeigt, dient aber beständig als ideelle – und ideale – Vergleichsfolie. In Aguirre, der Zorn Gottes zitiert die Frau von Ursua, dem Gegenspieler Aguirres, Kastilien als geordneten und deshalb sicheren Ort herbei, in Fitzcarraldo unterstreicht der Theaterdirektor von Manaos den kulturellen Wert der Alten Welt: «Alles, was die Leute hier wollen [...], sind die grossen Namen aus Europa.» Doch nicht nur die Figuren, auch der Film selbst betont die kulturelle Überlegenheit des Europäischen, etwa in der erwähnten Szene mit Fitzcarraldo an der Grammophon-Kanone: Die italienische Oper bringt die primitiven Trommeln der Eingeborenen zum Verstummen, der indianische (!) Schiffskoch bestätigt anerkennend: «So eine Musik hatten die Nacktärsche noch nie.»

Europa und das jeweils zu erobernde Gebiet sind also die wesentlichen Gegenräume; das kolonialisierte Südamerika, der Raum, aus dem die Eroberer aufbrechen, stellt einen semantischen und topografischen Mischraum dar, der Elemente beider Pole beinhaltet. Es ist ein Raum, der sich in Teilräume ausdiffe­renziert (Sertão vs. Zuckerrohrplantagen in Cobra Verde, Manaos vs. Iquitos in Fitzcarraldo), deren Semantisierung von ihrem Kolonialisierungsstatus abhängig ist, und es ist ein Raum, in dem sich der koloniale Blick wieder mit einem distanzierten vermengt. Einerseits gilt nämlich durchaus: Je kolonialisierter, desto kultivierter. Andererseits aber zeigen sich gerade in den kolonialisierten Räumen umso stärker das rücksichtslose Gebaren des Kolonialisten und seine Dekadenz.

Das Scheitern des Eroberers

Aus diesem kolonialisierten Mischraum also brechen die Eroberer auf und müssen zunächst die Grenze zu dem Gebiet, das sie sich einverleiben möchten, überschreiten. Diese Grenze ist in den Filmen immer eine natürliche (Gewässer, Gebirge) und erscheint relativ stabil und zeitlos, ihre Überwindung ist zumeist mit grossen Strapazen verbunden. Einzig in Cobra Verde wird die Überfahrt nach Afrika elliptisch inszeniert: Der Eroberer bricht auf und kommt ohne Mühe an sein Ziel. In Aguirre, der Zorn Gottes hingegen wird der Hindernis- und Gefahrencharakter der Grenze gleich zu Beginn des Films betont. Während der Grenzüberschreitung über die Anden in den Urwald visualisiert eine Supertotale des Gebirgspasses, in der die winzigen Figuren kaum zu erkennen sind, das Ausmass der Grenze, eine andere Einstellung offenbart den beinahe senkrechten Winkel der Felswand, die die Gestalten hinabsteigen, in wiederum anderen Aufnahmen werden die Enge des Pfades und die Nähe zum Abgrund deutlich. Die gesamte Sequenz erstreckt sich über etliche Minuten; am ausführlichsten aber widmet sich Fitzcarraldo dem Akt der Grenzüberschreitung – der Film nimmt sich eine halbe Stunde Zeit, um zu erzählen, wie der Eroberer mit seinem Schiff den Berg überquert. Auch hier steht der Hindernis- und Gefahrencharakter der Grenze im Vordergrund. Zunächst muss der Urwald gerodet werden; dabei schwenkt die Kamera unter anderem einen riesigen Mammutbaum von oben bis zum Ende des Stammes hinab, an dem etliche Indios mit – so scheint es – winzigen Äxten zugange sind. Danach wird das Land mit Dynamit abgeflacht, damit in der beschriebenen ausbeuterischen Arbeitsanstrengung der Indios Seilwinden errichtet werden können, die das Schiff nach oben befördern sollen. Doch der erste Versuch scheitert, der Dampfer rutscht zurück und begräbt einige Indianer unter sich: Die Grenze fordert ihre Opfer. Erst im zweiten Anlauf überwindet das Schiff den Berg und gleitet schliesslich unter den Klängen von Caruso in die Gewässer des Ucayali.

Alle Eroberer Herzogs schaffen es also, die Grenze zu überwinden und den Gegenraum zu betreten – was aber keiner von ihnen fertigbringt, ist, irgendetwas zu erobern. Feierlich ergehen sie sich in symbolischen Akten, die aber keine Inbesitznahme des Territoriums mit sich bringen, da keinerlei Macht an sie gekoppelt ist. Im Gegenteil: Es sind Gesten der Machtlosigkeit, die in den Filmen ausgestellt werden; Gesten, die in der Vorstellung des Eroberers neue Grenzen errichten, jedoch für die tatsächliche räumliche Ordnung der Diegese vollkommen belanglos bleiben. Aguirre erklärt, weiterhin im Hintergrund die Fäden ziehend, den Edelmann Guzmán – eine Eroberer-Karikatur – zum Kaiser von El Dorado. Während das Floss der Konquistadoren den Amazonas hinuntertreibt, deklariert dieser Kaiser:

«Alles Land hier zu unserer Linken und alles Land zur Rechten gehört von nun an uns. Ich nehme feierlich und förmlich Besitz von all diesem Land.»

Freilich ändern sich weder Semantiken noch Grenzen des topografischen Raumes. Das wilde, gefährliche Südamerika bleibt wild und gefährlich; am Ende des Films raffen Urwald und Indianer alle Konquistadoren dahin, Guzmán selbst findet seinen reichlich unkaiserlichen Tod hinter dem Klosett des Flosses. Auch Fitzcarraldo nimmt das begehrte Kautschukgebiet noch in seinem Aufbruchsraum Iquitos qua Urkunde symbolisch in Besitz. Er überwindet den Berg als finalen Grenzpunkt, doch letztlich treibt sein Schiff in bester Sisyphos-Tradition nur wieder den Fluss hinunter und zurück nach Iquitos. Als Gipfel der Ironie lässt der Film weder uns noch Fitzcarraldo selbst sein Land erblicken, denn der Eroberer schläft und erwacht erst, als der Dampfer durch die Stromschnellen hinter dem Kautschukgebiet treibt. Cobra Verde schliesslich erobert zwar das verlassene Fort an der Küste Afrikas zurück und hisst dort sogleich die brasilianische Flagge, die die Kamera auch in Nahaufnahme flattern lässt. Augenscheinlich scheint sich also eine neue Grenze zu konstituieren, doch de facto ändert diese Markierung zum einen nichts an der Semantisierung der Räume, zum anderen bleibt Cobra Verde vollkommen vom König von Dahomey abhängig. Als dieser seine Männer abzieht, (ver-)endet der Eroberer alleine in einem Raum, der immer nur als Gegenraum existierte.

Herzogs Eroberer sind also Eroberer nur in ihrer Imagination; permanent überschreiten sie Grenzen, ohne sie jedoch zu verschieben oder einen Raum zu beherrschen. Sie streben mit Lotman gesprochen ein Metaereignis mit einer Metatilgung an, nämlich eine räumliche Neuordnung der filmischen Welt durch neue Grenzkonstitutionen. Tatsächlich produzieren sie aber nur normale Ereignisse, die nichts an der Ordnung der Diegese verändern und auf höchst konventionelle Weise getilgt werden: Die Protagonisten gehen entweder im Gegenraum auf, finden nämlich darin ihren Tod (Aguirre, Cobra Verde), oder kehren ohne Veränderung in den Ausgangsraum zurück (Fitzcarraldo). Kurz gesagt: Herzogs Eroberer scheitern auf voller Linie. Ihr Scheitern scheint dabei von vornherein notwendig zu sein und wird bereits zu Beginn der Filme angedeutet. Aguirre und seine Konquistadoren müssen versagen, da ihr Ziel, El Dorado, nur eine Erfindung der Indianer ist, wie die einleitende Texttafel klarmacht. Cobra Verde wird mit einem Gedicht eingeleitet, in dem es heisst: «Francisco [...], wirf keinen Blick aufs Meer», eine Warnung, die von einem Gastwirt im Sertão wiederholt wird. Dass Fitzcarraldo scheitern wird, lässt sich an seiner bisherigen erfolglosen Karriere als Unternehmer ablesen, die früh im Film thematisiert wird: Wir erfahren, dass der Opernliebhaber bereits ein Eisenbahnprojekt verfolgte, das im Dschungel steckenblieb, und dass er an einer Eisfabrik arbeitet, für die es keinen Abnehmer gibt.

Der Triumph des Kinos

Ein gemeinsames Muster in Herzogs Eroberer-Trilogie ist aber nicht nur, dass das Scheitern der Protagonisten quasi determiniert ist, sondern dass es in nahezu obsessivem Masse zelebriert wird: Als Cobra Verde erfährt, dass der Sklavenhandel verboten wurde und auf seinen Kopf ein Preisgeld ausgesetzt ist, erhebt er mit dem Kapitän eines Sklavenschiffes sein Glas und trinkt «auf unseren Untergang». Als Fitzcarraldos Schiff wieder in der Nähe von Iquitos einfährt, deutet der Kautschukbaron Aquilino das Versagen des Eroberers in einen Erfolg um, auf den angestossen werden muss. In einer kontrastierenden Montage schneidet der Film vom nahezu zerstörten Schiffsrumpf als Symbol des Scheiterns zu einer Nahaufnahme von Aquilino mit einem Sektglas in der Hand und dem Trinkspruch auf den Lippen:

«Den pongo des mortes mit einem Dampfschiff bezwungen zu haben, ist ein Bravourstück, das wohl nicht so bald nachgeahmt wird [...] Grossartig, meine Herren, was für eine Tat!»

Doch es sind nicht nur die Figuren, die intradiegetisch das Scheitern feiern, vielmehr tun dies auch die Filme auf formaler Ebene: Sie zelebrieren das Scheitern des Eroberers, indem sie es gerade in den Momenten seiner Endgültigkeit radikal ästhetisieren. Der grössenwahnsinnige Monolog des todgeweihten Aguirre am Ende des Films erstreckt sich über mehrere Minuten, lange Einstellungen scheinen auskosten zu wollen, wie der gescheiterte Eroberer über das zerfallene Floss taumelt. In der letzten Einstellung des Films vollendet sich die Ästhetisierung des Scheiterns: Die Kamera fährt in einer Supertotalen auf das Floss zu, auf dem Aguirre und die Leichen der anderen Konquistadoren wie in einem Stillleben drapiert sind, und sie beginnt es zu umkreisen. Dieses Kreismotiv ist für die Eroberer-Trilogie zentral: Herzog übersetzt damit die strukturelle Gesetzmässigkeit des Scheiterns, den Mangel an Fortschritt und die Rückkehr zum Anfangspunkt in eine sinnbildliche geometrische Form, die sich gerade in den Momenten des endgültigen Scheiterns exzessiv in die Filme einschreibt. In Aguirre, der Zorn Gottes ist es denn auch nicht nur die Kamera, die ihre Kreise um das Floss zieht. Auch auf der Tonspur erklingt Musik, die in sich zu kreisen scheint, mithin bestimmte Abfolgen beständig wiederkehren lässt. Und schliesslich vollendet sich in ihr eine zirkuläre Struktur auf der Makroebene des Films: Wir hören dieselben Klänge wie in der Anfangssequenz, als die Eroberer die Grenze in den tödlichen Gegenraum überschritten haben.

Eine makrostrukturelle Vollendung der Kreisform erleben wir auch in Fitzcarraldo auf der narrativen Ebene, wenn das Schiff des Eroberers nach der Grenzüberwindung wieder den Fluss hinabtreibt und sich so seine Reisebewegung zu einem Zirkel schliesst. Die entsprechende Sequenz dauert mehrere Minuten und ist hochästhetisiert. Wenn das Schiff durch die Stromschnellen schlingert und von einer Seite auf die andere kippt, setzt Herzog die Zeitlupe ein, um die Gewaltigkeit, ja Erhabenheit des Geschehens zu betonen. Und auch die Tonebene spielt wieder eine Rolle: Nach dem Aufprall auf einen Felsen schaltet sich Fitzcarraldos Grammophon ein. Der Gesang Carusos, der einstige signature tune des triumphalen Eroberers, wird so zur triumphalen Untermalung seines Scheiterns. Die Opernmusik wechselt ihren Status von intra- zu extradiegetisch, sie überdeckt das Rauschen des Flusses nahezu vollständig und dient so als dominante auditive Begleitung der Bilder, die weiter zeigen, wie der Dampfer durch die Stromschnellen geschleudert wird, am Felsenufer aufschlägt und sich durch die Wucht der Strömung immer wieder um sich selbst dreht. Letztlich inszeniert Herzog Fitzcarraldos Scheitern als musikalisches Schauspiel mit Assoziationen des Tänzerischen.

In Cobra Verde schliesslich spiegeln sich das Scheitern des Eroberers und seine filmische Ästhetisierung in den Bildern am Ende des Films, in denen Cobra Verde Afrika verlassen will und ein Boot, das um ein Vielfaches grösser ist als er selbst, ins Wasser zu hieven versucht. Der Film zeigt uns die aussichtslosen Bemühungen in betont langen, nahezu ungeschnittenen Einstellungen, die Kamera ist so positioniert, dass durch das Gegenlicht des sonnenglitzernden Meeres die ohnehin schon minimalistischen Bildobjekte beinahe silhouettenhaft reduzierte Züge annehmen, und auch in dieser Sequenz setzt verfremdende Musik ein: Harmonische, filigrane Klänge kontrastieren die verzweifelten Anstrengungen des zunehmend kraftloseren Cobra Verde, der schliesslich vor Erschöpfung zusammenbricht. Der Kreis hat sich geschlossen – einsam und von Todessymbolen umgeben kniete der Eroberer zu Beginn des Films in der brasilianischen Wüste, einsam (ver-)endet er nun in den Fluten des Ozeans. Und der Film zelebriert diesen Untergang: Wir sehen, wie der ermattete Körper von den Wellen hin- und hergeschleudert wird, wie er auftaucht und wieder unter Wasser gedrückt wird, wir sehen die Schmerzen auf Cobra Verdes Gesicht und all das wird untermalt von jener eigentümlich friedlichen, beinahe meditativen Musik.

Die beschriebenen Sequenzen verdeutlichen das vielleicht fundamentalste gemeinsame Prinzip der Eroberer-Trilogie: Herzogs Filme erzählen nicht einfach vom Scheitern, sie schwelgen darin. Ob durch die reine Länge der Sequenzen, die Stilisierung von Mise-en-scène und Kameraarbeit, den Einsatz von Musik oder das beständige Aufrufen des Kreismotivs – das Scheitern wird exzessiv8 und mit allen zur Verfügung stehenden (Stil-)Mitteln als hochgradig ästhetisches Schauspiel inszeniert, das sämtliche narrativen Momente überlagert und einzig auf sich selbst verweist und sich selbst genügt. In diesem Schauspiel feiern Herzogs Filme das Versagen ihrer Protagonisten, doch sie feiern gleichzeitig – und vor allem – auch sich selbst. Denn was sich letztlich in den Momenten des Scheiterns spiegelt und zelebriert wird, ist nicht mehr und nicht weniger als die ästhetische Kraft des Films, das Potenzial, die von Herzog in seiner künstlerischen Programmatik so vehement eingeforderten eindrücklichen und einzigartigen Bilder zu erschaffen. Oder anders formuliert: Werner Herzog inszeniert in seiner Trilogie das Scheitern des Eroberers als Triumph des Kinos.

Ein Kautschukbaron in Fitzcarraldo.

Vgl. Karl Schlögel: «Grenzen, Razorlike und andere», in: ders., Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003, S. 137–147, hier S. 143 ff.

Georg Simmel: «Soziologie des Raums», in: ders., Gesamtausgabe Bd. 7, hg. v. Otthein Ramm­stedt, Frankfurt / Main 1995, S. 132–184, hier S. 141.

Vgl. Ulrich Bröckling / Eva Horn / Stefan Kaufmann: «Einleitung», in: dies. (Hgg.), Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, Berlin 2002, S. 7–22.

Vgl. im Folgenden Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, 4., unveränderte Auflage, München 1993.

Vgl. Kay Kirchmann / Sven Grampp: Jurij M. Lotmans Raumtheorie – Materialien. Unveröffentlichtes Skript zum Hauptseminar «Grenzen im Film», Institut für Theater- und Medienwissenschaft, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg 2007; vgl. auch das zugrunde liegende Vorlesungsskript von Jan-Oliver Decker: Raumsemantik. Zur Funktion ästhetisch kon­struierter Räume in der deutschen Literatur vom 17. bis 20. Jahrhundert, online unter: http://www.literaturwissenschaft... (zuletzt besucht am 12.7.2011).

Vgl. Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt / Main 1989, S. 34 f.

Vgl. Kristin Thompson: «The Concept of Cinematic Excess», in: Philip Rosen (Hg.), Narrative, Apparatus, Ideology, New York 1986, S. 130–142.

Peter Podrez
*1983 in Bielitz (Polen), studierte Theater- und Medienwissenschaft sowie Pädagogik in Erlangen. Derzeit Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er lebt in Nürnberg.
(Stand: 2012)
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