BETTINA SPOERRI

CORPO CELESTE (ALICE ROHRWACHER)

SELECTION CINEMA

Mit wohlfeilen Gemeinplätzen, moralischer Verve, aber wenig Sinn für die Welt der Jugendlichen und auch einmal mit einer heftigen Ohrfeige geht der Religionsunterricht für die jungen Konfirmanden in einer kleinen kalabrischen Stadt, dem Hauptschauplatz von Corpo celeste, vonstatten. Die rückständigen bis rigorosen Erziehungsmassnahmen verwirren die 13-jährige Marta (Yile Vianello), die mit ihrer Familie soeben aus der Schweiz wieder in ihre kalabrische Geburtsstadt gezogen ist, immer mehr. Statt wahrer Religiosität entdeckt sie mit ihrer feinen Beobachtungsgabe und zerbrechlichen Sensibilität die Scheinheiligkeit und die Lügen hinter den grossen Gesten der Erwachsenen. Eine Reise mit Pater Don Lorenzo (Renato Carpentieri) in sein mittlerweile ausgestorbenes Heimatdorf in den Bergen, wo er das Kruzifix aus der Kirche holt, um damit das neue Gebetszentrum seiner Pfarrgemeinde auszustatten, wird zu einer Art Initiationsreise des Mädchens, von der es mit grundsätzlichen Zweifeln an seinem bisherigen, eher naiven Gottesbild zurückkehrt.

Rohrwacher erzählt die Geschichte aus der Martas Sicht, wobei sie für manche Szenen auch die Perspektiven weitet und für kurze Zeit auch den Blickwinkel anderer Figuren einnimmt – etwa denjenigen von Don Lorenzo, der sich in seiner Ratlosigkeit ertappt fühlt und dennoch die Fassade einer innerlich lebendigen Gemeinde aufrechterhält. Das südliche Kalabrien inszeniert Rohrwacher nicht als sonnigen, sondern meist wolkenverhangenen, windigen Ort, die Strände, wo sich Kinder – obdachlos oder zumindest halb verwahrlost – herumtreiben, sind kahl und unwirtlich, die kalten Farben vermitteln eine meist frostige Atmosphäre. Martas Firmungsprozess zeigt Corpo celeste als eine Art «rite de passage», im übertragenen wie auch konkret bildlichen Sinn, wenn sie beispielsweise durch das hüfthohe, stehende Wasser watet, um unter einer Brücke hindurch zum Meer zu gelangen. Der Film beobachtet alltägliche Details und zeigt die prekären Verhältnisse in einer Gegend Italiens auf, wo die Menschen bisweilen gar um ihr Überleben kämpfen, materiell, vor allem aber geistig-spirituell. Grund zur Hoffnung gibt es da wenig, gerade auch, weil die feierlichen Rituale die geistige Leere nicht zu überdecken vermögen, sondern umso stärker spürbar machen. Der dokumentarische Charakter des Films zeigt sich auch im Cast, der u. a. auch aus Laiendarstellern besteht. Er reibt sich allerdings mit der fiktiven Geschichte, die immer wieder allzu explizit christliche Symbolik bemüht und der alten Theodizee-Frage keine wirklich neuen Aspekte abringt. Dennoch gelingen Rohrwacher eindrückliche Szenen, die gerade in unspektakulären Momenten die menschliche Verlorenheit spürbar machen.

Bettina Spoerri
*1968, Dr. phil., studierte in Zürich, Berlin und Paris Germanistik, Philosophie, Theater- und Filmwissenschaften, danach Dozentin an Universitäten, der ETH, an der F&F. Begann 1998, als freie Filmkritikerin zu arbeiten und war Redaktorin (Film/Theater/Literatur) bei der NZZ. Mitglied Auswahlkommission FIFF 2010–12, Internat. Jury Fantoche 2013, mehrere Jahre VS-Mitglied der Filmjournalisten, Mitglied bei der Schweizer Filmakademie. Freie Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses. CINEMA-Redaktorin 2010–2017, heute Mitglied des CINEMA-Vorstands. www.seismograf.ch.
(Stand: 2021)
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