DAVID RATMOKO

OLYMPIA 1936 — STADION DER MASSENBILDUNG

ESSAY

Aus der Medienforschung ist bekannt, dass Sportübertragungen die mit Abstand höchsten Einschaltquoten erzielen. Als Gründe, weshalb eine Fussballweltmeisterschaft, ein Superbowl-Final oder eine Olympiade bis zu 80 Prozent der Fernsehzuschauer erreichen, werden oft «Anregung», «Suche nach Identität» oder «Ablenkung vom Alltag» genannt.1 Mögen diese Erklärungen zutreffen, so sind sie methodisch unzureichend, da sie aus Umfragen stammen und das zu erklärende Zuschauerinteresse durch den Zuschauer selbst erklären. Mehr Aufschluss verspricht eine mediengeschichtliche Untersuchung, die der Frage nachgeht, ob ein mediales Erbe die modernen Massenmedien Film und Fernsehen belastet.

Olympia 1936

Die verbreitete Ansicht, «dass Spitzensport immer mehr zum inszenierten Fernsehereignis wird»,2 ist richtig, und ein Blick in die Mediengeschichte zeigt, dass die Olympischen Spiele von 1936 Ausgangspunkt dafür waren. Allgemein ist die Berliner Olympiade von 1936 als Nazi-Propaganda in Erinnerung, und es gilt abzuklären, worin die anfängliche Verbindung zwischen Sport und Faschismus einerseits sowie Massenmedien und Faschismus andererseits bestand.

Siegfried Kracauer, dessen Ornament der Masse (1963) die NS-Ästhetik analysiert, erhob die Olympischen Spiele nicht eigens zum Gegenstand der Untersuchung.3 Die «Massenornamente» anlässlich der Eröffnungsfeier von 1936 – die marschierenden Fahnenträger, die zu Muster formierten Turnerriegen und die theatralischen Einlagen – markierten den Beginn eines inszenierten Sport-Spektakels. Im Vergleich zu denjenigen der Nachkriegs-Olympiaden muss Kracauer aber aufgefallen sein, dass die Massenornamente von 1936 bescheiden ausfielen. Ähnliches gilt für Hitlers damals viel beachtete Sicherheitsvorkehrungen, die bei den jüngsten Spielen in London 2012, wo Flugzeugträger auf der Themse und Drohnen am Himmel bereitstanden, übertroffen wurden. Auch der Vorwurf einer gewollten nationalen Propaganda trifft spätere Austragungsländer mindestens so stark wie Nazi-Deutschland, zumal die Berliner Spiele noch von der Weimarer Republik beantragt worden waren und die NS-Organisatoren vor das Problem stellten, wie die Mobilmachung vor der Weltöffentlichkeit geheim gehalten werden konnte.4 So markierten die Olympischen Spiele von 1936 den Beginn der modernen Verknüpfung von Sport und Faschismus, insofern sie wegweisend für die opulenten Eröffnungszeremonien, die totalitären Sicherheitsvorkehrungen und die Länderpropaganda waren, wie sie heute bekannt sind und gerne auch kritisiert werden.

Vom Faschismusvorwurf ausgenommen wird meist das für die Massenbildung mitverantwortliche Medium der Übertragung, die Tatsache nämlich, dass die Berliner Olympiade die erste Live-Übertragung einer Massenveranstaltung im Fernsehen war. Und in diesem Punkt unterscheidet sich 1936 entschieden von der 1896 ausgerichteten ersten Olympiade der Neuzeit. Allgemein wird die Erfindung des Fernsehens auf das Jahr 1928 datiert und die Zeit bis 1935 als «mechanische» Fernseh-Ära bezeichnet. An sich war die erste Live-Übertragung aus Berlin 1936 weder erfolgreich noch repräsentativ für spätere Übertragungen, wie Raymond Williams in Television: Technology and Cultural Form (1975) feststellt.5 Der Grund, weshalb die bewegten Bilder der Olympiade 1936 dennoch zum Publikumserfolg wurden und in Erinnerung blieben, lag in der Regiearbeit von Leni Riefenstahl bei Olympia: Fest der Völker, Fest der Schönheit (D 1938), dem Film, der zwei Jahre später erstmals vorgeführt werden sollte.

Riefenstahls Olympia

Für ihre preisgekrönte «Dokumentation» kontrollierte Riefenstahl das Zusammenspiel der Techniken zur Perfektion. Sie verfügte über eine Mannschaft von 60 Kameraleuten und ein Heer von Mitarbeitern. Das Resultat waren 400 000 Meter Filmmaterial, dessen Schnitt sie bis zur Endfassung zwei Jahre kostete. Olympia ist ein Film, an dem Riefenstahl sämtliche der bis heute gängigen Techniken der Sportfotografie erprobte und zum Teil erfand: Grossaufnahmen für die Nähe zum Geschehen, Zeitlupen zur Dehnung des Moments, Kamerafahrten mittels Kamerakränen für Aufnahmen auf die Zuschauergesichter, Luftaufnahmen für Vogelperspektiven auf die Masse, Aufnahmen aus Gräben und Gruben für die Froschperspektive auf die Athleten, wie auch Kameraschienen für die Aufnahme von schnellen Bewegungsabläufen. Sie alle haben den ästhetischen Entnazifizierungsprozess heil überstanden.

Als «faschistisch» gelten heute nur noch die spektakulären Beleuchtungen, die symmetrischen Plansequenzen und das framing, das die Athleten zu übermenschlichen Helden macht, wie auch die mythischen Überblendungen, die Riefenstahl für Triumph des Willens (D 1934), die «Dokumentation» des Nürnberger Parteitages, entwickelte. In Olympia kamen diese Filmtechniken nur im Prolog, dem Fackellauf, zum Einsatz. Er beginnt mit einer Kamerafahrt, die durch griechische Tempel führt und nach der ursprünglichen Stätte des Olympischen Feuers sucht. Sobald das heilige Feuer entzündet ist, startet der symbolträchtige Fackellauf durch die sieben später besetzten Länder zwischen Athen und Berlin. In Riefenstahls Olympia lässt sich heute unschwer die mythische Überblendung vom antiken Griechenland zum Dritten Reich erkennen, nämlich an den nahtlosen, scheinbar schnittfreien Übergängen der Kamerafahrt. Man durchschaut Riefenstahls Absicht, die Spuren einer an sich diskontinuierlichen Filmtechnik zu verdecken, wodurch ein kohärenter Raum um den Führer und dessen Eröffnungsrede entsteht. Die faschistische Wirkung dieser filmtechnischen Mittel ist heute bekannt, und wegen ihrer Nähe zu Hitler wurde Riefenstahl von der Filmindustrie bereits seit 1945 gemieden.6

Anders steht es um die von der Regisseurin eingesetzten Aufnahmetechniken der Grossaufnahmen, Zeitlupen, Kamerafahrten und Luftaufnahmen, die zum Repertoire jeder Sportübertragung und vieler Spielfilme gehören. Ob diesen filmtechnischen Mitteln ein faschistisches Erbe anhaftet, soll im Folgenden untersucht werden. Es geht also um die Frage, ob das heutige Verständnis einer faschistischen Ästhetik, so wie sie von Kracauer verstanden und in Triumph des Willens eingesetzt wurde, um eine subtilere, filmtechnische Dimension erweitert werden muss.

Optisch-Unbewusstes

Den Anfang der Medienwissenschaften markiert Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936). Benjamin erkannte darin bereits, dass das neue Medium des Films schockieren und damit revolutionär auf die eingeübten Wahrnehmungsweisen wirken kann. «Unter der Grossaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung. Und so wenig es sich bei der Vergrösserung um eine blosse Verdeutlichung dessen handelt, was man «ohnehin» undeutlich sieht, sondern vielmehr völlig neue Strukturbildungen der Materie zum Vorschein kommen, so wenig bringt die Zeitlupe nur bekannte Bewegungsmotive zum Vorschein, sondern sie entdeckt in diesen ganz unbekannte.»7 Von diesem «Optisch-Unbewussten» erfahren wir erst durch die Kamera, erst sie dringt in eine sichtbare Wirklichkeit ein, die damals noch durch die Malerei als erschlossen galt.8 Befremdlich an den neuen Möglichkeiten ist, dass vertraute soziale Verhältnisse wie Büros, Bahnhöfe und Wohnzimmer infrage gestellt werden. Der Film «hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunde gesprengt, so dass wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen».9 Das Befremdliche ist nach Benjamin bereits durch die Filmtechnik vorgegeben: «Das Befremden des Darstellers vor der Apparatur [...] ist von Haus aus von der gleichen Art wie das Befremden des Menschen vor seiner Erscheinung im Spiegel [...]».10 Der Film birgt damit die Möglichkeiten, entweder die entfremdende Technik ästhetisch zu unterschlagen oder sie sichtbar zu machen und damit auf eine soziale Entfremdung zu antworten. Folgt aus dem einen die faschistische «Ästhetisierung der Politik», so bewirkt das andere die revolutionäre «Politisierung der Kunst». Die Folgen hängen vom Einsatz der Filmtechnik ab. Benjamin schrieb seinen Aufsatz in den Monaten um die Berliner Olympiade, und als Zeitzeuge weist er auf den Zusammenhang von massenweiser Reproduktion und Reproduktion der Massen hin, der speziell bei der Olympiade evident wurde:

Der massenweisen Reproduktion kommt die Reproduktion der Massen besonders gelegen. In den grossen Festaufzügen, den Monsterversammlungen, in den Massenveranstaltungen sportlicher Art und im Krieg, die heute sämtlich der Aufnahmeapparatur zugeführt werden, sieht sich die Masse selbst ins Gesicht.11

Eine totalitäre Gefahr droht also in der «Entwicklung der Reproduktions- bzw. Aufnahmetechnik», mithilfe derer sich «Hunderttausende» «von der Vogelperspektive am besten erfassen» lassen. Zudem ermöglichen die neuen Techniken die Sicht der Masse auf sich selbst: Sie liefern «das Spiegelbild», das vom Einzelnen «ablösbar» und durch das Medium Film «transportabel geworden» ist.12 Faschistisch sind also nicht die Techniken der neuen Massenmedien an sich, sondern ihr Einsatz in den Montagen und Sequenzen, durch welche die Vielzahl der Einzelnen zur Masse wird.

Diese Techniken sollen nun auf eine mögliche Funktion der Massenbildung hin befragt werden, um zu prüfen, ob eine «Homogenisierung» der zerstreuten Masse zum Volkskörper bewirkt wird. Es ist hilfreich, zunächst die Psychoanalyse zu bemühen, um die Vorgänge der Identifikation zu verstehen, die um die historischen Ereignisse der Olympiade beschrieben wurden.

Spiegelstadion

Ein zweiter Zeitzeuge von 1936 ist der Psychoanalytiker Jacques Lacan, der tatsächlich unter den Zuschauern im Berliner Stadion weilte. «Am Tag nach meinem Vortrag über das Spiegelstadium [im nahe gelegenen Marienbad] verabschiedete [ich mich], um dem Wind der Zeit nachzuspüren, einer Zeit voll dunkler Verheissungen, an der Olympiade in Berlin».13 Was Lacan dort sah, deckte sich auf merkwürdige Weise mit seiner These in «Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion».14 In seinem Vortrag behandelt er jenes Entwicklungsstadium des Kindes, in dem es sich im Spiegel zum ersten Mal selbst begegnet. Die freudige Identifikation des Kindes mit dem Spiegelbild ist grundlegend für das Selbstverständnis seines Ichs. Insofern Lacans Arbeit zum Spiegelstadium die Grundlagen der visuellen Identifikation erforscht, wurde sein Aufsatz bereits seit 1975 für die Filmwissenschaften erfolgreich genutzt, speziell für das Verständnis der Zuschaueridentifikation mit den Schauspielern auf der Leinwand.15

Die freudige Identifikation mit dem Spiegelbild beinhaltet allerdings eine interessante Kehrseite, wie Lacan klarstellt. Das Kind verkennt im Spiegelbild nämlich seine wirklichen Körperverhältnisse, insofern das einheitlich wahrgenommene Selbstbild in krassem Gegensatz zu seiner motorischen Unreife und seiner sonstigen Wahrnehmung des Körpers steht. Ohne Spiegel nimmt man das eigene Gesicht nie wahr und erfährt die eigenen Gliedmasse als abgetrennte unzusammenhängende Objekte. Eben dieser optisch «zerstückelte Körper» (franz. «corps morcelé») kehrt nach Lacan in Traumbildern wieder und wird von einer Aggression gegen den «Anderen», den Doppelgänger beziehungsweise Rivalen im Spiegel, getragen.16 Auf die Kinosituation angewendet, liesse sich vermuten, dass der Zuschauer während der freudigen Identifikation mit den Leinwandhelden seine eigenen Unzulänglichkeiten zeitweilig vergisst und nebst der Bewunderung auch Rivalität mit den Leinwandhelden verspürt. – Wie lässt sich nun das «Drama des Spiegelstadiums» vor dem Hintergrund der Ereignisse im Olympiastadion verstehen?

Zunächst bedeutet Le stade du miroir, der Originaltitel des französischen Aufsatzes, wörtlich sowohl Stadium wie auch Stadion des Spiegels. Im Spiegel-Stadion der Olympiade hat Lacan also mitangesehen, wie die Zuschauer sich jubelnd mit den Modellathleten identifizierten. Und als er 1949 den Vortrag in Zürich ein zweites Mal hielt, war auch klar, dass die faschistische Heldenverehrung Spuren der Gewalt hinterlassen hatte. In dem Masse, wie die Nazis ein heiles Körperbild zum Ideal erhoben, wurden die unzulänglichen Körper vernichtet. Man kann nur vermuten, dass die Fantasie des «zerstückelten Körpers» an einem anderen Ort wiedergekehrt war. Es liegt der Verdacht nahe, dass die Kehrseite des Sports sich auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs und in den Vernichtungslagern gezeigt hatte. Und man könnte spekulieren, dass der Preis einer ausgeprägten Identität die Auslöschung der Anderen war. Auf die Verbindung von Stadion und Lager deutet zumindest folgender Satz von 1949 anekdotisch hin: «Entsprechend symbolisiert sich die Ich-Bildung in Träumen als ein befestigtes Lager, als ein Stadion, das – quer durch die innere Arena bis zur äusseren Umgrenzung, einem Gürtel aus Schutt und Sumpfland – geteilt ist in zwei einander gegenüberliegende Kampffelder.»17

Diese kriegerische Vorstellung des Kindes zeichnet den Verlauf der Subjektwerdung nach, der eben durch das Spiegelstadium verläuft. Lacans psychoanalytische Theorie bildet den Grundstein einer Antwort auf die Frage, wie die Identifikation des Zuschauers mit dem Athleten im Stadion verläuft und wie die spätere Gewalt ausserhalb des Stadions möglicherweise mit der Identifikation zusammenhängt.

Anrufung der Zuschauer

Es braucht hier eine Erklärung der Vorgänge, die beschreibt, wie die einzelnen Zuschauer sich zum Volkskörper formieren.18 Es fehlt die massenpsychologische Sicht. Um diese einzuführen, braucht es eine «doppelte Spiegelstruktur», ein Begriff, den Louis Althusser, marxistischer Vordenker des Post-Strukturalismus und Freund Lacans, 1970 in die Diskussion einbrachte. Die «doppelte Spiegelstruktur» ist Teil von Althussers bahnbrechender Theorie der sogenannten «ideologischen Anrufung», die das Spiegelstadium um die Dimension der Massenpsychologie erweitert.19 Wie kommt es, fragt Althusser, dass Individuen sich freiwillig unter die Herrschaft einer Ideologie stellen? Zeigte Lacan, wie ein Individuum zum Subjekt wird, so fragt Althusser, wie Subjekte freiwillig zur Masse werden und diese dann zum homogenen Volkskörper wird. Seine bekannte Formel besagt, dass «ein Individuum als (freies) Subjekt angerufen wird, damit es sich aus freien Stücken dem Befehl des [Führer-]Subjekts unterwirft, das heisst seine Unterwerfung (frei) akzeptiert».20 Die ideologische Anrufung erfolgt nach Althusser in vier Schritten:

— Die Anrufung von «Individuen» als Subjekte.

— Deren Unterwerfung unter das Subjekt (bzw. den Führer).

— Die Anerkennung der Subjekte untereinander und des (Führer-)Subjekts.

— Die absolute Garantie, dass alles wirklich so ist und dass alles in Ord­nung sein wird.

Versucht man nun, die vier Schritte der Massenbildung an Riefenstahls Olympia nachzuweisen, so stellt sich die Frage, wie diese filmtechnisch umgesetzt wurden. Bei der genauen Betrachtung von Olympia fällt auf, dass sämtliche Wettkämpfe durch dieselbe Montage von Aufnahmesequenzen verbunden sind. Von Jesse Owens 100-Meter-Lauf bis zur Abschlussstaffel folgen alle demselben Einstellungsmuster: Die Einstellungen gehen vom Athleten auf den Stadionzuschauer, zurück zum Athleten, dann auf die Masse und zuletzt zu Hitler. Diese Abfolge verzichtet auf dramatische Beleuchtung, monumentale Symmetrie oder mythische Überblendung und setzt lediglich Grossaufnahmen, Plansequenzen, Kamera- und Krankamerafahrten und Luftaufnahmen ein, wie sie noch heute in der Sportübertragung zum Einsatz kommen. Hitler geniesst das Spektakel auf den Rängen, ähnlich der heutigen Stadionprominenz. Am Beispiel des Kugelstossens lassen sich Riefenstahls Bildsequenzen mit Althussers Ideologieschritten in Übereinstimmung bringen:

— In einer ungeschnittenen Grossaufnahme erscheint der Kugelstösser, der im Zentrum des Stadions das ideale Spiegelbild für den Zuschauer abgibt (Abb. 1). Eine Krankamerafahrt mit ungeschnittener Grossaufnahme zeigt einen jugendlichen Stadionzuschauer, der in die Betrachtung seines Vorbilds vertieft ist, bevor er vor Freude in Jubel ausbricht (Abb. 2). Mit Lacan gesprochen markiert dieser Moment die Verkennung, insofern der einzelne Zuschauer sich mit dem Spiegelbild, dem Modellathleten, identifiziert.

— Die Kamera schwenkt zurück auf den Athleten. Eine weitere Krankamerafahrt zeigt die jubelnde Menge auf Augenhöhe und im Angesicht ihrer selbst (Abb. 3). Eine Luftaufnahme fasst die jubelnde Masse aus der Vogelperspektive zu einem homogenen Volkskörper zusammen (Abb. 4). Filmtechnisch wird so die Anerkennung der Subjekte untereinander und ihre Formierung zum Volkskörper für den Zuschauer hergestellt.

— Dann bewegt sich die Kamera in einer Kamerafahrt seitlich zum applaudierenden Führer, so als hiesse dieser die imaginären Identifikationen der einzelnen Zuschauer mit den Athleten und deren Formierung zum homogenen Volkskörper gut (Abb. 5). Aus dieser Einstellung erfolgt die Anrufung des Volkskörpers unter die Führerfigur.

— Der Applaus des Führers rückt diesen in die Position eines einfachen «man of the crowd» (Edgar Allan Poe). Genau diese trügerische Einstellung, die dem Blick der Weltöffentlichkeit gilt, charakterisiert die Unscheinbarkeit des Faschismus. Ein durch Benjamin, Lacan und Althusser geschulter Blick erkennt, dass der Führer weniger den Athleten als dem Schauspiel der Massenbildung applaudiert – nicht nur der Massen im Stadion: Die Kameratechnik macht diese zu Akteuren des eigentlichen Schauspiels der Massenbildung vor den Bildschirmen zu Hause und vor den Leinwänden in den Kinos.21

Es ist der Montagetypus dieser Aufnahmesequenz, der Riefenstahls Olympia durchzieht und der sich in der Übertragung von sportlichen Massenveranstaltungen bis heute bewährt hat. Diese Kurzanalyse von Riefenstahls Olympia zeigt, dass Filmverbote von rechtsextremen Inhalten machtlos sind gegenüber dem in der Sportübertragung wirksamen Einsatz von Aufnahmetechniken. Sie gehören seit 1938 zum Regie-Handwerk jeder Sportübertragung. Eine lange Grossaufnahme des Sportlers, ein kurzer Blick ins Gesicht eines Zuschauers, eine Luftaufnahme in die Zuschauerränge und ein gelegentlicher Schwenk auf die Prominenten-Loge – all dies scheint uns so vertraut wie die Vorgänge im Stadion selbst. Für den ungeschulten Blick tragen diese Montagen bloss etwas von der Stadionatmosphäre ins Wohnzimmer. Wie oben veranschaulicht, sind Riefenstahls Schnitte konsequent in Sequenzen organisiert, die dem Narrativ der Anrufung folgen. Unsere Analyse zeigt, dass die Sportübertragung ein faschistisches Erbe enthält, das der Massenbildung zuträglich ist. Denn obschon die Aufnahmetechnik nach Benjamin an sich revolutionäre Einsichten in das «Optisch-Unbewusste» liefert, wirkt eine bestimmte Abfolge von Montagen gezielt auf die Entwicklung der Massen hin zum Volkskörper. Die leidenschaftliche Teilnahme der Zuschauer vor den Bildschirmen ist nicht unsinnig, sondern zeugt von einer erfolgreichen Anrufung als Masse unter eine Führung. Auf den Aspekt der Führung kann hier nicht eingegangen werden, doch wie Tan Wälchli plausibel zeigte, gehört die faschistische Führerfigur in eine Reihe von Figuren, die von Cäsar bis zur heutigen Stadionprominenz reicht.22

Eine unserer Einsichten ist, dass Olympia in Bezug auf Massenbildung weit nachhaltiger wirkt und für Sportübertragungen weiterhin erfolgreicher genutzt wird als Triumph des Willens, eben weil die Struktur der Anrufung darin angelegt ist. In Triumph des Willens, Riefenstahls «Dokumentation» zum Reichsparteitag, sind sämtliche Aufnahmen aus der Perspektive des Führers gemacht: von der Vogelperspektive zu Beginn, als Hitlers Flugzeug auf Nürnberg zu fliegt, bis zur erhöhten Kameraperspektive, welche die Massen einfängt. Zeit und Raum bilden eine geschlossene Einheit und fügen sich um den Führer. In Olympia hingegen, wo der Führer in die Rolle des Zuschauers rückt, führt die Kamera die Zuschauer subtil durch die Entwicklungsphase des Spiegelstadions gemäss Althusser und Lacan. Riefenstahls technische Neuerungen und die Aneinanderreihung von bestimmten Sequenzen befördern eine faschistische Ästhetik, die der Kritik bisher entgangen ist. Meine Analyse soll gezeigt haben, dass das historische Verständnis einer faschistischen Ästhetik, wie es aus Kracauers Analysen und filmwissenschaftlichen Untersuchungen von Olympia und Triumph des Willens bekannt ist, unzureichend ist.23 Die Nachkriegsironie besteht darin, dass die Regisseurin Riefenstahl von der Filmindustrie bis zuletzt gemieden wurde, währenddessen ihre filmtechnischen Neuerungen immer noch auf eine proto-faschistische Art eingesetzt werden.

Unsere Untersuchung ging von der Frage aus, weshalb Sportübertragungen die höchsten Einschaltquoten erreichen, und fand die Antwort darin, dass ein bestimmter Einsatz von filmtechnischen Mitteln für das Gelingen der Anrufung und der Massenbildung verantwortlich ist. Es mag einerseits überraschen, dass der Erfolg von Sportübertragungen nicht unmittelbar mit dem Sport zusammenhängt, andererseits hilft die vorliegende Kurzanalyse, das Phänomen zu erklären, dass viele Stadien halb leer stehen, während die Einschaltquoten in die Höhe schnellen.

Die Untersuchung führte aber auch zu einer Reihe neuer, massenpsychologischer Fragen. War 1936 der Zusammenhang von Massenbildung und Kriegsmobilmachung klar ersichtlich, d. h. jener von Stadion und Lager, so ist heute die Kehrseite der Sportübertragung weniger deutlich erkennbar. Um der Frage nachzugehen, wo die Fantasie des «zerstückelten Körpers» jeweils ausgetragen wird, bedarf es einer eigenen Untersuchung. Man kann nur vermuten, dass Riefenstahls Versuche, das Befremdliche der Filmtechnik zu kaschieren und das entfremdete Subjekt im Volkskörper unterzubringen, die Fantasie des «zerstückelten Körpers» weiter fördert.

Hartmut Gabler, «Zuschauen im Sport – Sportzuschauer», in: Bernd Strauss (Hg.), Zuschauer, Göttingen 1998, S. 113 –138.

Genau 44 Prozent der Befragten einer Umfrage in Deutschland 1998 stimmten der Aussage zu. Siehe Uli Gleich, «Sport, Medien und Publikum: Eine wenig erforschte Allianz», in: Media Perspektiven 3 (1998), S. 144 –148, hier: S. 145.

Siegfried Kracauer, Ornament der Masse: Essays, Frankfurt am Main 1963.

Dokumentiert ist zudem der Vorfall, als Hitler Jesse Owens nach dem Sieg die Hand verweigerte. Owens bemerkte später, dass auch der US-amerikanische Präsident zu Hause den Handschlag verweigerte.

Raymond Williams, Television: Technology and Cultural Form, New York 1975.

David Bordwell / Kristin Thompson, Film Art: An Introduction, Wisconsin 1993, S. 348.

Walter Benjamin (1936), «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit», in: ders., Gesammelte Schriften I/2, Frankfurt am Main 1974, S. 471– 508, hier S. 500.

Benjamin (wie Anm. 7) S. 500.

Benjamin (wie Anm. 7) S. 499f.

Benjamin (wie Anm. 7) S. 491.

Benjamin (wie Anm. 7) S. 509.

Benjamin (wie Anm. 7) S. 491.

Jacques Lacan (1958), «Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht», in: ders., Schriften I, 4. Auflage, Weinheim/Berlin 1996, S. 171– 239, hier S. 189.

Jacques Lacan (1949), «Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion», in: ders., Schriften I, 4. Auflage, Weinheim/Berlin 1996, S. 61–70.

Zu Beispiel Laura Mulvey, «Visual Pleasure and Narrative Cinema», in: Screen 16.3 (1975), S. 6 –18.

Lacan (wie Anm. 14), S. 67.

Lacan (wie Anm. 14), S. 67.

Mit dem Begriff «Zuschauer» sind im Folgenden die Fernseh- und Kinozuschauer gemeint, das eigentliche Zielpublikum seit 1936.

Louis Althusser, «Ideologie und ideologische Staatsapparate: Anmerkungen für eine Untersuchung», in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate: Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg 1977, S. 108 –153, hier S. 148.

Althusser (wie Anm. 19), S. 140.

Seit der ersten massenmedialen Übertragung eines Sportanlasses 1936 ist das Zielpublikum der Anrufung, das heisst der Massenbildung und Herstellung des Volkskörpers, das Fernseh- beziehungsweise Kinopublikum. Das Stadionpublikum, das zum Gelingen der Anrufung zwar notwendig ist, ist nur Teil des inszenierten Spektakels.

Tan Wälchli, «Mythen, Märchen, Theater: Die Traumwelten des Sports», in: Soda 24 (Juni 2004), S. 52 –57.

Siehe Kracauer (wie Anm. 3) und Bordwell / Thompson (wie Anm. 6).

David Ratmoko
Prof. Dr., Studium der Malerei in London, der Anglistik und Germanistik in Zürich, lehrte und forschte an der Uni Zürich und in Yale und publiziert zu verschiedenen Themen der Kulturwissenschaften.
(Stand: 2013)
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