GINA BUCHER

ABSCHIED VOM FILMRISS — WIE VERÄNDERT DIE DIGITALE ZEITENWENDE DEN KINOFILM?

ESSAY

Das Aufnahme-Icon wird auf vielen Geräten noch immer als Filmrolle dargestellt, als klobige kinematografische Apparatur, oder manchmal auch als Filmklappe. Diese Symbole sind international verständlich, und auch die jüngeren Jahrgänge verstehen, worum es geht: Record, play, stop. Tatsächlich sind die Filmrollen, und mit ihnen die schwerfälligen Apparaturen, im Kino nahezu verschwunden. Ein Spielfilm besteht nicht mehr aus 35 Millimeter breitem Zelluloid, aufgewickelt auf mehreren bis zu 30 Kilo schweren Filmrollen, sondern ist zu einem riesigen verschlüsselten Datensatz auf einer Festplatte in Taschenbuchgrösse geworden, der, im neuen Projektor eingelegt, Teil einer vollautomatischen Playlist wird.

Filmkorn versus Pixel

Heute knattert der Film nicht mehr laut und lässt sich im Vorführraum nicht mehr anfassen. Film, das ist somit nicht mehr am Set auf Zelluloid gebanntes Licht, das über Nacht mit speziellen Chemikalien entwickelt wird. Film, das ist nicht mehr greifbares, fragiles Material, welches das Handwerk von Cuttern sowie die sorgfältige Handhabung durch einen – in unserer Vorstellung klischiert verschrobenen – Operateur (der heimlich wertvolle Szenen aus den Filmen schneidet) erfordert. Aus Zelluloid wurden Pixel, die noch auf dem Set eingesehen, in der Postproduktion beliebig manipuliert und anschliessend nach Wahl vermehrt werden können. Das Fingerspitzengefühl kommt heute höchstens noch auf der Spezialtastatur zum Tragen.

Von der filmischen Aufnahme über die Entwicklung und Bearbeitung bis zur Vorführung wurde die komplette filmische Produktionskette in den letzten Jahrzehnten etappenweise digitalisiert. Wovon seit den 1990er Jahren sowohl kritisch als auch euphorisch die Rede war, wurde in den letzten Jahren endlich Realität: Der Film ist digital geworden. Auf analoge Weise wird nur noch im Ausnahmefall produziert. Ab 35 Millimetern zeigen die Kinos allenfalls noch cinephile Retrospektiven und Schulfilme. Seit 2013 liefern die grossen Major-Studios keine analogen Kopien mehr an die Kinos, bis 2015 sollen sie komplett verschwunden sein. Der Standard des filmischen Korns auf Zelluloid, ob 16, 35 oder 70 Millimeter, ist damit zum Auslaufmodell geworden. Pixel heisst die neue verbindliche Währung.

Überraschung versus Unmittelbarkeit

Seitdem in vergangenen Jahren die Technik sprunghaft besser geworden ist, werden kritische Stimmen leiser. Die Kameraleute verweisen beeindruckt auf die Arri Alexa; die Operateure vergessen langsam die Nummer der Technik-Hotline, die sie immer seltener zu Hilfe rufen müssen. Die Kinokultur erlebt damit – nach dem Umrüsten von Stumm- auf Tonfilm Ende der 1920er Jahre, von Schwarz-Weiss auf Farbe kurze Zeit später und von schmalreren auf diverse Breitwandformate in den 1950ern – ihre vierte Revolution. Womit sich, wie bei Revolutionen üblich, bestehende Machtverhältnisse verschieben: Der Kameramann oder die Kamerafrau sind nicht mehr die einzigen Zauberer auf dem Set; der Operateur verkauft, sofern er nicht entlassen wurde, jetzt auch Popcorn; Transportunternehmer und Filmentwickler sind arbeitslos geworden, kleine Kinos werden geschlossen.

Obwohl sich die Mehrheit der Filmemacher als auch die Zuschauer darüber einig sind, dass die digitale Wende vieles vereinfacht und verbessert hat, haften am physisch greifbaren Material noch immer Emotionen. Jene etwa des Kameramanns, der zu Zeiten des Zelluloids auf dem Set der Voodoomeister – als solchen beschreibt ihn etwa David Fincher in Side by Side (Christopher Kenneally, USA 2012) – schlechthin war. Nur er überschaute die ganze Szene und konnte erahnen, was die dailies vom nächsten Tag zeigen würden. Heute sehen die Schauspieler schon auf dem Display des Kameramanns, ob die Frisur sitzt oder die Träne schön kullert. Die Aufnahme ist unmittelbar geworden. Es gibt keine Distanz mehr zum Ergebnis, keine Nacht mehr vor dem finalen Bild.

Stattdessen ist das Bild durch die Pixel komplexer geworden. Bereits auf dem Set werden stellvertretende Grafiken für die späteren compositings auf dem Display eingefügt. Das verlangt nach einer abstrakteren Denkweise der Macher; die Kameraleute verantworten jetzt die Grundarchitektur des Bildes. Im Extremfall ist es wie bei Life of Pi (Ang Lee, USA/Taiwan 2012), wo der Film eigentlich nur noch pro forma gedreht wurde. Die Verhältnisse haben sich verkehrt: 14 Prozent des Tigers sind noch real, die restlichen 86 Prozent ergänzte der Visual Effects Supervisor Bill Westenhofer in der Nachbearbeitung. Die weissen Fellpartien des Tigers sind keine ausgebrannten Flecken mehr, sondern beliebig bearbeitbare Pixel.

Filmriss versus Playlist

Eine technisch-qualitative Begründung gibt es faktisch nicht mehr: 35 Millimeter oder digital, ist zu einer Frage der Haltung geworden. Sehr wohl gilt aber das ökonomische Argument: Die grossen Studios wollen aus Kostengründen lieber nur noch digital produzieren. Selbst wenn sich Regisseure wie Quentin Tarantino (zuletzt mit Django Unchained, USA 2012) oder Christopher Nolan (zuletzt mit The Dark Knight Rises, USA 2012) dagegen sperren: Für die Kinos ist die Umstellung auf Digitalfilm zur Notwendigkeit geworden. Seit Hollywood 2005 die technischen Standards für die Digitalisierung festgelegt hat, wurden über 90 Prozent der Schweizer Kinoleinwände für digitale Projektionen umgerüstet; nur noch ein Bruchteil der Filme sind als analoge Kopien verfügbar. Die wenigen Operateure, welche die Ankunft der Pixel überlebt haben, halten fest: Digital funktioniert – sobald es denn einmal funktioniert. Im Gegensatz noch zu den Nullerjahren ist dies mittlerweile tatsächlich meistens der Fall. Einmal richtig programmiert und kalibriert, macht die Maschine das meiste selbst: Play, stop, play again. Konnte ein erfahrener Operateur einen Filmriss immer selbst beheben, braucht es bei Problemen mit den digitalen Projektoren meist einen Informatiker. Für die Verleiher dagegen reduziert sich die rund 3000 Franken teure 35-Millimeter-Kopie auf etwa 40 Franken für eine digitale.

Die Zäsur für diese vierte Revolution stellt der Blockbuster Avatar (James Cameron, USA 2009) dar. Dieser und weitere 3D-Filme mögen zwar eine Modeerscheinung sein – den Kinos erleichterten sie die digitale Umrüstung. Schliesslich versetzt die Spezialbrille viele Zuschauer scheinbar direkt in den Film – eine Erfahrung, wofür sie zu zahlen bereit sind. Doch auch da gilt die gleiche Faustregel wie bei herkömmlichen Filmen: Auch viel Technik ist keine Garantie für Umsatz, letztlich zählt der Inhalt des Films. Tatsächlich erkennt der durchschnittliche Kinobesucher den Unterschied zwischen analoger und digitaler 2D-Projektion kaum – sehr wohl aber bemängelt er eine abgenutzte 35-Millimeter-Kopie.

Kopie versus Klon

Die Pixel verändern aber auch den Blick auf die Filmkunst. Eine vergleichsweise winzige Speicherkarte mit unsichtbaren Datensätzen soll Kilometer von belichtetem Zelluloid ersetzen können? Ich glaube nur, was ich sehen und anfassen kann – egal ob das altbewährte Zelluloid ungleich teurer und empfindlicher ist. Es ist nicht mehr Gold, das durch die Geräte gespult wird, sondern verhältnismässig günstiger und vor allem überspielbarer Speicherplatz. Damit wird die Filmproduktion – sofern das durch das Material gesparte Geld nicht für aufwendige Spezialeffekte ausgeben wird – günstiger und demokratischer (loben Fürsprecher), aber auch ökonomisierter und damit kommerzieller (kritisieren Skeptiker). Andererseits geht es bei Dateien – anders als bei Zelluloid – stets um alles oder nichts: Wird eine Filmrolle Zelluloid beschädigt, kann ein Fachkundiger zumindest Teile des Films retten. Geht eine Festplatte kaputt, ist der Film unwiderruflich zerstört. Einen vergleichsweise banalen Filmriss gibt es bei digitalem Film nicht mehr. Wenn Werner Herzog in The White Diamond (D/J/GB 2004) mit dem Zeppelin in heikler Mission abhebt und sich mit dem theatralischen Ausruf «in celluloid we trust» verabschiedet, drückt er damit das Unbehagen aus, das die Pixel trotz all ihrer wahnsinnigen Möglichkeiten bei vielen ausgelöst haben.

Der wichtigste Punkt aber ist: Durch den digitalen Film haben wir es nicht mehr mit Kopien, sondern mit Klonen zu tun. Anders als eine Kopie, die als weniger wertvoll gilt als das Original, ist der Klon diesem ebenbürtig – was einen Klon paradoxerweise noch wertloser macht. Weil jede geklonte Version so perfekt ist wie die Ursprungsversion, ist theoretisch jede Version auch ein Original – beziehungsweise wird ein solches obsolet. Was wiederum zur Frage führt: Welche Version kommt ins Archiv? Bekanntlich ist durch die Digitalisierung zwar wohl die Distribution, aber damit nicht unbedingt auch die Archivierung einfacher geworden. Gespeichert ist nicht gleich archiviert; das Zauberwort dazwischen heisst Migration, ändern sich doch nach wie vor Formate und Geräte. Ein Teil der Originaldaten von Toy Story (John Lasseter, USA 1995) etwa war bereits fünf Jahre nach Erscheinen des Films nicht mehr brauchbar, weil die digitalen Informationen nicht mehr vollständig vorhanden waren. Aus den Archiven sind denn auch die meisten kritischen Stimmen zu hören, denn beim Archivieren sparen die Studios nicht durch das Material, sondern durch den lieblosen Umgang damit. Womöglich weil digitale Versionen eben nicht mehr originär und somit unspektakulär geworden sind. Denn digital bedeutet auch potenziell allgegenwärtig, im Sinne von jederzeit abspielbar. Vielleicht auch, weil die Archivierung der Filme im Gegensatz zu ihrer Produktion durch die Digi­ta­­lisierung eben nicht günstiger, sondern im Gegenteil viel teurer geworden ist. Ein digitales 4k-Master aufzubewahren kostet rund elfmal mehr, als einen Zelluloidfilm zu archivieren.

Die vierte Revolution hat gerade erst begonnen. Doch sogar Filmwissenschaftler, als letzte in der Kette, haben bereits begonnen, sie zu untersuchen. Sie werden vielleicht einmal sagen können: Das Kino wurde trotz bemerkenswerter Spezialeffekte fantastischer und gleichermassen eindimensionaler, weil das Bild plötzlich so sauber, der Ton so perfekt und die Projektoren so unscheinbar leise, ja das Material so flüchtig wurde. Oder vielleicht werden sie feststellen, dass auf einmal Bilder geschaffen wurden, die sonst ihren Weg ins Kino nicht gefunden hätten – wie zum Beispiel die Aufnahmen des Kameramanns Anthony Dod Mantle in den engen Gassen des Slums in Slumdog Millionaire (Danny Boyle, GB 2008). Einige Seminararbeiten zum verlorenen Filmriss sind auch schon geschrieben. Sehr wahrscheinlich werden am Ende auch die Filmwissenschaftler wie alle anderen festhalten: Film bleibt Film. Es ist nach wie vor ein unglaubliches Prozedere, bewegte Bilder überhaupt aufzeichnen zu können – egal ob auf Zelluloid oder Festplatte.

Gina Bucher
*1978 in Luzern, studierte Filmwissenschaft, Publizistik und Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Lebt in Berlin und Zürich als freie Autorin und Redakteurin. Zuletzt erschien von ihr Lieber barfuss als ohne Buch – Al­­manach der Bibliomanie (zusammen mit Beat Mazenauer, Salisverlag).
(Stand: 2014)
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