BETTINA SPOERRI

MON PÈRE, LA RÉVOLUTION ET MOI (UFUR EMIROGLU)

SELECTION CINEMA

Der 1980 in Antalya in der Südtürkei geborenen türkisch-schweizerischen Filmemacherin Ufuk Emiroglu gelingt in ihrem ersten langen Kinodokumentarfilm Mon père, la révolution et moi ein anrührendes Porträt ihres Vaters. Durchbrochen von Spiel- und Animationselementen, erzählt der Film von ihrem Kindheitsidol, dem Freiheitskämpfer, dem Rebell gegen das tyrannische Regime – der sich aber über die Jahre zu einer ganz anderen Figur entwickelt hat. Angereichert durch Archivmaterial, blickt Ufuk Emiroglu zurück in die 1970er Jahre. 1980, in ihrem Geburtsjahr, wurde ihr Vater verhaftet und von den Schergen gefoltert, doch er gab die Namen seiner Kameraden nicht preis. Die Gefängniszeit traumatisierte ihn nachhaltig; allerdings ist es eine Stärke dieses Films, dass er nicht einfach erklärt und psychologisiert, sondern einen die Metamorphose des Vaters aus den Augen des vorerst noch bewundernden Kindes mitverfolgen lässt. 1984 wandert die Familie Emiroglu in die Schweiz aus, siedelt sich in La Chaux-de-Fonds an, Ufuk lernt Französisch, während sich ihr Vater in dem sicheren Land zunehmend verloren fühlt (und, so ist anzunehmen, an posttraumatischen Stresssyndromen leidet). Er wird passiv, hilflos, depressiv. Und dann wird er eines Tages der Geldfälscherei überführt und landet wieder im Gefängnis. Nach der Entlassung entwickelt er sich zum Glücksspieler und Alkoholiker. Die Familie zerfällt, und Ufuk fragt sich: Was mache ich mit diesem Vaterbild, mit diesem Erbe?

Die Erzählstruktur des Films bleibt dabei nicht bei der biografischen Chronologie stehen, sondern gibt starken Kindheitsfantasie-Bildern viel Raum, akzentuiert, reflektiert, ironisiert durch die Augen der heute erwachsenen Tochter. Anders als etwa Ramòn Giger in Karma Shadub (2013) oder Kaleo La Belle in Beyond this Place (2010), die ihre Väter konfrontieren, wählt Emiroglu den introspektiven Weg. Sie setzt sich mit ihren Projektionen auf den Vater auseinander, ihren Traumbildern – und stellt sie der herben Realität gegenüber. Die äussere Reise der Familie löst eine innere Reise aus, die eine starke visuelle Ebene eröffnet. Hier ist Emiroglu äusserst erfindungsreich und findet die richtige Mischung zwischen Distanz und Nähe zum Vater, dem einstigen Idol, der nun von der desillusionierten, erwachsenen Tochter als Gesprächspartner aufgesucht wird, um verstehen zu können.

Mon père, la révolution et moi geht so auf einmal humorvolle, dann wieder nachdenkliche, schonungslose und mutige Weise der Frage nach Sinn und Bedeutung nach. Den einstigen Revoluzzer gibt es nicht mehr, doch die Tochter ist von der Vergangenheit und vor allem auch seinem Mythos geprägt – und in ihr lebt er nun weiter. Einfühlsam, respektvoll, doch nie mehr blind begegnet sie ihrem Vater. Beklemmend, traurig, gleichzeitig aber auch ermutigend ist dieser Film, in dem wenig beschönigt wird. Da wird die neue Stimme einer eigenwilligen Filmautorin sichtbar, auf deren weitere Arbeit man nun sehr neugierig ist.

Bettina Spoerri
*1968, Dr. phil., studierte in Zürich, Berlin und Paris Germanistik, Philosophie, Theater- und Filmwissenschaften, danach Dozentin an Universitäten, der ETH, an der F&F. Begann 1998, als freie Filmkritikerin zu arbeiten und war Redaktorin (Film/Theater/Literatur) bei der NZZ. Mitglied Auswahlkommission FIFF 2010–12, Internat. Jury Fantoche 2013, mehrere Jahre VS-Mitglied der Filmjournalisten, Mitglied bei der Schweizer Filmakademie. Freie Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses. CINEMA-Redaktorin 2010–2017, heute Mitglied des CINEMA-Vorstands. www.seismograf.ch.
(Stand: 2021)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]