ULRIKE HANSTEIN

GESTALTWECHSEL ZWISCHEN AVANTGARDE UND HORROR IN NIGHT TIDE

ESSAY

Es ist Sonntag. Am frühen Nachmittag ist es immer noch sehr heiss. Es ist nicht viel los an den Ständen und bei den Karussells auf dem Santa Monica Pier. Vor einem selbstgemalten Werbebanner sitzt ein älterer Mann mit Matrosenmütze (Gavin Muir) in einer kleinen Kassenbox. Das ist Kapitän Murdock. Er hat auch schon bessere Zeiten gesehen, früher auf See. Jetzt ist er hier gestrandet. Er wohnt in Venice, Kalifornien, und betreibt ein kleines Showgeschäft auf dem Pier. Er spricht in ein Mikrophon. Leicht verstärkt und verrauscht preist er an, was hinter ihm in der provisorisch gebauten Bude zu sehen ist: «Mora, ladies and gentlemen, Mora the Mermaid! The strangest creature in captivity! See her alive, see her living under water! Half woman, half fish! The strangest creature in captivity! For 25 cents, ladies and gentlemen! One quarter of a dollar! The thrill of your life! Only 25 cents for Mora the Mermaid.»

Während Murdock spricht, fährt die Kamera langsam zurück und gibt einen grösseren Ausschnitt des Raumes zu sehen. Ein weiteres Reklameschild wird sichtbar, das an der Kassenbox befestigt ist. Darauf steht: «Lovely Siren of the Deep». Ein Schuljunge bleibt vor Murdocks Kasse stehen und kramt in der Hosentasche nach Kleingeld. Von links laufen zwei grössere Jungs ins Bildfeld. Sie ziehen ihren Freund am Ellenbogen weiter. Eine Meerjungfrau? So einfach lassen sie sich nicht betrügen.

Es folgt eine sehr langsame Überblendung zu einer halbtotalen Einstellung, die den dunklen Innenraum der Schaustellerbude zeigt. Dazu setzt instrumentale Musik ein: eine liebliche Melodie in getragenem Tempo, Streicher, Bläser und eine Triangel. Über die Wände des dunklen Raumes wandern kleine Lichtreflexe, als befände man sich unter Wasser. Im Zentrum des Bildfeldes steht ein grosser Kasten, aus dem Licht an die Decke strahlt. Ein junger Mann im weissen Matrosenanzug steigt ein paar Stufen hoch auf ein kleines Holzpodest. Das ist Johnny Drake (Dennis Hopper), ein Marinesoldat aus San Pedro. Johnny steht auf dem Podest und senkt seinen Blick. Er schaut von oben in den grossen Kasten und lächelt. Bildschnitt. Eine Naheinstellung zeigt, was er im Behälter unter Wasser erblickt: Moras Gesicht mit geschlossenen Augen (Linda Lawson). Ihr dunkles, langes Haar umspielt ihr Antlitz. Sie liegt auf Sand, zwischen Seesternen und Muscheln. Das ist der Meeresboden. In ihrer linken Hand hält sie einen Kamm und streicht damit sacht durch ihr Haar. Eine langsame Kamerabewegung lässt den Blick über Moras Körper wandern: vom Gesicht über den Oberkörper, den Bauch, den schuppigen Unterkörper, bis zu der grossen, gekerbten Schwanzflosse. Einige Verwischungen im Bild zeigen eine leichte Wasserbewegung an. Unter dem Wasser, eigentümlich entrückt wie ein Trugbild, lebt Mora, die betörende Sirene aus dem Meer (Abb. 1) .

Wir sind in der 23. Minute von Curtis Harringtons Film Night Tide (US 1961) und wir sehen Johnny schon eine Weile dabei zu, wie er sich verzückt um Mora bemüht. Am Vorabend hat Johnny Mora in einem Jazz-Café in Venice kennengelernt. Da trug sie keinen Fischschwanz, sondern ein helles Kleid. Er hat sie nach Hause begleitet. Er durfte nicht mit hochkommen in ihre Wohnung über dem Karussell auf dem Santa Monica Pier. Er wollte sie wiedersehen und rang ihr eine Einladung zum Frühstück am nächsten Morgen ab. Zum Frühstück gab es Makrelen. Das war etwas irritierend. Sie liebe Sachen aus dem Meer, meinte Mora. Dann erzählte sie ihm von ihrer Arbeit auf dem Pier. Sie sei eine Jahrmarkts-Attraktion (Abb. 2): «I am a mermaid.» Verblüfft fragte Johnny nach: «You are what?» Mora gab ihm eine Erklärung: «A mermaid – half woman, half fish.» Dann setzte sie ihn ins Bild, wie der Trick funktioniert. Sie läge mit einem Fischschwanz-Kostüm in einem Tank und es sähe so aus, als läge sie unter Wasser. Das wollte Johnny mit eigenen Augen sehen. Er hat sie zur Arbeit gebracht. Nachdem sie sich umgezogen hatte, ist er reingegangen in den Sirenen-Schauraum. Murdocks Werbung hatte nicht zu viel versprochen: «The thrill of your life!»

Mit der Figur «Mora the Mermaid» setzt Night Tide eine verwandelte Gestalt in Szene. Verwandlungen können als Dynamiken des Übergangs zwischen zwei in ihrer ausgeprägten Form und in ihrem zeitlichen Auftreten unterschiedenen Zuständen eines Wesens oder einer Sache beschrieben werden. Mit dem Bemerken einer Differenz zwischen zwei bestimmten Erscheinungsweisen eines Wesens oder einer Sache (entweder/oder) und der zeitlichen Abfolge (vorher/nachher) verändert sich auch die Auffassung und Interpretation des Wahrgenommenen. Die Bilder von Night Tide geben instabile Erscheinungen zu sehen, die sich eindeutigen Zuweisungen entziehen. Diese Besonderheit der Bilder führt im Zusammenspiel mit der Imagination der Zuschauer/-innen zu schwankenden Interpretationen des sinnlich Wahrgenommenen. Durch die Konstruktion der Erzählung und durch die Bildgestaltung transformiert Night Tide Konventionen der Darstellung. Die Bilder nehmen Formen und Verfahren des frühen Avantgarde-Films auf und übertragen sie in einen neuen Darstellungszusammenhang – in die Spannungs-Dramaturgie eines Horrorfilms. Die wechselnden filmästhetischen Bezüge und die unterschiedlichen Traditionen entstammenden Bildkonzepte von Night Tide halten somit auch die sich entfaltende filmische Form im Wandel.

Im Folgenden möchte ich die Formen der Verwandlung im Film und den Formenwandel des Films in drei kontextuellen Rahmungen betrachten: Zunächst soll es um den Übergang zur unabhängigen Filmproduktion im amerikanischen Kino gehen, dann um die Fiktion des Gestaltwechsels im Horrorfilm und schliesslich um die Übertragung von Bildkonzepten des Avantgarde-Films in ein populäres Genre. Durch diese filmkulturelle, filmästhetische und filmhistorische Annäherung gewinnt die Figur «Mora the Mermaid» einen spezifischen Sinn: Sie ist eine Allegorie für das metamorphe Nachleben der frühen Film-Avantgarde. Die Bildwelt von Night Tide überliefert und variiert ästhetische Verfahren, die das Medium Film in seiner die Wirklichkeit überschreitenden Verwandlungsmacht erkunden.

Umstellung: Vom Studiosystem zur unabhängigen Produktion

In der künstlerischen Arbeit von Harrington und in der Geschichte der Filmproduktion in Los Angeles zeigt Night Tide einen Wechsel an. Night Tide ist der erste lange, für eine kommerzielle Auswertung produzierte Spielfilm von Harrington. In den späten 1940er-Jahren hatte er im Umfeld von Kenneth Anger und Gregory Markopoulos kurze Avantgarde-Filme im 16-mm-Format realisiert. Nach einem längeren Aufenthalt in Frankreich kehrte Harrington nach Los Angeles zurück und war ab 1955 als Assistent von Jerry Wald tätig. Wald arbeitete als Produzent für die Columbia Studios und später für die Fox Studios. Zu Harringtons Aufgaben gehörte es, Drehbücher und Romane zu lesen und die Eignung der Stoffe für eine filmische Umsetzung zu bewerten.1

Zum Mythos von Hollywood gehört die Vorstellung, dass in Los Angeles alle Kellner/-innen eigentlich Schauspieler/-innen sind, dass alle ein heimliches Filmprojekt in der Schublade haben und auf ihre Entdeckung hoffen. Diese Erzählung findet sich auch in Harringtons 2013 posthum veröffentlichten Memoiren. Darin schreibt er: «Throughout all my years with Jerry Wald, I never let go of my secret plan to launch myself as a director. In my spare time, I wrote a screenplay based on an unpublished short story I had written while in France. Looking through the poems of Edgar Allan Poe, I found the perfect title, ‹Night Tide›, from ‹Annabel Lee›. It was the story of a young American sailor’s encounter with a sideshow mermaid, who might or might not be the real thing.»2

Mithilfe privater Investoren wurde Night Tide von Aram Kantarian und mit Unterstützung von Roger Corman mit einem Gesamtbudget von 75 000 Dollar produziert. Die Aussenaufnahmen wurden mit einem kleinen Stab von Technikern, die nicht der Gewerkschaft angehörten, an Originalschauplätzen in Santa Monica, Venice und Long Beach gedreht. So konnten die strikten Vorgaben der Gewerkschaft für die Löhne und Arbeitszeiten der Beschäftigten umgangen werden. Lediglich die Dialogszenen in Innenräumen wurden in einem für kurze Zeit angemieteten Studio und unter gewerkschaftlich geregelten Arbeitsbedingungen gedreht. Durch die unabhängige Produktion lagen alle Entscheidungen in Harringtons Hand. Dennoch blieben künstlerische Kompromisse nicht aus, wie er in einem Interview mit John Palmer aus dem Jahre 1964 deutlich herausstellt: «Night Tide is first of all a commercial story. I would never have gotten the money for it if I hadn’t put in the vernacular of a sort of Hitchcock type thriller, and so in that sense it certainly is a concoction. But it has a number of more personal elements in it.»3

Trotz der Abwandlung des persönlichen Projekts in ein populäres Genre wurde Night Tide von der zeitgenössischen amerikanischen Filmkritik neben Filmen von John Cassavetes und Shirley Clarke als konsequente Umsetzung eines neuen, unabhängig produzierten, expressiven Kinos eingeschätzt.4 Night Tide wurde 1961 bei den Filmfestspielen von Venedig gezeigt und lief kurz danach als Sonderaufführung in Paris, in der Cinémathèque Française. Obwohl Night Tide in Europa sehr anerkennend aufgenommen wurde, blieb dem Film die von Harrington angestrebte, weite Distribution in den Vereinigten Staaten versagt. Roger Cormans Filmgroup übernahm schliesslich den amerikanischen Verleih. Night Tide kam nur als zweiter Teil eines Doppel-Programms in die amerikanischen Kinos.5 Mit Blick auf die Schwierigkeiten der Distribution führt Harrington in seinen Memoiren die herablassende Einschätzung eines Hollywood-Produzenten an. Dieser empfahl Harrington für seinen ästhetisch eigensinnigen Film eine etwas bizarre Verkleidungsnummer: «[…I]n Hollywood’s eyes, the film was not ‹commercial› (read: ‹conventional›) enough, and I received no particular attention because of it. One lowbrow producer told me that maybe if I dubbed the film in French it would have a better chance as an ‹art› film.»6

Gestaltwechsel: Verstellung und Verwandlung

Ebenso wie andere Low-Budget-Horrorfilme aus den 1940er- bis 1960er-Jahren bezieht Night Tide seine Spannung und affektive Kraft aus der ästhetischen Fiktion des Gestaltwandels. Am Anfang des Films wird die Täuschung entlarvt: Moras Posieren als Meerjungfrau ist eine theatrale Vorführung. Ihr Fischschwanz ist lediglich ein Kostüm und dient einer Verstellung. Doch jenseits der zeitlich und räumlich gerahmten Jahrmarktsnummer bleiben Moras Wesen und ihre Absichten für Johnny – und für die Zuschauer/-innen des Films – undurchschaubar. Mit fortschreitender Handlung verdichten sich die Hinweise darauf, dass Mora willenlos unheimlichen und zerstörerischen Kräften unterworfen ist. Die selbstbestimmte Verstellung (die Verkleidung als Meerjungfrau) wird zur unwillkürlichen Verwandlung, bei der sich nicht nur Moras äussere Erscheinung, sondern auch ihr Wesen entscheidend verändert.7 Kapitän Murdock warnt Johnny vor Mora. Murdock erzählt, dass Mora auf einer griechischen Insel geboren sei und von den sea people abstamme. Sea people, so erklärt Murdock, seien ein altes Volk, das in der Tiefe des Meeres lebe. Die sea people riefen Mora als eine der ihren zurück ins Meer. Besonders stark seien die auf Mora einwirkenden Anziehungskräfte des Meeres bei Flut in Vollmondnächten. An ihre Herkunft und Bestimmung wird Mora von einer – plötzlich erscheinenden und verschwindenden – unheimlichen Frau in Schwarz (Marjorie Cameron) immer wieder erinnert. Die unbeschwerte Boy meets girl-Geschichte verwandelt sich in einen subtilen Horrorfilm, wenn Johnny erfährt, dass zwei frühere Geliebte von Mora ertrunken sind.

In einer Szene ist zu sehen, wie Johnny abends ins Halbdunkel von Moras Wohnung tritt. Sie ruft ihm durch eine geschlossene Tür zu, dass sie gerade ein Bad nehme. Johnny legt sich ermattet auf ein Sofa und schliesst die Augen. Auf das Geräusch der sich öffnenden Tür hin richtet er sich auf und schaut in den Korridor der Wohnung. Eine point-of-view-Einstellung zeigt, wie Mora – in ein grosses weisses Handtuch gehüllt – aus dem Badezimmer in den Korridor tritt. Ihre Erscheinung wird durch einsetzende instrumentale Musik verklärt. Durch den Raum wandernde Lichtreflexe versetzen die Wände und Objekte in eine schwankende Bewegung. Mora läuft zu Johnny, nimmt neben dem Liegenden Platz und streichelt mit ihrer linken Hand seine Wange. Johnny wendet seinen Blick nach unten. Eine Kamerabewegung nimmt die Neigung seines Kopfes auf und richtet den Blick langsam zum Boden. Unter dem weissen Handtuch, das Moras Körper verhüllt, schaut ein schwarzer, schuppiger, nass glänzender Fischschwanz heraus. Ein lauter Akkord begleitet auf der Tonspur diese grausige Entdeckung. Die Kamera neigt sich wieder nach oben und stellt Johnnys verwundertes Gesicht in einer Grossaufnahme aus. Mora umfasst seinen Kopf und zieht ihn für einen langen Kuss zu sich. Eine Grossaufnahme zeigt ihre Arme neben seinem Gesicht. Es folgt eine langsame Überblendung. Dort, wo eben noch ihre schlanken Arme im Bild zu sehen waren, liegen nun die fleischigen Arme eines Kraken, mit hässlichen Saugnäpfen bestückt. Ein Bildschnitt springt zu einer Aufsicht des Raumes. Im Zentrum des Bildes ist Johnnys Gesicht auszumachen, von langen, dicken Kraken-Armen umschlungen. Die Kamera fährt näher heran und zeigt den verzweifelten Kampf, mit dem er sich aus den würgenden, mächtigen Fangarmen zu befreien sucht. Bildschnitt. In einer Nahaufnahme aus Normalsicht ist Johnny zu sehen. Er liegt allein auf dem Sofa, bewegt fahrig und abwehrend die Arme. Schliesslich erwacht er, öffnet die Augen und atmet schwer. Er fasst sich für einen Moment. Das war nur ein schlechter Traum. Dann schaut er in den Korridor der Wohnung. Die Badezimmertür steht offen. Er ruft nach Mora, doch sie antwortet nicht. Nur das leise Gurgeln ablaufenden Wassers ist zu hören. Johnny läuft durch den Korridor zum Badezimmer: Es steht leer. Auf dem Boden entdeckt Johnny die Abdrücke nasser Füsse. Die Spur führt zur Wohnungstür und weiter ins Treppenhaus. In einer Reihe kurzer Einstellungen ist zu sehen, wie Johnny den Fussabdrücken folgt, die Treppen hinunter, über die Holzplanken des Piers bis zum Strand. Dort verliert sich die Spur. Johnny läuft über den menschenleeren nächtlichen Strand unter das Pier. Die verwitterten Holzpfähle des Piers erscheinen wie ein dunkler, verwunschener Märchenwald. Sie verstellen die Sicht und verhindern eine Orientierung im Raum (Abb. 3). Johnny blickt sich suchend um und ruft Moras Namen. Ein mehrfach aus wechselnden Richtungen zurückgeworfenes Echo steigert seine Verwirrung. Schliesslich hört er Mora um Hilfe rufen und erblickt sie. Mora steht weit draussen in der Meeresbrandung und stützt sich an einem Pfahl des Piers ab. Sie hält sich nur mit Mühe aufrecht gegen die tosenden Kräfte der hohen Wellen. Johnny läuft zu ihr und trägt sie in seinen Armen an den Strand, zurück auf sicheren Boden.

In diesen Nachtszenen tritt Mora als würgender Krake und als vom Lockruf des Meeres Besessene auf. Moras Verwandlung in einen Kraken wird nachträglich als Albtraum gedeutet, ihren Gang ins Meer legt Mora am nächsten Tag als Schlafwandeln aus. Night Tide setzt den fantastischen Gestaltwechsel an der Schwelle zwischen Land und Wasser in Szene. An den Rändern der alltäglichen Welt – in der Nacht, im Traum, im Schlaf – öffnen sich Räume für Einbildungen, Wünsche und Ängste. Die von den Bildern und Tönen des Films entworfene Welt ist dabei durch die subjektive Wahrnehmung der Figur Johnny geformt. Für Zuschauer/-innen des Films ist es daher nicht einfach, zu entscheiden, ob es sich bei den verstörenden Veränderungen von Mora um faktische Eigenschaften der Figur oder um Johnnys Einbildungen handelt.

Die Verbindung des suggestiven Horrors mit einer psychologisch motivierten, realistischen Darstellungsweise reiht Harringtons Arbeit in eine spezifische Tradition des fantastischen Films ein. Den starken Eindruck von Val Lewtons Produktionen auf seine eigene Arbeit legt Harrington im Interview mit Palmer offen: «The basic story is a sort of horror suspense film. It’s very much in the tradition of the films — and I was very much aware of this in making it — that were made in the ’40’s by a producer named Val Lewton at R. K. O. He made a series of low budget films, The Cat People [sic!], and I Walked with a Zombie, and The Isle of the Dead. These were all more than usually intelligent films dealing with stories in the area of the macabre and the fantastic.»8

Mora, das Mischwesen aus Mensch und Fisch, hat seinen Platz im filmgeschichtlichen Bestiarium neben Katzenfrauen (Cat People, Jacques Tourneur, US 1942) und Leopardenmännern (The Leopard Man, Jacques Tourneur, US 1943). Starke Affekte wie Begehren, Eifersucht und Wut lösen in Tourneurs Filmen die Verwandlung von menschlichen Gestalten in ein anderes aus. Die Verwandlung in ein Raubtier (in Cat People) und die Nachahmung tierischen Verhaltens (in The Leopard Man) werden dabei als Rückfall in ein amoralisches Triebwesen ausgewiesen. In Cat People liefert die Abstammung der Hauptfigur Irina (Simone Simon) von einer Katzenmensch-Spezies eine erzählerische Begründung für ihre Verwandlung. Mit der Legende über ihre Herkunft aus einem abgelegenen Dorf in Serbien wird ein geografisch und kulturell ‹anderer›, exotisierter Raum als Ursprung der Arten-Vermischung aufgerufen. In einer auffälligen Parallele sind es in Night Tide Moras Herkunft von einer griechischen Insel und ihre Abstammung von den Sea People, die von Murdock zur Erklärung ihres Wesens angeführt werden.9

Neben dem Rückbezug auf frühere Horrorfilme führt Night Tide mit der Figur der Sirene weitreichende kulturgeschichtliche Referenzen ein. Als Fabelwesen der griechischen Mythologie ist die Sirene eine verwandelte Gestalt. Mehr noch: Sie erweist sich in der langen, verschränkten Geschichte von literarischen Ausgestaltungen und volkstümlichen Auffassungen als eine Gestalt im Wandel. Mit Blick auf die Namen, die Anzahl, die Abstammung, den Ort, die körperliche Gestalt und die berichteten Taten liegen zahlreiche, einander ergänzende, einander deutende und umgestaltende literarische und bildliche Darstellungen von Sirenen vor.10 Im zwölften Gesang von Homers Odyssee warnt Kirke Odysseus vor dem bezaubernden Gesang der Sirenen, mit welchem sie vorbeifahrende Seefahrer in die tödlichen Klippen locken. Odysseus lässt sich an den Mastbaum des Schiffes binden, verschliesst seinen Gefährten die Ohren mit Wachs und kann so den Stimmen der Sirenen lauschen und dennoch das Schiff an ihnen vorbeisteuern. In späteren literarischen Ausgestaltungen werden die Sirenen als Meerdämonen gedeutet, die Acheloos oder Phorkys zum Vater und eine Muse zur Mutter haben. Im fünften Buch der Metamorphosen berichtet Ovid davon, wie die Sirenen ihre Gestalt bekommen haben: Als Gespielinnen von Proserpina haben sie, nachdem diese von Pluto entführt wurde, sich Flügel gewünscht und diese bekommen, um über dem Meer nach Proserpina suchen zu können. Ovids Text beschreibt die Sirenen als Gestalten mit einem Jungfrauenantlitz, einer Menschenstimme sowie Vogelfedern und -füssen.

Im Mittelalter wandeln sich die Darstellungen von Sirenen von einem Mischwesen aus Frau und Vogel zu einem Mischwesen aus Frau und Fisch. In der Romantik verfestigt sich die Verknüpfung eines männlichen Liebesbegehrens mit fischartigen weiblichen Wesen bzw. Wassergeistern durch literarische Kunstfiguren, die folkloristische Elemente aufnehmen (Nixe, Undine, Meerjungfrau). Als dämonische Verkörperungen von Sündigkeit und Schönheit werden Sirenen seit dem Mittelalter in Büchern und später auf Karten mit den Attributen von Aphrodite, einem Spiegel und einem Kamm, dargestellt – so beispielsweise auf der Weltkarte «Faicte a Arqves par Pierres Desceliers P[res] b[yte]re lan 1550» von Pierres Desceliers (Abb. 4). In der ikonografischen Tradition steht der Spiegel für die Zweigesichtigkeit der Liebesgöttin Aphrodite, die ihre Kraft, Lebewesen zu vereinigen, mit listenreichen Täuschungen verbindet. Als Allegorien des Lasters werden solche Darstellungen der Aphrodite in der christlichen Buchmalerei wiederaufgenommen. Der Spiegel kodifiziert Eitelkeit, Blendung und Müssiggang.11 Night Tide greift diese Bildtradition auf. Das gemalte Werbebanner an Murdocks Jahrmarktsbude zeigt Mora als Mischwesen aus Frau und Fisch, einen Spiegel und einen Kamm in den Händen haltend (Abb. 5). Der Film spielt damit auf eine Deutungstradition weiblicher Schönheit und erotischer Reize an, innerhalb derer die Sirene mit Spiegel das verderbliche Zusammenspiel von Versuchung, Täuschung und zerstörerischer Liebespassion figuriert.

In Night Tide gelingt es Mora, der Sirene, Johnny ins Meer zu locken. Sie überredet ihn zu einem gemeinsamen Tauchgang. Unterwasseraufnahmen zeigen, wie Mora und Johnny zum Meeresboden hinabschwimmen. Plötzlich greift sie ihn an und zerschneidet mit einem grossen Messer den Sauerstoffschlauch seiner Tauchausrüstung. Panisch befreit Johnny sich vom Gewicht der Gasflasche. Er taucht zur Wasseroberfläche auf und kann sich schliesslich auf das kleine Motorboot retten, mit dem das Paar auf das Meer hinausgefahren war. Mora verschwindet in der Tiefe des Ozeans. Später erscheint sie Johnny noch einmal im Traum: Sie sitzt mit Spiegel und Kamm in den Händen auf zerklüfteten Felsen am Meer. Im Traum reicht Johnny ihr die Hand und möchte sie zu sich ziehen. Doch sie löst die Verbindung der Hände und entschwindet unter höhnischem Gelächter in der Gischt.

Am Ende des Films geht Johnny noch einmal zur Jahrmarktsbude. Mora liegt tot im Tank. Murdock beschuldigt Johnny, Moras Tod verursacht zu haben, und schiesst mit einer Pistole auf ihn. Dann wird Murdock von herbeieilenden Polizisten überwältigt. Bei der Polizei hört Johnny Murdocks Geständnis, dass dieser die aussergewöhnliche Herkunft von Mora erfunden habe und ihr die Wahnvorstellung, ein Meereswesen zu sein, eingegeben habe. Murdock war es auch, der aus Eifersucht Moras Liebhaber getötet hat. Murdocks Geständnis bietet nachträglich eine rationale Erklärung für die unheimlichen Veränderungen der Figur. Dennoch bewahrt das Ende des Films eine gewisse Ambivalenz: Nach allen Verstellungen und Verwandlungen zeigt die letzte Einstellung von Mora ihren toten Körper im Kostüm der Meerjungfrau.

Bildwandel: Das metamorphe Nachleben der Film-Avantgarde

Auch filmästhetisch entzieht sich Night Tide eindeutigen Zuordnungen. Die Bilder und ihre Verknüpfungen sind realistisch und expressiv, erzählend und poetisch, konkret und rätselhaft. Der Film ist eine dichte Komposition wechselnder Wirklichkeitsbezüge und in Bewegung gehaltener Zeichen. Die narrativen und visuellen Gestaltwechsel der Figur Mora, die plötzlichen Umschläge zwischen Wachen und Traum sowie die unklaren Übergänge zwischen Wirklichkeit und Einbildung treiben die Deutungen der Zuschauer/-innen zu stetiger Differenzierung und Umwandlung an. An der filmischen Form treten unterschiedliche Aspekte hervor: Die Bilder können als Wiederaufnahme des Horrorfilms der Studio-Ära, als Vorausdeutung auf die transgressive Bildlichkeit des Independent-Films oder als Anschluss an die symbolisch-expressive Bildkomposition europäischer und amerikanischer Avantgarde-Filme erfahren werden.

Geht man den ikonischen und formalen Verweisen auf das Avantgarde-Kino nach, so führen sie zunächst zu Harringtons frühen Filmen: Fragment of Seeking (US 1946), Picnic (US 1948) und On the Edge (US 1949) stellen sich in die Traditionslinie des surrealistischen Films. Sie evozieren eine subjektive Wahrnehmungsweise von Ich und Welt, wie sie Maya Deren und Alexander Hammid mit Meshes of the Afternoon (US 1943) programmatisch umgesetzt hatten. Harrington war mit dieser innovativen Erforschung des Mediums Film eng vertraut. Dies zeigt sich in seinen frühen Filmen an der visuell-dynamischen Erkundung von architektonischen Strukturen und Landschaften. Ebenso wie in Meshes of the Afternoon heftet sich hier die Kamera an somnambul willenlose, von einem rätselhaften Begehren angetriebene Figuren. Es gibt keine Dialoge, keine Dekorationen und keine professionellen Darsteller/-innen. Körper, Gesten und Objekte werden in ihrer Erscheinung intensiviert durch ungewöhnliche Aufnahmewinkel, fragmentierende Einstellungen und eine diskontinuierliche Montage.

Im Rückblick auf seine frühen Arbeiten macht sich Harrington in einem Interview für Derens Auffassung einer kinematografisch-magischen Verwandlung der Wirklichkeit stark: «Maya [Deren, U.H.] felt that, in essence, a poetic reality could be created by using the very realistic nature of film, by using the realism of the real setting, the real location, and having an imaginative act take place in that setting, thus conferring on the event a sense of reality; this was the idea.»12 Harringtons Aussage ist eine fast wörtliche Wiedergabe von Überlegungen, die Deren in ihrem 1946 veröffentlichten Aufsatz «Magic is New» formuliert hat.13 In einem Text aus dem Jahre 1949 führt Harrington bereits aus, dass eine «dokumentarische» Annäherung an vorgefundene Schauplätze und Landschaften einem inszenierten Geschehen die Aura des Wirklichen verleihe.14 Ebenso wie Deren sieht er die Besonderheit des Mediums Film im Spannungsverhältnis zwischen dem fotografischen Realitätseindruck und der bildlich-imaginativen Konstruktion einer filmischen Wirklichkeit durch die Formgebung der Einstellungen und die schöpferische Neuordnung von Raum und Zeit.

In Night Tide arbeitet Harrington mit den bildlich-expressiven Qualitäten vorgefundener Schauplätze. Der gebaute städtische Raum mit seinen kompakten Formen, Lichtverhältnissen und Texturen ist das materielle Milieu der Handlung. So etwa in einer Verfolgungsszene an den Kanälen von Venice: Johnny sieht die unheimliche, schwarz gekleidete Frau auf der Strasse vorübergehen und läuft ihr nach. In einer Parallelmontage sind dann die dunkle vorangehende Figur und der ihr nacheilende weiss gekleidete Matrose zu sehen. Die Frau hält kurz inne und schaut auf eine Taschenuhr. Dann setzt sie sich rasch wieder in Bewegung. Johnny folgt der Frau an den verfallenen Einfassungen der Kanäle entlang, über Treppen und Brücken, durch leere Seitengassen und auf verborgenen Pfaden. Schliesslich wendet sie sich hinter einer Hausecke nach rechts und entzieht sich seinem Blick. Als Johnny kurz nach ihr um die Ecke biegt, öffnet sich die Sicht auf einen freien Platz. Die Frau ist verschwunden. Vor einem Haus schwingt ein verlassener Schaukelstuhl. Johnny fragt ein kleines Mädchen, ob sie eine Frau gesehen habe. Undurchdringlich schweigend schüttelt das Mädchen den Kopf. Dann wendet es sich um und läuft weg (Abb. 6–7).

Das helle Sonnenlicht, die Schatten und starken Kontraste verleihen den verlassenen Strassen und Plätzen eine überdeutliche Schärfe – eine traumartige Intensität. Die sich entziehende Figur im schwarzen, wehenden Kleid erinnert auffällig an die dunkle Gestalt auf der Strasse in Meshes of the Afternoon. Ebenso wie Meshes of the Afternoon steigert auch Night Tide die Spannung der Verfolgung durch subtile Übergänge zwischen subjektiven und objektiven Bildern. Mehrfach sind Einstellungen zu sehen, die offenbar Johnnys subjektive Blickposition und das von ihm Wahrgenommene wiedergeben. Doch dann läuft er von der Seite ins Bild und scheint so in sein eigenes Blickfeld einzutreten. Die unauflösbaren, schwankenden Blickbeziehungen und untersichtige Aufnahmen von Figuren im Gegenlicht, die sie als Silhouetten vor dem Himmel freistellen, evozieren die verstörenden Bildwelten von Carl Theodor Dreyers Vampyr (FR, DE 1932). Wenn in Night Tide Moras Fussspuren einen Weg weisen, das Treppenhaus zum Schauplatz einer Suche wird, das Einschlafen merkwürdige Geschehnisse in Gang setzt, der Strand zum Übergangsraum wird und dem Meer eine tödlich lockende Macht zukommt, so verweisen diese Motive zurück auf Harringtons Filme Fragment of Seeking und Picnic. Die Figur des Matrosen und die Besetzung der unheimlichen Frau in Schwarz mit Marjorie Cameron stiften zudem Verbindungen zu Kenneth Angers Fireworks (US 1947) und Inauguration of the Pleasure Dome (US 1954), in dem Cameron als «The Scarlet Woman» und Harrington als «Cesare the Somnambulist» auftreten. Die Nachtszene, in der Mora unter dem Pier im Meer zu ertrinken droht, greift in ihrer räumlichen und dramatischen Gestaltung das Filmende von Derens Ritual in Transfigured Time (US 1946) auf. In Derens Film versinkt die Figur der Witwe (Rita Christiani/Maya Deren), die von einem Mann (Frank Westbrook) verfolgt wird, schliesslich unter dem Pier im Meer.

Die Wiederkehr der Avantgarde als poetischer Horrorfilm gewinnt in Night Tide eine spezifische Gestalt in den vielfältigen Rückverweisen und formalen Variationen der Bilder. Dabei werden sowohl einzelne Motive des Avantgarde-Kinos als auch Verfahren der bildlich-magischen Verwandlung aufgenommen und transformiert. Mit der Liebesgeschichte vom Seemann und der Sirene kommt auch eine Bildergeschichte zum Vorschein, die von der Übertragung des frühen Underground-Films in ein populäres Genre handelt. «Mora the Mermaid», diese verkleidete, verwandelte und vermischte Figur, ist eine Allegorie für das unabsehbare und metamorphe Nachleben der frühen Film-Avantgarde.

Ulrike Hanstein
* 1976, Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen, Promotion in Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin, 2013–2014 Fellow am Getty Research Institute (Los Angeles), zur Zeit Lehrbeauftragte an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig.
(Stand: 2017)
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