ANITA GERTISER

DIE LETZTE POINTE (ROLF LYSSY)

SELECTION CINEMA

Es regnet in Strömen. Die 89-jährige Gertrud Forster (Monica Gubser) tritt im Morgenmantel vor die Haustüre. Sie will die Zeitung holen, doch der Schirm klemmt. Da donnert ein Ziegel vom Dach und zerschmettert genau vor ihren Füssen. Ein Augenblick früher und er hätte sie erschlagen und sie wäre nun tot. Ohne ein Wort zu sagen, kehrt sie ins Haus. Von da an ist nichts mehr wie vorher.

Gertrud fürchtet, an einer fortschreitenden Demenz zu leiden. Überall hängen Post-it mit Erinnerungen, etwa an das Konzert der Enkelin (Delia Mayer), an den Arztbesuch. Gerade diesen hat sie verschlafen, als die Tochter (Suly Röthlisberger) unvermittelt in der Stube steht. Ihre Sorge vertraut sie dem Arzt an. Anstatt sie ernst zu nehmen, gibt’s eine Packung Antidepressiva. Als auch noch ein Verehrer (Michael Rutman), ein Engländer no­tabene, auftaucht, den Gertrud anscheinend über eine Dating-Plattform kennengelernt hat – sie erinnert sich an nichts –, scheint aus dem Verdacht Gewissheit zu werden. Von nun an informiert sie sich bei professionellen Sterbehelfern, um selbstbestimmt aus dem Leben zu treten, bevor sie es nicht mehr kann.

In Die letzte Pointe nimmt sich Rolf Lyssy (Die Schweizermacher, CH 1978, Leo Sonnyboy, CH 1989), inzwischen selbst 81-jährig, den Themen Freitod und Demenz an, und er tut dies mit einem Augenzwinkern. Dabei ist der Film weit davon entfernt, sich auf Kosten der rüstigen Dame, die dank ihrer Sturheit so liebenswert erscheint, zu amüsieren. Vielmehr verhan­delt er, worüber man lieber nicht spricht, und sich doch keiner entziehen kann: den Tod. Das eigentliche Ereignis ist jedoch die Schauspielerin Monica Gubser, die mit 85 Jahren ih­re erste Hauptrolle spielt. Sie verleiht der Figur die nötige Würde und Tiefe. Ihr Spiel ist zurückhaltend, die Kamera verweilt oft lange auf dem Gesicht. Die Augen suchen nach Hilfe, die zusammengepressten Lippen lassen die Verzweiflung ahnen. Sie will nicht als hilfloses Bündel Mensch im Pflegeheim enden wie die dort versorgte Freundin Dora. Gertruds trockener Humor, wenn sie wieder einmal ihre besorgte Tochter kalt stehen lässt, sorgt für die nötige Gelassenheit und Distanz. Dagegen bedrängt sie die Familie, will sie bemuttern, macht sich Sorgen – wenn auch alle aus unterschiedlichen Gründen. Nur das eine Thema vermeiden sie, das Gertrud so zielstrebig verfolgt.

Die letzte Pointe ist zwar nicht der erste Film, den Rolf Lyssy zusammen mit seinem Sohn Elia Lyssy realisiert hat, doch es ist der erste gemeinsame Spielfilm. Zusammen haben sie Zürich eine kleine Hommage gesetzt: Stolz präsentiert sich die Stadt in herbstlichen Farben, die Sonne kräuselt das gelb-braun-grüne Laub, leichter Dunst liegt zwischen den Häusern – ruhig, friedlich.

Anita Gertiser
Dr. phil., Filmwissenschaftlerin und Dozentin für Kommunikation und Kultur an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Mitarbeiterin im SNF-Forschungsprojekt Ansichten und Ein­­­stel­lungen: Zur Geschichte des dokumentarischen Films in der Schweiz 1896–1964 des Seminars für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Dissertation: Falsche Scham: Strate­gien der Über­­­zeugung in Aufklärungsfilmen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1915–1935 (2009). Von 2007–2016 Mitglied der CINEMA-Redaktion.
(Stand: 2019)
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