DORIS SENN

W. – WAS VON DER LÜGE BLEIBT (ROLANDO COLLA)

Das Buch Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948 erschien 1995 und war unmittelbar ein Erfolg. Die «bruchstückhaften» Erinnerungen des mutmasslich in Riga geborenen Autoren Binjamin Wilkomirski an die Judenverfolgung in Polen und seinen Aufenthalt in zwei Konzentrationslagern stiessen weltweit auf Interesse und grosse Anteilnahme. Die Presse war des Lobes voll – Auszeichnungen für Buch und Person häuften sich.
 
Doch dann erhielt der Zürcher Journalist Daniel Ganzfried 1998 den Auftrag für ein Porträt des Autoren und stiess auf Ungereimtheiten in der Biografie. Nach ersten ungläubigen Reaktionen auf die Enthüllungen kam es zum Eclat: Hinter «Wilkomirski» verbarg sich Bruno Grosjean, nicht jüdisch, in der Schweiz geboren, nach traumatischen Kindsjahren von der wohlhabenden Familie Dössekker in Zürich adoptiert. Das Buch wurde als Fiktion «entlarvt», Wilkomirski zum «Hochstapler» und des Betrugs angeklagt, Ehrungen nachträglich aberkannt. Die Psychologie kreierte in der Folge den Begriff «Wilkomirski-Syndrom» – für die unwahre Aneignung einer jüdischen Opferbiografie.
 
Der Regisseur Rolando Colla, dessen Filmografie etwa den Spielfilm Giochi d'estate (CH/IT 2011) oder die engagierte Kurzfilmserie Einspruch I–VI (CH 1999–2012) zur Schweizer Asylpolitik umfasst, rekonstruiert mit W. – Was von der Lüge bleibt minutiös und übersichtlich den «Fall Wilkomirski». In vier Teilen geht der Dokumentarfilm der Identität des Autors und der Entstehung des Buchs nach, und er zeigt, wie die Fiktion – in literarischer und persönlicher Hinsicht – zustande kam, ohne seinen Protagonisten zu verurteilen. Was wohl mit dazu beitrug, dass Bruno im Film erstmals seine «Lüge» eingesteht.
 
Mit viel Empathie und doch kritischer Distanz hat Rolando Colla aus rund 200 Stunden Material mit einer bestechenden Montage die hochkomplexe Geschichte herausdestilliert: mittels Interviews, Statements und Archivmaterial zur Judenverfolgung nebst den suggestiven Visualisierungen von Thomas Ott, dem renommierten Zürcher Illustrator mit Hang zum Düsteren, die Brunos Erinnerungen, Ängste und Albträume aufscheinen lassen – um sie immer wieder neu zu kontextualisieren. Daneben zeigt Collas Film aber auch die Verstrickungen des Falls über den fiktionalen «Wilkomirski» hinaus auf – etwa die Verantwortung des Suhrkamp-Verlags, der schon früh Hinweise auf Unstimmigkeiten hatte und sie ignorierte, auf Zeitzeugen, die wussten und schwiegen – oder auch die durchaus plausible Mutmassung, dass der Skandal um das Nazi-Gold auf Schweizer Banken Mitte der 1990er die Öffentlichkeit umso empfänglicher machte für die in Bruchstücke dargestellte Opfergeschichte und sie so mit authentisierte. W. – was von der Lüge bleibt wird so zu einer von Anfang bis Schluss hochspannenden dokumentarischen Recherche.
Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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