MILOŠ LAZOVIĆ

DAS MÄDCHEN UND DIE SPINNE (RAMON UND SILVAN ZÜRCHER)

Lisa zieht um. Familie und Freunde helfen: manche mehr, manche weniger, darunter auch die zurückbleibende geliebte WG-Freundin Mara. Lisa lernt die neue Nachbarschaft kennen. Es findet eine Einweihungsparty statt und das wär’s vorerst mit der Handlung. Der zweite Film der Tier-Trilogie verlässt mit seiner Protagonistin die Wohnung und den familiären Kreis und erzählt trotz der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung dennoch keine Geschichte. Er zeigt vielmehr die fragile Choreografie des Zusammenwohnens oder, besser gesagt, Zusammenseins, und entwickelt dabei die eigenwillige Filmsprache und den unverkennbaren Stil weiter.
 
In dieser Choreografie haben genauso wie im ersten Teil immer noch viele merkwürdige, unheimliche oder magische Geschichten, welche sich die Figuren erzählen, einen prominenten Platz. Denn zusammen mit den scharfen Blicken in die Kamera und unter den Figuren weben sie ein funkelndes und verfängliches Spinnennetz der symbolischen Bedeutungen. Diese tieferen Bedeutungen des Alltäglichen zu entschlüsseln, gelingt der Zuschauer_in nur dann, wenn sie die Tiere als Akteure in Betracht zieht. Der Hund, die Katze, die Fliege und die Spinne organisieren diese Figurenstudie.
 
Die mit einer statischen Kamera gedrehten langen Einstellungen überlassen den Bildkompositionen die Blicklenkung. Die Figuren laufen dauernd aneinander vorbei, kommen sich jedoch immer wieder sehr nahe. Sie treten in Beziehungen mit den Tieren und tauchen in immer neuen Konstellationen auf, sodass der Film trotz des statischen Kameramodus eine aktive Zuschauer_in voraussetzt. Die bewegende und dennoch melancholische Musik im zweiten Teil der Trilogie unterstreicht die thematisierte Transiterfahrung. Die wiederholenden Bohrgeräusche und die Montagesequenzen gliedern den Film dabei in mehrere Abschnitte und leiten Zäsuren in der Beziehung zwischen Mara und Lisa ein.
 
Wie sehr diese Beziehung manchmal auch von widersprüchlichen Emotionen geprägt sein mag, ist es gerade diese Ambivalenz in Bezug auf den Charakter der Beziehung, welche den Film zum gelungenen Vertreter von Queer Cinema macht. Mit einem Bleistift bohrt Mara auf einmal in das Papierglas mit blutrotem Saft und in einem anderen Moment berührt sie sanft Lisas Hand. Sie flirtet mit Jan und möchte mit ihm doch lieber nicht schlafen. Alles Handlungen, welche sich nur mit einer non-binären Identität erklären lassen. Die Banalitäten an der Grenze des Unsinns und eine vom Neid erfüllte Beziehung, die vielleicht gar keine ist, werden hier sehr klug in formaler Anlehnung an die bereits von Xavier Dolan in Les amours imaginaires (CA 2010) erprobten Gestaltungsmittel zu einer bitteren, und dennoch optimistischen filmischen Poesie des alltäglichen Zusammenseins verdichtet.
Miloš Lazović
*1995, Studium der Philologie in Belgrad, Zürich, Poznań und Brno. Derzeit im Masterstudium an der Universität Zürich in den Fächern Kulturanalyse und Filmwissenschaft und Redaktionsmitglied des CINEMA Jahrbuchs.
(Stand: 2021)
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