CORINNE GEERING

DIE GENTRIFIZIERUNG BIN ICH – BEICHTE EINES FINSTERLINGS (THOMAS HAEMMERLI)

SELECTION CINEMA

Der am Zürichberg aufgewachsene Journalist, Filmemacher und vorbestrafte Hausbesetzer Thomas Haemmerli hat es geschafft: Er leistet sich Wohnungen, wo es teuer ist, und pendelt zwischen Zürich, Mexiko City, São Paulo und Tiflis. Selbstironisch panisch inszeniert er sich in seinem neuen autobiografischen Film als Teil des Problems, das seit einigen Jahrzehnten den Namen Gentrifizierung trägt. Haemmerli geht es allerdings in erster Linie um die Aufwertung und weniger um die Verdrängung der zuvor ansässigen Bevölkerung durch wohlhabendere Bewohner und Bewohnerinnen. Die Gentrifizierung bin ich präsentiert sich deshalb weniger sozialkritisch, sondern vielmehr als ein Plädoyer für dichten Städtebau. Dieses ist eingebettet in die Geschichte der Immobilienspekulation in Zürich, Haemmerlis rasanten Aufstieg im damals boomenden Journalismus und in die Verhandlung seiner neuen Vaterrolle.

Eine solche Herangehensweise an das Phänomen der Gentrifizierung mag angesichts anderer Dokumentarfilme zum Thema zunächst verwundern, erklärt sich aber durch die langjährige Beschäftigung des Filmemachers mit dem sogenannten Dichtestress. Die Debatte um die drohende Überfremdung der Schweiz bildet dann auch den Einstieg in die Thematik, und Haemmerli wird als kritische öffentliche Stimme zur Schweizer Baupolitik eingeführt. Von Beginn weg kontrastiert der Film Zürichs wenige, kleine Hochhäuser mit Haemmerlis weiterem Zuhause São Paulo, einer vertikal und effizient gebauten Metropole. Die temporeiche Erzählung verläuft grösstenteils chronologisch entlang des Lebenswegs des Protagonisten und ist bei der Strukturierung mit Zwischentiteln auf schwarzem Hintergrund deutlich von Jean-Luc Godard inspiriert.

Anhand vieler eigener sowie Archivaufnahmen folgt man dem Erzähler vom Zürichberg in eine Wohnsiedlung in Glattbrugg, wo er mit seiner Mutter nach der Trennung der Eltern hinzieht. Als Jugendlicher verschlägt es ihn in die Hausbesetzerszene, die sich schnell in eine Wohngemeinschaft mit gutem Gehalt und wilden Partys wandelt. Beengt lebt er als Korrespondent in einer kleinen Wohnung in Paris, bevor er seine Liebe zu modernistischen Betonbauten in der georgischen Hauptstadt Tiflis entdeckt und dort im Stadtzentrum die nächste Immobilie erwirbt. Weitere Wohnungen folgen mit Partnerin und Kindern in São Paulo, Mexiko City und erneut in Zürich. «Raumbedarf = Gewohnheit», folgert Haemmerli auf einem der Zwischentitel, und seiner ist augenscheinlich sehr gross. So unterhaltsam er denn seine Wohngeschichte als Finsterling in diesem essayistischen Film beichtet, so fahl ist der Nachgeschmack dieser bewusst reduzierten Sichtweise auf die Problematik der Gentrifizierung.

Corinne Geering
*1987, dr. phil., studierte Philosophie (BA) und World Arts (MA) in Zürich, Bern und Prag. Promotion in Gießen. Lebt in Leipzig.
(Stand: 2021)
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