Skandal. Kein anderes Wort hat die jüngsten gesellschaftlichen Debatten gleichermassen bestimmt wie das vom griechischen ‹skandalon› abgeleitete, das «Ärgernis, Anstoss, Fallstrick» bedeutet. Sei es bei der Wahl des US-amerikanischen Präsidenten, im #metoo-Twittersturm oder in Klimadiskussionen – Menschen jeglicher politischer Couleur bewerten Aussagen, Handlungen oder Überzeugungen von anderen Menschen reflexartig als «skandalös». Aber was bleibt übrig von der Schlagkraft eines Wortes, wenn dessen Verwendung bis zum Überdruss strapaziert wird? Im Kino haben sogenannte ‹Skandalfilme› eine lange Tradition. Sie zeigen – ob verschlüsselt oder unverschlüsselt – auf gesellschaftliche Missstände, hinterfragen verkrustete Normen oder Konventionen und erhalten deshalb den Stempel des ‹Skandalfilms› aufgedrückt. Aber liegt dann dem Begriff nicht eine gewisse Arroganz zu eigen, eine Distanzierung, um sich nicht mit dem tatsächlichen Inhalt beschäftigen zu müssen? Thomas Basgier beginnt seinen Essay (ab Seite 10) mit der scharfen Beobachtung: «Der Begriff ‹Skandalfilm› ist eigentlich ahistorisch, er ist schwammig, eine Art Leerformel, zumindest kein klar definierter Terminus. Er taugt nicht zur Kategorisierung von Filmen, weil er suggeriert, bestimmte merkmalsabhängige Produktionen seien auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, obwohl sie oft genug über einen solchigen nicht verfügen […].» Bei seiner Betrachtung des frühen Hollywoodkinos sowie dessen ambivalenten Umgangs mit der Selbstzensur beobachtet Basgier unter anderem, dass Skandale ausgerufen wurden, die keine waren, und im Gegenzug Filme mit skandalösem Potenzial unbehelligt an den Sittenhütern vorbeischlichen. Das Nachspiel eines Skandalfilms kann stets in zwei Richtungen verlaufen: Das Anrüchige, Skandalöse, Tabubrechende wird normalisiert oder verboten. Die Filme des japanischen Regisseurs Koji Wakamatsu erfuhren erst spät nach der Veröffentlichung die verdiente Wertschätzung sowie Eingang in den nationalen und internationalen Diskurs. Seine Filme waren in den 1960er-Jahren aufgrund von sexuell aufgeladenen Szenen und politischen Seitenhieben noch verpönt, wie uns Alexander Knoth in seinem Essay aufzeigt (ab Seite 78). Die gleichzeitige Sexploitationwelle in der Türkei hingegen war kurzlebig. Staatsmechanismen erstickten das sexuell befreiende Potenzial dieser Filme im Keim, wie Aysel Özdilek in ihrem Essay ausführt (ab Seite 45). Aufmerksame CINEMA-Lesende bemerken vielleicht, dass zwei Essays in ihrer französischen Originalversion abgedruckt sind. Wir freuen uns sehr, dass mit Krisztina Kovacs’ Gaspar-Noé-Essay (ab Seite 87) sowie Joel Espis Beitrag zu Gorefilmen (ab Seite 35) zwei Artikel aus der französischsprachigen Schweiz vertreten sind. Kovacs blickt in ihrem Essay hinter die oftmals skandalöse Oberfläche von Noés Filmen und zeigt, dass sich hinter dem argentinischen, als «Skandal-Regisseur» abgekanzelten Filmemacher ein scharfsichtiger Kinophilosoph verbirgt. Derweil greift Joel Espi tief in die italienische Mondofilm-Kiste und zeichnet dessen Verbindung zum US-amerikanischen Sklavereitrauma nach. Wir hoffen, dass der ausschliesslich französische Abdruck der beiden Essays (k)einen Skandal auslöst. Und natürlich darf auch ein politischer Beitrag nicht fehlen, der einen filmindustriellen Skandal beschreibt: Monika Wernli argumentiert in ihrem Essay, weshalb die letztjährige Vergabe des Oscars für den besten Film an Green Book (Peter Farrelly, US 2018) skandalös scheint. Weitere Themen im CINEMA-Jahrbuch zum Stichwort ‹Skandal›: Surrealismus, Serienkiller- und Gewaltfilme, der Hays Code in Hollywood. Und das CH-Fenster von Thomas Beutelschmidt, der den Skandal um den Fernsehfilm Ursula (Egon Günther, CH/DDR 1978) unter die Lupe nimmt. Ein besonderes Juwel ist dieses Jahr unser Filmbrief, den der Schweizer Filmemacher Kaleo La Belle für uns in Englisch verfasst hat (La Belle ist Schweiz-Amerikaner und in Detroit aufgewachsen): Er liefert uns intime Einblicke in die ersten Notizen seines neuesten Filmprojekts. In diesem will er einen Syrier porträtieren, der im Alter von 17 Jahren aus Syrien nach Kanada geflüchtet ist, um dem Militärdienst zu entgehen. Über das Buch verstreut finden Sie Momentaufnahmen zum Thema, dieses Jahr von Mitgliedern des Vereins SWAN (Swiss Women’s Audiovisual Network) verfasst. In der «Sélection» stellen wir rund dreissig Produktionen des schweizerischen Filmschaffens 2018/2019 vor, die uns besonders aufgefallen sind. Und nun hoffen wir, dass es Ihnen nicht ergeht wie der Frau in Luis Buñuels Skandalfilm Un chien andalou und Sie sich an unseren Seiten die Augen aufschneiden. Das wäre ein Skandal. Sie brauchen diese nämlich noch für die Lektüre. Für die Redaktion HEINRICH WEINGARTNER
CINEMA #65
SKANDAL
EDITORIAL
ESSAY
MOMENTAUFNAHME
CH-FENSTER
FILMBRIEF
FESTIVALBERICHTE
ZWISCHEN GLAMOURFAKTOR UND KUNSTANSPRUCH: DAS 15. ZURICH FILM FESTIVAL
SELECTION CINEMA
EISENBERGER — KUNST MUSS SCHÖN SEIN, SAGT DER FROSCH ZUR FLIEGE (HERCLI BUNDI)
DIE GENTRIFIZIERUNG BIN ICH – BEICHTE EINES FINSTERLINGS (THOMAS HAEMMERLI)
DER NACKTE KÖNIG – 18 FRAGMENTE ÜBER REVOLUTION (ANDREAS HOESSLI)
PASSION – ZWISCHEN REVOLTE UND RESIGNATION (CHRISTIAN LABHART)
S’BLOCH – EIN LEBENDIGER BRAUCH IM APPENZELLERLAND (THOMAS RICKENMANN)