ALEXANDER KNOTH

KOJI WAKAMATSU UND DIE BERLINALE 1965

ESSAY

Filmfestivals bieten neben prestigeträchtigen Preisen auch die Möglichkeit, durch Skandale Aufmerksamkeit zu erregen. Filmemacher nutzen sie immer wieder als Plattform, um mit provokanten Aussagen ein Medienecho zu erzeugen. Meist stecken Kalkül und eine ausgeklügelte Marketingstrategie dahinter.

Auf der Berlinale 1965 sorgte Kabe no naka no higemoto (Secrets Behind the Wall, JP 1965), ein Filmbeitrag des japanischen Regisseurs Koji Wakamatsu, ebenfalls für einen grossen Aufschrei – allerdings ohne dessen Zutun. Der folgende Artikel beleuchtet die Hintergründe und Akteure eines Skandals, dessen Konsequenzen weit in diplomatische Kreise hineinwirkten und die Karriere des damals noch jungen Filmemachers Wakamatsu nachhaltig verändern sollten.

Auf welcher Grundlage entstand der Skandal? Mitte der 1960er-Jahre macht sich eine Handvoll japanischer Regisseure einen Namen, als sie ihre Arbeitgeber – die grossen Filmproduktionsfirmen – verlassen und Projekte in Eigenproduktion realisieren. Die bekanntesten Vertreter dieser sogenannten ‹Japanese New Wave› sind Nagisa Oshima und Shohei Imamura. Werke wie Nihon no yoru to kiri (Nacht und Nebel über Japan, Nagisa Oshima, JP 1960), Koshikei (Tod durch Erhängen, Nagisa Oshima, JP 1968) oder Nippon konchuki (Das Insektenweib, Shohei Imamura, JP 1963) finden grosse Beachtung bei Filmfestivals in Europa und sind in der Heimat aufgrund ihrer politischen Allegorien oft heftig umstritten. Die jungen wilden Filmemacher wecken das Interesse am japanischen Film und auch Koji Wakamatsu hat daran seinen Anteil.

Eins vorweg: Koji Wakamatsu ist kein Unschuldslamm. Wenn man die japanische Filmgeschichte studiert, wird der Name Wakamatsu meist mit Kriminalität und Sex assoziiert. Kein Wunder, da Wakamatsu zeit seines Lebens knapp 100 Filme drehte, die grösstenteils Folter, Vergewaltigung und Demütigung thematisierten. Seine Herangehensweise hatte dennoch enormen Einfluss auf ganze Generationen von Filmemachern und schlug nicht nur aufgrund der expliziten Inhalte hohe Wellen.

Geboren 1936 in der Präfektur Miyagi, arbeitet Wakamatsu zunächst auf dem Bau und landet schliesslich, als Geldeintreiber der Yakuza in Tokio, schon mit 17 Jahren im Gefängnis. Der harte Umgang in der Haftanstalt festigt seine linksradikalen, antiautoritären Ansichten und er schwört Rache am Staat.

1963: Wakamatsu, inzwischen 22 Jahre alt, beschliesst, seine Rachepläne als Filmemacher auf der Leinwand zu realisieren. Die japanische Filmindustrie steckt gerade in grossen Schwierigkeiten. Das Fernsehen und die aufkommenden Proteste der Studentenbewegung verändern den Medienkonsum und die Kinosäle bleiben leer. Grosse Filmstudios wie Nikkatsu suchen händeringend nach neuen Ideen. Hier tritt Koji Wakamatsu auf die Bildfläche. Er nutzt die Gelegenheit und springt auf die Welle der sogenannten ‹Pinku Eiga› auf – Softpornos mit niedrigem Budget. Dieses Genre stellt für die finanziell angeschlagene Produktionenfirma ein geringes Risiko dar, auch wenn sich nur ein kleines Publikum dafür interessiert. Gleichzeitig bietet sich so für unbekannte Aspiranten wie Wakamatsu die Chance, erste Erfahrungen in der Filmbrache zu sammeln. Nikkatsu engagiert ihn für rund 20 ‹Pinkus›. Wakamatsu nutzt die Freiheit, die ihm das Studio gibt, und beginnt politische Aussagen in seine Werke einzustreuen. Während die eingangs erwähnte ‹Japanese New Wave› über die europäische Festivallandschaft rollt und hochgelobt mit dem französischen Autorenkino Godards, Truffauts oder Rohmers verglichen wird, bleibt Wakamatsus Œuvre erst einmal unbeachtet. Von nationalen und internationalen Kritikern verschmäht, finden seine Filme erst spät nach ihrer Veröffentlichung den Weg in den öffentlichen Diskurs.

Eine Lüge verändert alles

Die Idee zu Secrets Behind the Wall entsteht bereits 1964. Wakamatsu ist gelangweilt von der Oberflächlichkeit seiner bisherigen Filme. Er kommt in Kontakt mit Leuten aus dem Umfeld von Regisseur Suzuki Seijun und Nagisa Oshima. Seijun, selbst als Regisseur für Nikkatsu tätig, ist gerade der aufkommende Star des japanischen Gangsterfilms. Durch Oshima entsteht der Kontakt zur Art Theatre Guild, einer Produktionsfirma, die den japanischen Autorenfilm vorantreibt. Nachdem zahlreiche Filmvorschläge abgelehnt werden, greift Wakamatsu zu drastischen Massnahmen und beschliesst kurzerhand sein Filmstudio zu belügen: «I thought: ‹Fuck these guys, I’ll fool them!› I wrote a script with a bunch of naked chicks and people in love, stuff like that, and they were happy.»1 Als er seinen Film finanziert bekommt, investiert er aber das Geld in die Produktion eines ganz anderen Stoffes: «Of course, I’d had a different shooting script ready. Once you start shooting, the film is yours. We shot the real secret acts within four walls […]. This was the film, and there was nothing they could do about it.»2 Als Nikkatsu den fertigen Film sieht, ist die Aufregung gross. Der Filmverleiher weigert sich Secrets Behind the Wall in die Kinos zu bringen.

Secrets Behind the Wall handelt von einem jungen Studenten, der bei seinen Eltern wohnt und für seine Abschlussprüfungen lernt. Er weiss aber, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit die Prüfungen nicht bestehen wird, und lenkt sich daher mit Pornografie ab. Im Zuge der Prokrastination findet er auch Gefallen daran, Frauen aus dem Nachbarhaus mit einem Fernglas zu beobachten. Als eines Tages seine Eltern aus dem Haus sind, vergewaltigt und tötet er seine Schwester. Danach klingelt er bei einer der ausgespähten Nachbarinnen und schläft mit ihr. Während des, wohlgemerkt einvernehmlichen, Beischlafs greift der Junge nach einem Küchenmesser und ersticht die Frau.

Die Darstellung der Vergewaltigungs- und Mordszenen sind vordergründig der grösste Kritikpunkt der Studiobosse. Nur einige Jahre später aber sollte Nikkatsu selbst viel explizitere Filme produzieren. Auch wenn man sich Wakamatsus darauffolgende Werke Yuke yuke nidome no shojo (Go, Go, Second Time Virgin, JP 1969), Taiji ga mitsuryo suru toki (The Embryo Hunts in Secret, JP 1966) und Okasareta hakui (Violated Angels, JP 1967) anschaut, wirkt Secrets Behind the Wall vergleichsweise harmlos. Denn ähnlich wie in Joji no rirekisho (Resume of Love Affairs, JP 1965) erzählt der Film von einem desillusionierten Jugendlichen. Typisch für Wakamatsu ist hier die Kontextualisierung der Gewalt in einem breiten politischen Rahmen. Dabei gilt sein Interesse den Machtverhältnissen sowohl im Privaten, zwischen Mann und Frau, als auch im Öffentlichen, zwischen Staat und Bürger. Besonders in seinen ersten Independent-Produktionen gelingt Wakamatsu die richtige Mischung aus Exploitation und politischem Kommentar. Wohingegen er in den 1970er-Jahren eher zum banalen Sadismus tendiert (Gomon hyakunen-shi (Torture Chronicles: 100 Years, JP 1975)) und schliesslich gegen Ende seiner Karriere zum sozialen Realismus zurückkehrt (Jitsuroku Rengo Sekigun: Asama sanso e no michi (United Red Army, JP 2007)). Er stilisiert Frauen dabei immer als Opfer männlicher Machtansprüche. Seine Sturm-und-Drang-Phase sind die 1960er-Jahre mit teilweise acht Produktionen pro Jahr. Als 1972 die politische Linke in Japan durch den Asama-Sanso-Vorfall3 ins Visier der Justiz gerät, Hausdurchsuchungen und Verhaftungen durchgeführt werden, bricht bei Wakamatsu eine Phase der Neuorientierung an. In dieser Zeit geht seine Produktivität deutlich zurück und er meldet sich erst Anfang der 1980er-Jahre mit Mizu no nai puuru (A Pool Without Water, JP 1982), einem weniger politischen Stoff, zurück.

Mitte der 1960er-Jahre ist der Regisseur nur ein unentdeckter Teil der japanischen Filmbewegung und legt mit Secrets Behind the Wall die erste Provokation gegenüber den etablieren heimischen Filmstudios vor. Wakamatsu befördert sich damit selbst aus dem erlesenen Kreis der Gönner und Förderer heraus. Sein geächteter Film findet aber dennoch einen Weg in die grosse weite Welt. Ganz gegen den Willen seiner früheren Bosse.

Auf der Suche nach dem Skandal

Wakamatsu scheint zunächst ein Aussenseiter zu bleiben. Secrets Behind the Wall wird zwar schliesslich in Japan veröffentlicht, jedoch bemüht sich Nikkatsu darum, den Vertrieb möglichst überschaubar zu halten. Denn nach den Erfahrungen, die man mit Tetsuji Takechis Kuroi Yuki (Black Snow, JP 1965) gemacht hatte, fürchtet man sich vor einer gesellschaftlichen Empörungswelle und gerichtlichen Klagen, die das Studio zuvor Reputation und Geld gekostet hatten.

Das Schicksal ändert sich aber, als 1965 völlig unerwartet Secrets Behind the Wall für das renommierte Berlin Film Festival ausgewählt wird. Die Nominierung erfolgt ohne die Zustimmung der Motion Pictures Association of Japan (Eiren) und katapultiert Wakamatsu plötzlich auf die Weltbühne:

[…] A German guy named Dolman was looking for films for the Berlin Film Festival, and he saw my picture. He said that he really wanted it for the festival. Would I submit it? I said yes and got the distributor off my back. So, the film was sent to Berlin.4

Die JMPA, ein Verbund der japanischen Produzenten der grossen Studios, hatte zuvor erfolglos versucht, Filme in das Programm der Berlinale zu bringen (etwa Heitai yakuza (The Hoodlum Soldier, Yasuzo Masumura, JP 1965)). Das Gremium in Berlin war so beeindruckt von der Schonungslosigkeit des Films und fällte seine Entscheidung ohne Rücksprache mit der JMPA. Ein Novum.

Warum trifft das Filmfestival diese folgenschwere Entscheidung? 1965 befindet sich die Berlinale in einer Umbruchphase. Auf Grund heftiger Kritik der Fachpresse an der Qualität der Filme des vorangegangenen Wettbewerbs ändert das Festival sein Auswahlverfahren. Der bislang entscheidende Beirat, bestehend überwiegend aus politischen Vertretern, wird um ein zusätzliches Gremium von fünf Filmkritikern erweitert. Darüber hinaus teilt die Festivalleitung unter der Führung von Alfred Bauer das Programm in drei Teile. Neben dem üblichen Wettbewerb, gekrönt von der Verleihung des Goldenen und des Silbernen Bären, zeigt man ab 1965 auch Filme, die bereits auf anderen Filmfestivals gelaufen sind und daher ausser Konkurrenz laufen, sowie kommerzielle Filme in der sogenannten ‹Repräsentationsschau›.

Japanische Filme sind bei der Berlinale stets gut vertreten. 1963 gewinnt Bushido zankoku monogatari (Bushido – Sie lieben und sie töten, JP 1963) von Imai Tadashi den Goldenen Bären und 1962 geht der Silberne Bär an Hidari Sachiko für ihre Schauspielleistung in Shohei Imamuras The Insect Woman. Die Kombination aus dem Druck, unbedingt einen japanischen Film im Programm haben zu müssen, und den bereits abgelehnten Vorschlägen, die vom japanischen Produzentenverband offiziell eingereicht wurden, lässt dem Beirat und der Kritikerjury nicht mehr viel Spielraum. Als schliesslich Secrets Behind the Wall als offizieller japanischer Wettbewerbsbeitrag feststeht, entscheidet man sich damit für einen unkonventionellen, teilweise unausgereiften Film. Man stimmt gegen Mittelmass und, wie sich im Folgenden herausstellt, für einen Skandal.

Die «nationale Schande»

Im Vorfeld der Filmvorführung spricht sich der japanische Produzentenverband gegen die Aufnahme von Secrets Behind the Wall in den Wettbewerb auf. Ihn stört dabei insbesondere die repräsentative Funktion des Films als ‹japanischen Beitrag›. Der Verband wendet sich an das japanische Aussenministerium, welches dem Tenor zustimmt und die Vorführung des Films als eine Gefährdung für die bislang guten diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Japan missbilligt. Kusakabe Hisashiburo, japanisches Mitglied der Wettbewerbsjury und Filmkritiker der Mainichi Shinbun, bezeichnet Secrets Behind the Wall sogar als «nationale Schande».5 Für ihn, und viele andere Japaner, ist vor allem der Handlungsort des Films ein Kritikpunkt. Die Gewalt- und Sexorgien passieren inmitten der neu errichteten Wohnsiedlungen (‹Danchi›). Geplant und erbaut für die Olympischen Sommerspiele 1964 in Tokyo, symbolisieren diese Blockbauten das moderne Japan. Der Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit manifestieren sich in ihnen. Die Grausamkeiten unmittelbar innerhalb dieser Wände spielen zu lassen, sehen viele als einen direkten Angriff auf die neu gewonnene Identität Japans und als Gefährdung des internationalen Ansehens. Die japanische Regierung befürchtet, dass ein falsches Bild von Japan vermittelt werde. Wakamatsus Werk deutet den positiven Modernismus, den die Danchi symbolisieren sollen, um und konnotiert sie als etwas Negatives. Sie sind nicht Produkt, sondern Symptom des Hochmodernismus.

Welche stilistischen Mittel nutzt der Regisseur, die eine solche Lesart ermöglichen? Secrets Behind the Wall präsentiert sich in einem modernistischen Gewand, mit Referenzen an den französischen Avantgardisten Alain Resnais (Hiroshima, mon amour, FR 1959). Die in Schwarz und Weiss gehaltenen Aufnahmen erzeugen einen klaustrophobischen Raum, in dem jede Form von Individualismus gleichgeschaltet ist. Wakamatsu fokussiert sich auf die Nachbarin und Hausfrau Nobuko. Sie wird zum Objekt, an dem der junge Student Makoto seine Gewalt und Frustration auslassen kann. Hier zeigt sich ein typisches Motiv Wakamatsus: der Mann, der die Welt hasst, und die Frau, an der dieser Hass ausgelassen wird. Der Gewalt geht meist, wie in diesem Fall auch, eine Phase des Voyeurismus voran. Die Nachbarschaft ist dabei ein beliebtes Umfeld. Das Eindringen des Fremden in den scheinbar sicheren Raum der Wohnung vermittelt ein Gefühl der Unsicherheit. Das Motiv des Eindringlings greift Wakamatsu erneut in späteren Werken wie beispielsweise A Pool Without Water auf.

«It’s the fault of these walls», gesteht Makoto, kurz bevor er die Nachbarin umbringt. Im Film, der ausschliesslich in den Räumen des Wohnblocks spielt, fällt dabei immer wieder die Referenz auf die Umgebung. An einer anderen Stelle äussert sich Nobuko: «I want to get out of here.» Woraufhin ihr Geliebter entgegnet: «And go where? It’s the same small room and walls all-over Japan.» Darin zeigt sich eine Hoffnungslosigkeit verbunden mit dem Gefühl der Gefangenschaft. Wie viele andere Filmemacher dieser Epoche zeigt Wakamatsu eine Generation, die unter der Urbanisierung leidet. Die Kollektivierung des Individuums und das Einpferchen in austauschbare Wohnkasernen drücken allen Bewohnern aufs Gemüt. Makoto, zusätzlich gekrängt durch das Scheitern in der Schulprüfung, reagiert darauf mit Vergewaltigung und Mord. Wakamatsu stellt das Handeln seines Protagonisten als logische Konsequenz der, von der japanischen Regierung als Modernismus gefeierten, Umgebung dar.

Das Konzept, dessen er sich bedient, lässt sich zurückführen auf Masao Adachis ‹Landscape Theory›.6 Masao Adachi, später selbst Filmemacher, war Drehbuchautor für Koji Wakamatsu und sehr gut darin, den Zuschauer dazu zu bringen, mit einem Spiel von Einbeziehung und Distanz die eigene Haltung zum Film zu hinterfragen. In Anlehnung an den brechtschen Verfremdungseffekt besagt die Landscape Theory, dass die nicht lebendige Umgebung eine eigenständige Rolle bekommt. Der Film bildet sie ab, aber es obliegt dem Zuschauer, diese Rolle zu erkennen und zu besetzen. Die Bilder der urbanen Einöden, in gleicher Art auch in späteren Wakamatsu Filmen zu sehen (Go, Go, Second Time Virgin und Shinjuku maddo / Shinjuku Mad, JP 1970), dienen als Projektionsfläche für die Entfremdung der Bewohner. Gleich die ersten Sequenzen des Films, die sorgsam inszenierten Aussenaufnahmen der Gebäudekomplexe, stellen dies unter Beweis. Mensch und Umgebung werden hier von Anfang an in ein Verhältnis zu einander gesetzt.

Die Geschichte über häusliche Gewalt in der neuen japanischen Wohlstandsgesellschaft beschränkt sich aber nicht nur auf die Allegorie zwischen Staat und Individuum. Secrets Behind the Wall rechnet auch mit der gescheiterten Studentenrevolution ab, als dessen Teil sich der linksradikal geprägte Wakamatsu versteht. So zeigt der Film beispielsweise eine Liebesszene mit einem Mann, dessen Körper gezeichnet ist von den Spuren der Atombombe in Hiroshima. Ein grosses Mal ist auf seinem Rücken zu sehen. Prominent im Sujet platziert ist ein Porträt von Stalin an der Wand im Hintergrund. Atomkrieg, Stalin, Ausweglosigkeit und Lust. Wakamatsu assoziiert die Symbole der Studentenbewegung mit den gescheiterten Existenzen seiner Charaktere und beraubt sie damit ihrer Bedeutung. Die Tiefenschärfe der Sequenz erzeugt einen ikonoklastischen Humor, der die einst bedeutungsvollen Werte des Stalinismus durch die Konfrontation mit der Realität entleert.

Späte Versöhnung

Secrets Behind the Wall fällt bei einem Grossteil des Fach- und Laienpublikums der Berlinale durch. Einige Zuschauer verlassen den Kinosaal sogar noch während der Vorstellung. Der eigentliche Skandal beschäftigt die Presse noch circa zwei Wochen. Der Berliner Kultursenator Werner Stein entschuldigt sich im Nachhinein beim japanischen Produzentenverband und spricht von einem Missverständnis. Die JMPA boykottiert das Festival nichtsdestotrotz in den folgenden beiden Jahren. Im Wettbewerb setzt sich Jean-Luc Godards Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution (FR 1965) durch und die Jury unterstreicht damit die neue Linie des Festivals, von nun an auch kritische Filme zuzulassen. Für Wakamatsu ist die Vorführung dennoch ein Erfolg. Der Medienrummel macht ihn zur Bekanntheit und zum Enfant terrible. Bekannte Persönlichkeiten der politischen Linken stellen sich hinter ihn. Wakamatsu kann danach nicht mehr für Nikkatsu arbeiten, gründet aber mit Wakamatsu Productions seine eigene Produktionsfirma, der sich sehr bald viele junge Filmemacher, unter anderem Masao Adachi, anschliessen. Ein wichtiger Moment für das japanische Independent-Kino und ein entscheidendes Zeichen für die Freiheit der Kunst:

The effect on film production of Wakamatsu’s showing at the festival was to strengthen his position as an outlaw filmmaker and to establish a bargaining position for independent filmmakers, including channels for distribution and collaboration, outside the purview of the self-censorship of the Eiren group.7

Wakamatsu wird von nun als Teil der ‹Japanese New Wave› auch im Ausland wahrgenommen. Im Folgejahr ist er mit The Embryo Hunts in Secret auf dem Knokke-Le-Zoute Experimental Film Festival in Belgien eingeladen. 1971 besucht er zusammen mit Nagisa Oshima das Filmfestival in Cannes, bei dem seine beiden Filme Violated Angels und Seizoku: Sex Jack (Sex Jack, JP 1970) gezeigt werden. Man kann daher mit Recht behaupten, dass der Skandal auf der Berlinale 1965 den internationalen Durchbruch für Wakamatsu bedeutete. Viele, die seine Filme zerrissen hatten, loben plötzlich den Mut des vormals Geächteten. Wakamatsu beschreibt dies mit den treffenden Worten: «A lot of people were criticizing the shit out of my movies. But, for the most part, five years or so after each release, people would sing praises of those same films.»8

Im Jahr 2008 findet Wakamatsu auch seinen Frieden mit der Berlinale, als diese ihm für United Red Army den Preis der unabhängigen Jury verleiht. Die Festivalleitung nutzt die Anwesenheit des Regisseurs, um einige ausgewählte Frühwerke zu präsentieren. Natürlich ist auch Secrets Behind the Wall dabei. Der Aufschrei der japanischen Regierung bleibt diesmal aus.

Chris Desjardins, Outlaw Masters of Japanese Film, New York 2005, S.180.

Desjardins (wie Anm. 1), S.180–181.

Der Asama-Sanso-Zwischenfall beschreibt eine zehntägige Geiselnahme im Februar 1972, durchgeführt von der linksradikalen United Red Army in einer Hütte auf dem Berg Asama. Der Tod zweier Polizisten im Zuge der Geiselbefreiung und die intensive mediale Berichterstattung der Ereignisse führten zu einem Stimmungswechsel in der Bevölkerung, die sich von der politischen Linken ab diesem Zeitpunkt zunehmend distanzierte. Mehr dazu: Igarashi Yoshikuni, «Dead Bodies and Living Guns: The United Red Army and Its Deadly Pursuit of Revolution, 1971–1972», in: Japanese Studies 1 (Volume 27/2, 2007), S. 119–137.

Desjardins (wie Anm. 1), S. 181.

Alexander Zahlten, The End of Japanese Cinema: Industrial Genres, National Times, and Media Ecologies, Durham 2017, S. 75.

Vgl. Julian Ross, «Ethics of the Landscape Shot: AKA Serial Killer and James Benning’s Portraits of Criminals» in: Tiago de Luca, Slow Cinema, Edinburgh 2016, S. 261–272.

Anne McKnight, «The Wages of Affluence: The High-Rise Housewife in Japanese Sex Films», in: Camera Obscura 79 (Volume 27/1, 2012), S. 5–8.

Desjardins (wie Anm. 1), S. 181.

Alexander Knoth
*1990 in Koblenz, Lektor und Filmkritiker, Masterarbeit: Fremd in Japan: Die Konstruktion von Identität im japanischen Film durch Fremderfahrung (Universität Wien 2017), Redakteur bei Asian Movie Pulse und Betreiber des Blogs Japancuts. www.japancuts.de
(Stand: 2021)
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