HOMAYUN SOBHANI

VIDEOEX 2019 – INTERVIEW MIT LEONIA BRENNER

FESTIVALBERICHTE
Mit Namen wie Sebastián Díaz Morales, Apichatpong Weerasethakul und Jonas Mekas eröffnete zum 21. Mal das internationale Experimentalfilm- und Videofestival Videoex im Walcheturm auf dem Kasernenareal in Zürich für rund 4’000 Besucherinnen seine Türen. Zwischen dem 25. Mai und 2. Juni wurden hier über 150 Filme gezeigt. Leonia Brenner von der Festivalproduktion erzählt von ihrer erstmaligen Mitarbeit, über Kannibalismus und Queer Cinema und wieso Kinder manchmal die besseren Kinobesucher sind.
 
Wieso braucht Zürich sowas wie das Videoex und wie bist du dazu gekommen, dich dieses Jahr im Festival zu engagieren?
 
B: Das Medium des Films fasziniert mich, der Kinobesuch ist bei mir quasi Kultus. Als in Zürich lebende Künstlerin finde ich, dass die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des bewegten Bildes in einem Zeitalter des Bilderrausches wichtig ist – besonders in einer Film- und Kreativstadt wie Zürich. Videoex als Experimentalfilm - und Videofestival widmet sich voll und ganz dieser Auseinandersetzung, die einerseits eine politisch-gesellschaftliche, aber ganz entscheidend auch eine künstlerisch-ästhetische ist.
 
Wo ist die Position des Videoex in der schweizerischen Filmkultur- und Filmfestivalszene?
 
B: Über die Jahre avancierte das Videoex zum grössten Festival in der Schweiz, das sich gänzlich dem Genre des Experimentalfilms verpflichtet hat. Schnell taucht hier die Frage auf, was Experimentalfilm eigentlich ist. Das ist eine unheimliche schwierige Frage, weil wir hier von einer relativ breiten Bandbreite sprechen. Vielleicht kann ich diese Frage jedoch mit den Worten Patrick Hubers, unseres Festivalleiters beantworten: Der Experimentalfilm siedelt sich im Zwischenfeld zwischen dem narrativen und dokumentarischen Film an. Es geht beim Experimentalfilm weniger um die Erzählung oder das Narrativ, sondern um die Potentialität der Bilder. Diese erzählen die Geschichten, erzeugen und liefern Information und gestalten für die Zuschauer neue Welten mit Bedeutungen. Das Videoex verschreibt sich dezidiert diesem Zwischenfeld und eröffnet damit einen Raum, wo sich ganz unterschiedliche Genres und Umgangsformen mit Filmen treffen.
 
Wie seid Ihr dieses Jahr auf Wahl Brasiliens als Gastland gekommen?
 
B: Der Gastland-Block ist bei Videoex Tradition. Wir haben eine Liste von Ländern, die uns interessieren und Brasilien ist uns in den letzten Jahren auf verschiedenen Ebenen immer wieder begegnet. Die aktuelle politische Lage Brasiliens, aber auch seine Kulturgeschichte spielten dabei eine grosse Rolle. Brasilien ist ein bedeutender Schmelztiegel, in dem sich die unterschiedlichsten Kulturen treffen und gegenseitig beeinflussen.
 
Was zeichnet das brasilianische Experimentalfilmschaffen aus?
 
B: Mit seinem «Manifesto Antropófago» (1928) markiert der Dichter Oswald de Andrade die Abkehr von weissen Kulturimporten in der Kulturgeschichte Brasiliens. In dieser Veröffentlichung prägte er in Anlehnung an die indigene Praxis der Tupi die Metapher eines rituellen Kannibalismus als Möglichkeit, sich gegen die europäische postkoloniale Dominanzkultur zu behaupten. Das Fremde sollte gefressen werden. Es geht hier weder um die Verneinung noch die Nachahmung der weissen Kultur, sondern vielmehr um die kontinuierliche Erschaffung von einer authentisch brasilianischen Kunst. Ich glaube, dass diese Anthropophagie auch der Ort oder die Tradition ist, in welcher die zahlreichen experimentellen Werke und Künstler Brasiliens zu verorten sind.
Durch die Abwendung vom Hollywood-Schema vermochte die brasilianische Avantgarde in den 60er eine extrem lebendige und spannende kulturelle Szene zu schaffen, die durch die spätere Militärdiktatur (1964 – 1985) stark unterdrückt wurde. Aktuell herrscht in Brasilien wieder eine Tendenz die experimentelle Untergrund-Kultur an den Rand zu drücken, was man auffallend im aktuellen Experimentalfilm- und Videoschaffen beobachten kann. Diese Anthrophagie, das Einnehmen der weissen Dominanzkultur und die Erzeugung von etwas Neuem, ist die Dynamik und Kreativität im brasilianischen Kulturschaffen – was man bei Filmen von Hélio Oiticica und Vivian Ostrovsky fühlbar sehen kann
 
Was konnte man nebst dem Brasilienblock sonst noch sehen?
 
B: Dieses Jahr war Uriel Orlow, an sich ein prozessorientiert-arbeitender, eigentlich Bildender Künstler, unser Schweizer Fokus. Wir hatten uns für die Werkreihe «Theatrum Botanicum» entschieden. Darin geht Orlow der Frage nach, wie mit unterdrückter und verdrängter Geschichte oder Archivmaterial, strukturelle Ausgrenzung erzeugt wird und zeigt uns am Verhältnis zwischen Heiler und westlicher Medizin sehr eindrücklich wie Apartheid funktioniert hat.
 
Ein anderer Fokus war der thailändische Künstler und Filmemacher Apichatpong Weerasethakul. Seine Bilder sind sehr schlaftrunken, träumerisch-metaphysisch gleichzeitig aber auch sehr lebhaft und fassbar.
 
Mein persönlicher Favorit war der Block von Barbara Hammer, eine Filmemacherin und Pionierin des lesbischen und queeren Films, die im März dieses Jahres verstorben ist. Eine Künstlerin, die für lange Zeit aufgrund ihrer als zu kontrovers eingestuften lesbischen Ästhetik ohne Finanzierung oder öffentliche Anerkennung gearbeitet hat. Mit einer zärtlichen Radikalität erforscht sie in ihren Werken die weibliche Wahrnehmung, Körperlichkeit und Sichtbarkeit. Die Art wie sie das Begehren und die Konflikte von Weiblichkeit in Auseinandersetzung mit der heteronormativen Gesellschaft darstellt, hat mich tief beeindruckt. Irgendwie habe ich mich mit meiner eigenen Weiblichkeit in ihren Filmen plötzlich sehr verstanden gefühlt.
 
Und dann gab es noch den Kinderblock, für den du zuständig warst.
 
B: Für das Kinderprogramm trafen wir eine Auswahl von sieben Filmen. Die Vermittlung vom Kinderprogramm war eine Aufgabe, die ich anfangs unterschätzt hatte. Ich fand es noch schwierig abzuschätzen, welche Filme vorgestellt werden sollten, d.h. welche ‹kindertauglich› sind. Viele Kinder wissen ganz genau, was sie wollen und können dadurch auch die schwierigeren Kritiker_innen sein.
 
Wie bist du da vorgegangen?
 
B: Mir war es wichtig, dass das Programm zum einen auf Didaktik aufbaute und eine grosse Bandbreite an Macharten enthielt. Ich wollte den Kindern eine Einführung in das Prinzip und die Geschichte des bewegten Bildes geben. Sie sollten verstehen, wie ein Film überhaupt entsteht. Deswegen habe ich zum Beispiel einen Zeichentrickfilm ausgewählt (Kapitän Hü von Basil Vogt, CH 2011), der auf 16 mm hineingekratzt wurde. Zum anderen musste ich mich im Vorfeld damit auseinandersetzen, welche Ästhetik die Kinder anspricht und was ihnen eventuell Angst machen könnte. Es gab keinen Testlauf, also war ich auf die Reaktion der Kinder sehr gespannt und ehrlichgesagt am Anfang auch ziemlich nervös. Schliesslich aber hatten alle recht viel Spass und es wurde viel gelacht.
 
Ich musste überraschend feststellen, dass Kinder viel mehr verstehen als wir ihnen zutrauen – ist an sich auch keine neue Erkenntnis. Sie sind neugierig und haben eine grosse Empfänglichkeit. Bedenken hatte ich zum Beispiel beim Streifen von Takashi Limura, einem Experimentalfilmpionier. Der Film zeigt ihn frontal beim Vortrag des Alphabets. Dabei wird sein Gesicht beim Aussprechen immer wieder grotesk verzogen und verzerrt; eine Ästhetik, die teilweise sehr verstörend und angsteinflössend sein kann. Doch die Kinder mussten immer wieder lachen. Ich denke, Kinder sind heutzutage gerade aufgrund ihres Zugangs zur digitalen Welt mit einer solchen Ästhetik, die man zum Beispiel aus den Snap-Chat-Filtern kennt, durchaus vertraut.
 
Besonders spannend fand ich die Art des Kinobesuchs der Kinder im Vergleich zu der von Erwachsenen. Es wurde so viel gelacht, viel kommentiert, rumgeschrien und bewegt. Kinder können sich mit einer Leichtigkeit auf einen Film einlassen und aus dem Kinobesuch ein Erlebnis machen – eine Qualität, die uns Erwachsenen teilweise schon komplett abhandengekommen ist. Und gerade der Experimentalfilm fragt – viel mehr als der klassische Spielfilmkinoabend – nach der Bereitschaft der Zuschauer_innen, sich auf eine viel persönlichere und intensivere Art auf das Experiment mit der Leinwand einzulassen. Es entsteht hier ein Raum, den man mitgestalten soll und dabei immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen wird. Man muss eine gewisse Offenheit mitbringen. Experimentalfilme laden zum Ausprobieren ein, verlangen eine andere Art von Präsenz als beim klassischen Spielfilm. Ich glaube die Kinder hatten hier viel mehr Flexibilität und Offenheit. Erwachsene sind da oft gehemmt.
 
Wo siehst du den Unterschied in der Vermittlung zu anderen Festivals?
 
B: Videoex als Experimentalfilmfestival ist am ehesten ein Kunstfestival und deshalb auch mit anderen Filmfestivals kaum zu vergleichen; zumindest sehe ich das so. Und im Unterschied zum üblichen Ausstellungsbesuch, bei dem man im Schnelltempo von Objekt zu Objekt hüpft, bietet der Kinosaal eine andere Atmosphäre, sich auf Kunst einzulassen.
Wir sind uns gewohnt, alles hastig runterzuschlucken, rasch zu konsumieren. Im Kino sind wir aber in einem abgedunkelten Saal temporär gewissermassen eingeschlossen und für bestimmte Dauer auch gezwungen an einem Experiment teilzunehmen, bei dem nur das Ich und die bewegten Bilder auf der Leinwand als das grosse Gegenüber existiert. Man kann nicht weglaufen. Es geht dabei um eine Experimentierfreudigkeit, die zum Spiel mit den eigenen Grenzen und der Erweiterung des persönlichen Bewusstseins einlädt.
Homayun Sobhani
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2019)
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