DORIS SENN

17. ZURICH FILM FESTIVAL – GROSSES KINO, KLEINES KINO

Das Zurich Film Festival liebt die grossen Worte – etwa wenn es sich als «zweitwichtigstes Festival nach der Berlinale im deutschsprachigen Raum» bezeichnet oder als «Number 1 Filmfestival der Schweiz». Es liebt die grossen Stars, für die es den «Green Carpet» ausrollt – dieses Jahr für Sharon Stone, die für ihre Karriere, oder Paul Schrader, der für sein Lebenswerk geehrt wurde. Und es liebt die grossen Gesten – etwa mit seinem neuen Signet, das mit wuchtigem Pathos vor jedem Film die Aufmerksamkeit des Publikums erheischt (das Tonhalle-Orchester hat die Komposition eingespielt), oder der neuen Spielstätte Kongresshaus, das mit seinen 1300 Plätzen als «grösstes Kino der Schweiz» und neuer «Festivalpalast» zu Galavorstellungen lädt: der Festivaleröffnung mit Michael Steiners Und morgen seid ihr tot etwa oder der Fast-Weltpremiere des neuen Bond-Films No Time to Die.

Die Kirschen vom weltweiten Festivalkuchen

Das Zurich Film Festival, kurz ZFF, hat aber auch reich angerichtet – mit einer Auswahl von 164 Filmen aus 53 Ländern und einer Vielzahl Sektionen, die eine Übersicht eher erschweren als erleichtern: nebst den Wettbewerben etwa «Neue Welt Sicht», «Window to the World», «Border Lines», «Special Screenings», «Gala Premieren»... Wie auch immer: Die Fülle an klingenden Filmtiteln und Autorennamen implizierte die sprichwörtliche Qual der Wahl. Im letzten Jahr fand das Festival – erstmals unter der künstlerischen Leitung von Christian Jungen – glücklich eine Nische zwischen zwei Lockdowns. Mit der diesjährigen Zertifikatspflicht rückte Corona zumindest während der Vorführungen in weite Ferne, und das cinephile Publikum nutzte die neu gewonnene Freiheit rege: Die Säle füllten sich, man sass wieder ungewohnt nah, und es gab Filmvergnügen ohne Maskenpflicht. Dabei punktet das ZFF (noch) nicht unbedingt mit der Atmosphäre – die Kinos sind teils weit auseinander, man vermisst die lockere Festivalstimmung, wie sie etwa im wohl grössten Publikumsfestival der Welt, an der Berlinale, herrscht, während die Präsentationen manchmal etwas arg weltläufig auf Englisch sind... Dafür profiliert sich das ZFF als Best-of-Festival, das seine Filme in Sundance, Berlin, Cannes oder Venedig sucht und findet, und da es nicht dem Zwang zur Weltpremiere unterliegt, kann es die Kirschen vom Festivalkuchen der andern pflücken, um sie dem hiesigen Publikum in konzentrierter Form zu unterbreiten. Oft in Kooperation mit den Filmverleihern oder Produzentinnen, die das ZFF als mediale Plattform nutzen, um den Kino- oder Streamingstart ihrer Titel in den Folgemonaten zu promoten.

So umfasste die Auswahl des ZFF unter vielen andern etwa A Hero von Asghar Farhadi (A Seperation), mit dem Grossen Jurypreis in Cannes ausgezeichnet. Das neuste Werk des vielfach prämierten iranischen Regisseurs (darunter zwei Oscars) ist ein ebenso schlichtes wie packendes Drama um die komplexen Verstrickungen von Ehre und Ehrlichkeit, von Not und Notlüge – und die fatale Macht von Fernsehen und sozialen Medien. Ebenso bestechend und bald bei uns in den Kinos: Spencer von Pablo Larraín, Autor des Biopic über Jackie Kennedy ( Jackie, US/FR 2016), mit einer spektakulären Kristen Stewart, die sich in der Rolle der Lady D mit all ihren darstellerischen Fähigkeiten entfaltet und die fortgeschrittene Isolation im königlichen Clan der Prinzessin während der Weihnachtsfeierlichkeiten grandios zelebriert. Was der 31-jährigen Schauspielerin, so liest man, mutmasslich die erste Oscar-Nominierung eintragen wird. Zu sehen war auch der neue Film von Jane Campion: The Power of the Dog, der in Venedig gezeigt wurde. In der neuseeländischen Landschaft gedreht, handelt es sich dabei um einen sperrig inszenierten Western, der mit Benedict Cumberbatch und Kirsten Dunst in den Hauptrollen etwas gar didaktisch Aspekte von Männlichkeit im männlichsten aller Genres auszuloten versucht, (verdrängte) Homosexualität eingeschlossen. Auch das experimentelle, aber etwas ausufernd geratene neuste Werk von Todd Haynes (I'm Not There, Carol) über Lou Reed und seine Avantgarde-Band – The Velvet Underground –, das Apple TV streamen wird, vermochte die Erwartungen nicht zu erfüllen: Die Spannung ob all der Informationen von Zeitzeug_innen über jene legendäre Zeit von John Cage bis Andy Warhol flachte irgendwann ab und flutete den im Film so minutiös evozierten Zeitgeist.

Starke Schweizer Präsenz

Die Bestrebungen des ZFF, seine Position im deutschsprachigen Raum und auch des kleinen Autorenfilms zu stärken, zeigten sich unter anderem im Fokus Wettbewerb, in dem dieses Jahr zwölf Filme aus der Schweiz, aus Deutschland und Österreich figurierten – und eine Schweizer Produktion ausgezeichnet wurde: das bereits an der Berlinale prämierte, realitätsnahe Sozialdrama über ein Mädchenheim – La Mif – des autodidaktischen Westschweizer Regisseurs Fred Baillif. Die gestiegene Bedeutung des ZFF für die hiesige Filmszene zeigte sich insbesondere an der hohen Anzahl an Schweizer Produktionen – nicht weniger als 11 unter den insgesamt 17 Weltpremieren –, die am diesjährigen Zürcher Festival ihre Erstaufführung feierten. Nebst dem Eröffnungsfilm waren das etwa «Adolf Muschg – der Andere» von Erich Schmid, «Harald Naegeli – der Sprayer» von Nathalie David oder «Paracelsus – ein Landschaftsessay» vom Altmeister des Schweizer Dokumentarfilms, Erich Langjahr.

Brennpunkte der Weltgeschichte

Während Michael Steiners Verfilmung der Geiselgeschichte um das Schweizer Polizistenpaar – in Pakistan entführt, den Taliban übergeben und schliesslich freigekommen –, zwar viel medialen Staub aufwirbelte, wird Und morgen seid ihr totkaum in die Annalen der Filmgeschichte eingehen: zu theatralisch, trotz Thriller-Label kaum Suspense – und die ins Bild gebannte naive Haltung der Entführten wird die Kontroversen um ihre ‹Flucht› eher wieder aufflackern lassen. Da war No Time to Die doch ein sicherer Wert – Bond bleibt Bond! Zweieinhalbstündig und der mutmasslich letzte mit Daniel Craig, feierte der Film in London seine Weltpremiere – eine Viertelstunde später lief er in Zürich, um dann am folgenden Wochenende nicht weniger als 160’000 Eintritte in der Schweiz zu machen.

Mehr Realitätsnähe und Brisanz boten da aber doch die kleineren, engagierten Filme – etwa Sabya des schwedisch-kurdischen Hogir Hirori, in dem gezeigt wird, wie jesidische Mädchen in Lagern des Islamischen Staats (IS) als Sexsklavinnen gehalten und von einer humanitären Organisation nächtlich befreit werden. Mit Handy, teils hinter Schleiern gefilmt, wurde die Bedrohung rund um die Befreiungsaktionen mit Händen greifbar. Oder der spanisch-britische The Return: Life After ISIS von Alba Sotorra, der von Frauen aus aller Welt berichtet, die sich teils minderjährig dem IS anschlossen – und nun in einem Lager in Nordsyrien ausharren (müssen), weil die westlichen Herkunftsländer sich weigern, sie zurückzunehmen. Oder der eindrückliche Noche de fuego, das Spielfilmdebüt der mexikanisch-salvadorianischen Dokumentarfilmregisseurin Tatiana Huezo, die grade erst von den Visions du Réel in Nyon mit einer Retrospektive geehrt wurde. Noche de fuego spielt in einem mexikanischen Bergdorf, in dem die Drogenmafia nach Gutdünken schaltet und waltet. Drei Mädchen versuchen, der anhaltenden Bedrohung von Leib und Leben als Freundinnen den widrigen Lebensumständen zu trotzen. Stark!

Hommagen ans gedruckte Wort

Gleich drei Filme winden der geschriebenen Presse ein Kränzchen: So der Historienfilm Ilusions perdues von Xavier Giannoli – eine mit viel Drive und Humor verfilmte Buchvorlage von Honoré de Balzac, der mit dem Aufstieg und Fall des jungen Dichters Lucien de Rubempré die Entstehung der Zeitung und die Manipulation der Kulturkritik vor dem Hintergrund von Geld und Macht thematisiert. Modernisiert und anspielungsreich, lässt sich Giannolis Adaption mühelos auf die heutige Zeit übertragen, wo Profitgier und soziale Medien über Erfolg und Misserfolg von Künstler_innen und ihren Werken entscheiden. Mit Benjamin Voisin (aus Été 85 von François Ozon) als Rubempré, Cécile de France als seiner adligen Geliebten – und Gérard Depardieu als leutseligem Verleger-Doyen.

Um den fiktiven französischen Ableger einer Abendzeitung in Kansas dreht sich der mit viel Vorfreude erwartete neue Wes Anderson (Isle of Dogs, The Grand Budapest Hotel). Sein The French Dispatch (in vager Anlehnung an das US-Magazin The New Yorker, das Anderson verehrt) erweckt mit viel Liebe zum Detail Geschichten daraus zu cineastischem Leben. Entstanden ist ein ‹Wimmelfilm› mit minutiös gestalteten Szenebildern (wie immer bei Anderson), einer Vielzahl von Weltstars (ebenso) sowie unendlich viel filmischen Querverweisen (dito), die in viel zu kurzer Zeit an uns überforderten Zuschauer_innen vorüberziehen. Schade!

Schliesslich machte sich der deutsche Dokfilm Hinter den Schlagzeilen von Daniel Sager daran, am Beispiel eines Teams der «Süddeutschen Zeitung» hinter die Kulissen des Investigativjournalismus heutiger Tage zu blicken. Ein eher nüchternes Szenario, das aber zumindest erahnen lässt, wie schwierig die Recherchen für Exploits wie die Panama Papers oder die Veröffentlichung des Ibiza-Videos sich in der Realität ausnehmen, wo das Ringen um Fakten und Formulierungen zäh, anstrengend und manchmal lebensgefährlich ist (siehe Daphne Caruana, die ermordete maltesische Journalistin).

Berlinale-Erinnerungen und Green Shooting

Das Rahmenprogramm bot ein nicht minder vielfältiges Angebot für das bereits geforderte Festivalpublikum – aus dem ein Event herausgegriffen sei: der Talk des (neuen) ZFF-Festivaldirektors Christian Jungen mit dem Ex-Berlinale-Direktor Dieter Kosslick, der gerade ein Buch veröffentlicht hat («Immer auf dem Teppich bleiben»). Das Gespräch erwies sich als kleines Feuerwerk an Insiderinformationen, zahlreichen «Schnurren» aus Kosslicks Festivalzeit (2001–2019), die der leutselige Berlinale-Leiter, der immer mit rotem Schal und Hut auftrat, mit viel Verve und hohem Unterhaltungswert preisgab. Nicht zuletzt legt der überzeugte vegetarische Kosslick in seinem Buch auch den Finger auf die Nachhaltigkeit und erzählte Haarsträubendes, was den ökologischen Fussabdruck des Filmemachens (Stichwort Green Shooting), aber auch die Festivalkultur mit Gästeeinladungen und mehr betrifft. Das scheint sich Christian Jungen bereits zu Herzen genommen zu haben, möchte er doch, wie er sagt, in Zukunft vermehrt bei den Gästen auf Europa statt die USA setzen. Einstweilen darf das diesjährige ZFF aber zufrieden sein, schliesst es doch mit einer hohen Publikumszahl: mehr als 100’000 Besucher_innen. Hat da jemand etwas vom Sterben des Kinos gesagt?

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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