BETTINA SPOERRI

UND MORGEN SEID IHR TOT (MICHAEL STEINER)

Die jungen Schweizer Daniela Widmer und Daniel Och wurden 2011, unterwegs auf der alten Seidenstrasse, im Norden Pakistans entführt und in das von den Taliban beherrschte Waziristan verschleppt. 259 Tage lang waren sie Gefangene und wussten jeden Tag nicht, was mit ihnen geschehen würde. Die lange Geiselhaft, die damals in den Schweizer Medien mehrheitlich als unvernünftiges Verhalten zweier Abenteurer akzentuiert wurde, hat Steiner mit den Drehbuchautoren Urs Bühler und Daniel Young zum Zentrum seines neuesten Spielfilms gemacht. Entstanden ist aber kein effekthascherischer, sondern gut recherchierter, sehr realistischer Film, der unter die Haut geht. Es ist ihnen gelungen, spürbar zu machen, dass die Unsicherheit über das eigene Schicksal oft viel zermürbender und grausamer ist als die unmittelbare physische Bedrohung. Und die Entführer erhalten ein Gesicht, sind gerade in ihrer manchmal scheinbaren Normalität umso furchteinflössender; dass sie nicht Klischeebildern entsprechen, die einerseits nur brutal, andererseits aber gerade deswegen zu harmlos dargestellt sind – wie so oft im amerikanischen Kino –, ist eines der grössten Verdienste in diesem Film. Entführer und Entführte befinden sich in einem zähen Ringen in Trockenheit, Staub, Wassermangel, Krankheit, Langeweile, Angst und auch Gleichgültigkeit. Dem gegenüber stehen die Szenen in der Schweiz, wo sich die Eltern der Geiseln bei eidgenössischen Diplomaten wiederfinden, die das Leben ihrer Kinder eher unmotiviert und bürokratisch verwalten. Auch hier sind Drehbuch und Regie nicht der Verlockung der Übertreibung verfallen; deutlich wird das Skandalöse in der schwachen Haltung ständiger Abwiegelungen und Machtlosigkeitsbeteuerungen der Herren in Anzügen – und in den hämischen Kommentaren der Medien. Der Kampf der Eltern bleibt erfolglos. Nach über acht Monaten wagen die Geiseln aber eine sehr riskante Flucht, die nur sehr knapp nicht schiefgeht.
 
Sven Schelker und die französische Schauspielerin Morgane Ferru, die bisher oft in deutschen TV-Arztserien zu sehen war, aber nach dieser Leistung hier unbedingt mehr anspruchsvolle Rollen erhalten sollte, loten in ihrem Schauspiel die Intensität und die Abgründe einer Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau, die unverhofft auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen ist, auf vielschichtige Weise aus. Dass der mehrheitlich in der Pandemie und an Orten in Indien und Südspanien aufwändig gedrehte Film wie aus einem Guss wirkt, ist Regie und Produktion, aber insbesondere auch dem Kameramann Filip Zumbrunn zu verdanken. Wie Steiner hier Spannungskino mit realem Stoff verbindet, ist bemerkenswert und im Schweizer Filmschaffen eine Seltenheit.
Bettina Spoerri
*1968, Dr. phil., studierte in Zürich, Berlin und Paris Germanistik, Philosophie, Theater- und Filmwissenschaften, danach Dozentin an Universitäten, der ETH, an der F&F. Begann 1998, als freie Filmkritikerin zu arbeiten und war Redaktorin (Film/Theater/Literatur) bei der NZZ. Mitglied Auswahlkommission FIFF 2010–12, Internat. Jury Fantoche 2013, mehrere Jahre VS-Mitglied der Filmjournalisten, Mitglied bei der Schweizer Filmakademie. Freie Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses. CINEMA-Redaktorin 2010–2017, heute Mitglied des CINEMA-Vorstands. www.seismograf.ch.
(Stand: 2021)
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