DARIO IANNOTTA

ICH UND DU (DANIEL GRABHERR)

Der poetische Kurzfilm von Daniel Grabherr beginnt an einem Fluss. Die Kamera gleitet verspielt über das Wasser und zeigt die darin entstehenden befremdlichen Spiegelungen der umliegenden Landschaft. Diese Schwarz-Weiss-Aufnahmen sind mit verzerrten Geräuschen von Vögeln und Motorenbrummen untermalt. Waldaufnahmen ziehen am Flussufer vorbei; der Wind weht durch die Blätter an den Bäumen. In der nächsten Kameraeinstellung weht ein Ventilator durch die Haare eines Jungen, der in seinem Schlafzimmer schläft. War die Landschaft zuvor nur ein Traum?
 
Die Welt, in die der junge Victor erwacht, wird in wenigen Stunden untergehen, wie man später im Film durch eine Radiodurchsage erfährt. Obwohl Victor bald sterben wird, scheint er dem Leben mit einer kindlichen Leichtigkeit zu begegnen. Er beobachtet seine Nachbarn, filmt mit seinem Camcorder ihre Körper und streift gelassen umher. Dabei versucht er mit seiner Kamera seine Umgebung festzuhalten. Die Camcorder-Aufnahmen sind farbig und kontrastieren das Schwarz-Weiss des restlichen Filmes. Victor trifft plötzlich auf die junge Ella, die ihm vertraut zu sein scheint. Sie wirken wie zwei Magnete, die sich gleichzeitig anziehen und abstossen. Beide gehen anders mit ihren Gefühlen bezüglich des bevorstehenden Weltuntergangs um, was ihre Beziehung in den letzten Momenten ihres Lebens auf eine Zerreissprobe stellt.
 
Der Film kommt gänzlich ohne Musik und nur mit wenig Dialog aus. Stattdessen hebt das beeindruckende Sound Design von Kathleen Moser bewusst einzelne Geräusche stark hervor und lässt die Filmwelt dadurch plastischer werden. Grabherr weiss, die filmische Mittel gekonnt einzusetzen und die Filmsprache für sich sprechen zu lassen. Diese schwankt dabei immer wieder zwischen erdrückender Schwere und verspielter Leichtigkeit. Zugleich wechseln sich die Aufnahmen zwischen subjektiven Gefühlsbildern der Figuren mit äusseren Aufnahmen ihrer Umgebung ab. Dadurch entsteht eine kontemplative Stimmung, die schnell eine meditative Sogwirkung entwickelt. Die Dramatik des Weltunterganges wird so klein wie möglich gehalten und immer wieder bestimmt unterbrochen. Diese stille Dramatik kommt auch indirekt in Kontrasten zum Vorschein wie mit dem Zeigen von Kreidezeichnungen von Kindern draussen auf dem Asphaltboden: Hier sind noch letzte Spuren der Menschen zu finden. Anstatt darin das nahende Unglück zu sehen, entscheidet sich Grabherr in seinem Kurzfilm immer wieder dafür das Leben und die blühende Natur zu zeigen, die auch Victor einzufangen versucht – bis zum letzten Augenblick.
Dario Iannotta
* 1992 in Zürich, 2012 Abschluss kaufmännische Berufslehre, 2021 Bachelorabschluss in Filmwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Derzeit im Masterstudium in Filmwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Arbeitet als Bibliotheksmitarbeiter im filmwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich, als freier Filmkritiker und als freier Pornodarsteller.
(Stand: 2022)
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