NORA KEHLI

EL AGUA (ELENA LÓPEZ RIERA)

Es sind Sommerferien: Die siebzehnjährige Ana und ihre Freund_innen versuchen ihre Zeit in der spanischen Provinz totzuschlagen. Sie gehen baden, knüpfen erste zarte Bande, rauchen und trinken. Obwohl draussen die Sonne scheint, braut sich etwas in der Ortschaft zusammen: Im ganzen Dorf geht eine orakelhaft anmutende Aussage um, der zufolge mit jeder neuen Flut bestimmte Frauen zu verschwinden drohen. Dieses mythische Schicksal scheint auch Ana zu blühen, denn mit ihrer ersten Liebe bricht ein heftiger Sturm aus.
 
Ana sieht sich nicht bloss mit dieser düsteren Vorherbestimmung konfrontiert, auch die Enge ihrer Verhältnisse belasten sie. Trotz der weiten Landschaften, leeren Strassen, grossen Plantagen und brachliegenden Industrieflächen wird das beklemmende Gefühl der Jugendlichen etwa durch die menschenleeren Schauplätze und das getrübte Farbspektrum deutlich spürbar. El Agua enthält in dieser Hinsicht geradezu visuelle Anklänge an Michelangelo Antonionis Il Deserto Rosso (IT, 1964) .
 
Die allgegenwärtige Monotonie im Provinznest wird zusätzlich mittels des langsamen Tempos vermittelt, in dem die Geschichte voranschreitet. Bis auf die sich anbahnende Flut bleibt die Handlung nämlich nahezu ereignislos. Doch wirkt der Film nie träge, was nicht zuletzt auf die fesselnde Präsenz der Protagonistin, verkörpert durch die Laiendarstellerin Luna Pamies, zurückzuführen ist.
 
Wie zahlreiche andere Filme handelt auch das Spielfilmdebüt von Elena López Riera von sehnsüchtigen Jugendlichen, die von der Ferne träumen. Ihrer Vision weiblicher Jugend verpasst die spanische Filmemacherin jedoch eine übernatürliche Note: Als roter Faden der Handlung fungiert nämlich die Legende vom Wasser und den verschollenen Mädchen. Riera setzt diesen transzendenten Elementen dokumentarische Gestaltungsmittel entgegen. So wird im Laufe des Filmes immer wieder auf Interviewpassagen geschnitten, in denen ältere Dorfbewohnerinnen vom sagenumwobenen Fluss erzählen.
 
Die Regisseurin stellt die Frauen eindeutig ins Zentrum: Sie sind in die lokalen Bräuche und Glauben eingeweiht, wodurch sie ein sehr enges Verhältnis zueinander pflegen. Diese starke weibliche Bindung wird insbesondere anhand Anas Beziehung mit ihrer Mutter und Grossmutter veranschaulicht, die von Zusammenhalt, Vertrauen und Geborgenheit geprägt ist. Riera schafft somit ein generationsübergreifendes Porträt, das von einer grossen Intimität zeugt. Überdies erzählt sie die Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau, die einen anderen Weg als ihre Vorfahrinnen einschlagen möchte. Elena López Riera ist mit El Agua ein atmosphärisch dichter Film über die Weiblichkeit, patriarchale Strukturen und das Schicksal mit Reminiszenzen an den magischen Realismus gelungen.
Nora Kehli
*1996 in Luxemburg, studiert Filmwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Neben dem Studium als studentische Hilfskraft an der Online-Datenbank Timeline of Historical Film Colors tätig und für Online- und Printmedien Artikel über Film und Fernsehserien schreibend (maximumcinema.ch).
(Stand: 2022)
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