SARAH STUTTE

FOUDRE (CARMEN JAQUIER)

Die 17-jährige Elisabeth steht im Sommer 1900 kurz davor, ihr Gelübde im Kloster abzulegen. Als ihre Schwester unerwartet stirbt, muss die Novizin jedoch auf den abgelegenen Familienhof im Unterwallis zurückkehren, um in der Landwirtschaft zu helfen. Zurück in der heimatlichen Umgebung kämpft Elisabeth mit ihren widersprüchlichen Gefühlen, die durch die Entdeckung des Tagebuchs der Schwester noch verstärkt werden. Was sie darin liest, ist ein wahrer Kampf ums Überleben und um das Recht, die eigene innere Welt zu erforschen. Frei von den Konzepten von Gut und Böse, die wie eine bedrückende Wolke über dem Tal schweben.
 
Das Spielfilmdebüt der Genfer Regisseurin Carmen Jaquier fängt die Rastlosigkeit einer jungen Frau im Jahr 1900 – eindringlich gespielt vom französischen Nachwuchstalent Lilith Grasmug –in Bezug auf ihren Glauben und ihr Bedürfnis nach Zuneigung ein. Foudre ist von einer tiefen Mystik durchdrungen, was das Debüt der Genfer Regisseurin Carmen Jaquier zeitlos und doch sehr modern wirken lässt, und mit einer grossartigen Fotografie, die manchmal an Jane Campions The Piano (AU/FR, 1992) erinnert. Die Geschichte widmet sich vorderhand dem katholischen Glauben und zeigt dessen strikte Regelungen im bäuerlichen Alltag des 19. Jahrhunderts auf. Im Kontrast dazu steht der Hauch von Freiheit für Frauen jener Zeit, die sich für ein gebildetes Leben im Kloster entscheiden.
 
Darin fügt sich auch die Betrachtung der Sexualität und des weiblichen Körpers ein. Allmählich weicht dieser Fokus auf dem beherrschten weiblichen Körper aber einer universelleren Reflexion über Liebe und Sinnlichkeit, die den Weg ebnet, um sich selbst und andere zu entdecken. Die eigene Menschlichkeit wiederzufinden, in der Gemeinschaft mit Gott und der Natur.
 
Carmen Jaquier erklärte, dass ihr Film durch eine Newsmeldung inspiriert wurde, über zwei Teenager, die sich in einem Vorort von Berlin selbst in Brand setzten. Die Filmemacherin wollte daraufhin die Grenzen von Leidenschaften hinterfragen, die nicht frei ausgelebt werden können, weil sie gegen die Norm verstossen. Die Entdeckung der Tagebücher ihrer Urgrossmutter machte das ursprüngliche Drehbuch schliesslich zu einem mit historischem Bezug. In diesen persönlichen Notizen wendete sich Jaquiers Verwandte auf sehr ehrliche Weise an Gott und berichtete ihm von ihren innersten Gedanken und Gefühlen. Dingen, die sie nie einem anderen Menschen anvertraut hätte.
 
In dieser Kombination ist ein Film voller Aufrichtigkeit entstanden. Er zeigt eine ländliche Welt, die mit den eigenen Ängsten ringt, in Bezug auf den spürbaren Drang nach einer eigenen Identität. Foudre ist ein kraftvoller, visuell berauschender und majestätischer Erstlingsfilm. Vor allem zeigt er auf, dass der Glaube und der Wunsch nach Freiheit sich nicht ausschliessen.
 
Foudre wurde bereits am letztjährigen Zurich Film Festival mit zwei Kritikerpreisen ausgezeichnet und gewann im Januar dieses Jahres den «Opera Prima» an den Solothurner Filmtage sowie den Schweizer Filmpreis 2023 in den Kategorien beste Filmmusik und bester Ton. Nun geht Foudre für die Schweiz ins Oscar-Rennen.
Sarah Stutte
*1977, studierte Journalistik, Literarisches Schreiben und Drehbuch in Zürich. Schreibt für zahlreiche Print- und Onlinemagazine im In- und Ausland sowie Booklet-Texte für deutsche Labels. Seit 2015 Mitglied des SVFJ. Jury NIFFF 2015, ZFF 2017, Black Movie Genf und
Locarno 2022. Festes Mitglied im Team des Kino Nische Winterthur.
(Stand: 2022)
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