NORA KEHLI

SISI & ICH (FRAUKE FINSTERWALDER)

Gräfin Irma konnte noch nie viel mit Männern anfangen. Als ihre Mutter jede Hoffnung auf eine Heirat aufgibt, wird die schüchterne Irma kurzerhand als Hofdame nach Korfu verschifft. Dort hat sich Kaiserin Elisabeth ihr eigenes Paradies geschaffen, in dem Männer keinen Zutritt haben. Irma findet sich schnell in ihrer neuen Umgebung zurecht, wird rasch zur engsten Vertrauten Sisis und verliebt sich bald unsterblich in die anmutige Kaiserin. Auch Sisi findet Gefallen an ihrer neuen Zofe, was jedoch nicht langfristig anhalten wird. Sie können nicht ohne einander und so wird Irma zur ständigen Begleiterin Sisis: Gemeinsam reisen sie nach Algier, werden an den Hof nach Bayern und Budapest berufen, fliehen nach England und landen schliesslich in der Schweiz, wo Sisi ihre letzten Tage mit Irma verbringt.
 
Abseits der gängigen Klischees zeigt Regisseurin Frauke Finsterwalder in Sisi & Ich eine ungezügelte und enthemmte Sisi: Sie raucht, treibt exzessiv Sport und lässt sich tätowieren. Dabei blickt sie hinter die glamouröse Fassade der Kaiserin, die mit Bulimie kämpft, die höfische Etikette verachtet und neurotische Verhaltensweisen an den Tag legt. Kurzum: Ein ungeschminktes Porträt einer Frau mit all ihren Höhen und Tiefen, statt einer romantisch verklärten Version einer historischen Figur. Susanne Wolff porträtiert die Ambivalenzen der Kaiserin hervorragend: Das Publikum erlebt sie als unbekümmerte Weltenbummlerin, emanzipatorisches Vorbild, charismatische Manipulatorin und zutiefst unglückliche Kaiserin. Auch Sandra Hüller als Irma verkörpert die Entwicklung von der zaghaften Hofdame zur besitzergreifenden Geliebten meisterhaft.
 
Sisis Gemüt spiegelt sich in den Räumlichkeiten wider: Während Korfu und Algier lichterfüllte, weite und farbenreiche Landschaften darstellen, herrscht im Inneren der Adelshöfe tiefe Dunkelheit, das Farbspektrum ist hier überwiegend auf Grau- und Brauntöne reduziert. Auch die Garderobe ist ein Indikator für Sisis Innenwelt: Wenn sie nicht gerade ihrer Rolle als Kaiserin nachgeht, trägt sie weite, luftige und bunte Kleider. Am Hof hingegen wird sie in enge, pompöse und dunkle Kostüme gezwängt. Die Kleidung wirkt teils geradezu anachronistisch, genauso wie die Musik. Die weiblichen Stimmen des Soundtracks entführen dabei in eine Welt, in der Frauen im Mittelpunkt stehen.
 
Finsterwalder nimmt es mit der historischen Wahrheit nicht so genau, was aber eine der grossen Stärken des Films ist. Obwohl die Kinolandschaft derzeit von Filmbiografien geradezu überflutet scheint, lohnt sich ein Blick auf diese queere Liebesgeschichte, die dem hartnäckigen Sisi-Mythos etwas entgegensetzt.
Nora Kehli
*1996 in Luxemburg, studiert Filmwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Neben dem Studium als studentische Hilfskraft an der Online-Datenbank Timeline of Historical Film Colors tätig und für Online- und Printmedien Artikel über Film und Fernsehserien schreibend (maximumcinema.ch).
(Stand: 2022)
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