CORINNE GEERING

ZIMMERWALD (VALERIA STUCKI)

Inmitten des Ersten Weltkriegs fand das Dorf Zimmerwald unverhofft und widerwillig Eingang in die Geschichte sozialistischer Revolutionen. Als Ornithologie-Kongress getarnt versammelten sich in der beschaulichen Ortschaft fast vierzig Sozialist_innen aus der Schweiz und dem Ausland, unter ihnen auch Lenin und Trockij. Im Dokumentarfilm von Valeria Stucki macht sich eine Sekundarschulklasse aus der Gegend auf die Suche nach den Spuren der Zimmerwalder Konferenz, die später im Kalten Krieg von der Sowjetunion gefeiert und vor Ort vergessen wurde. Dabei greift die Filmemacherin auf vielfältige Archivmaterialien zurück, die den Schüler_innen im Unterricht gezeigt werden oder die sie in der Schulbibliothek und im Dorfarchiv selbst sondieren. Man betrachtet mit ihnen Postkarten aus der Sowjetunion und begleitet sie zum Standort der ehemaligen Pension «Beau Séjour», wo die Konferenz 1915 stattfand. Gerahmt werden die Erkundungen von verschiedenen Interviews mit Sachkundigen sowie den Kindern und Enkelkindern damaliger Dorfbewohner_innen. Unter ihnen sticht der vermeintlich geschichtsinteressierte Gemeindepräsident hervor, der mit seinen Kindern alle Burgen in der Umgebung abklapperte, aber ihnen von der «Lenin-Konferenz» im Dorf nichts erzählen wollte. Die Schüler_innen wittern Verdacht, dass hier etwas aus der Geschichte getilgt werden soll. Am Ende reichen sie beim Gemeinderat eine Petition ein, damit der Zimmerwalder Konferenz vor Ort mit einer Gedenktafel erinnert wird.
 
Der Dokumentarfilm ist sehr zurückhaltend gestaltet, indem auf Hintergrundmusik, Erzählstimmen oder allzu gewagte Einstellungen verzichtet wird. Die Schüler_innen wirken in ihren Rollen in sorgfältig arrangierten Szenen mit. Wiederholt werden performative Elemente eingebaut, wodurch die Tätigkeit der Regisseurin als Videokünstlerin im Theaterbereich sichtbar wird. So nehmen die Schüler_innen beispielsweise bei der Feldforschung einen Text aus dem Archiv mit und lesen ihn ihrem Interviewpartner auf etwas gar hölzerne Weise vor. Diese Quelle ist neben verschiedenen anderen Materialien Teil einer szenischen Montage, die in der Kulisse der damaligen Bauten spielt, aber aus der sich nicht wirklich eine Story entwickeln mag. Über die Teilnehmer_innen der Zimmerwalder Konferenz erfährt man wenig und die mit ihnen verbundenen Ereignisse wie der Landesstreik bleiben aussen vor. Es wäre angesichts des immer wieder sichtbaren Unbehagens gegenüber der dörflichen Vergangenheit in Zimmerwald spannend gewesen, den Blick nicht nur auf die exotisiert dargestellte Sowjetunion, sondern auch auf die Schweiz selbst zu richten.
Corinne Geering
*1987, dr. phil., studierte Philosophie (BA) und World Arts (MA) in Zürich, Bern und Prag. Promotion in Gießen. Lebt in Leipzig.
(Stand: 2021)
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