THOMAS HUNZIKER

PIPES (JESSICA MEIER, KILIAN FEUSI, SUJANTH RAVICHANDRAN)

Diese Rohre sind nicht jugendfrei. Fröhlich pfeifend schnappt sich ein Klempner seinen Werkzeugkasten und macht sich auf den Weg zu seinem nächsten Auftrag. Als er die Tür öffnet, dringt dumpf wummernde Bassmusik aus dem Lokal. Der stämmige Barmann mit dem imposanten Schnauzbart, dem er seine Visitenkarte übergibt, führt den Klempner in die Niederungen eines Fetisch-Klubs, wo neben einer defekten Heizungsanlage auch bizarre Gestalten in Leder und Masken auf den überforderten Klempner warten.
 
Der Schweiss tropft ihm von der Stirn, als der Klempner die überschäumende Szenerie betrachtet: An Brustwarzen saugende Münder, Ausserirdische, gepiercte Körperteile, ein Weihnachtsmann, ein Clown und ein Teletubby, in Umarmungen verschwindende Männer, nackte Hinterteile. Kaum beginnt der Klempner an den Rohren zu hantieren, beginnen ihn die visuellen Reize in der Umgebung zu übermannen. Jeder Handgriff führt zu einer lustvollen Assoziation, sodass der Klempner in einem Strudel von virilen Bildern versinkt. Schliesslich erkennt er, dass er diesen Auftrag mit den Instrumenten der Klubgänger besser erfüllen kann als mit seinen eigenen Werkzeugen.
 
Der kurze Animationsfilm Pipes von Jessica Meier, Kilian Feusi und Sujanth Ravichandran ist an der Hochschule Luzern im Bachelor Animation entstanden. Die Hauptfigur in der Gestalt eines niedlichen Teddybären und die erotischen Anspielungen erinnern an die herrlich obszönen und erfrischend frivolen Abenteuer von Fritz the Cat von Robert Crumb. Meier, Feusi und Ravichandran inszenieren diesen kompromisslosen Ausflug in die Fantasie eines jungen Bären mit präzisen und harmonischen Schwarzweiss-Zeichnungen, die sie durch die temporeichen Technoklänge auf ihren ekstatischen Höhepunkt zusteuern lassen. Durch die ineinander verschmelzenden Gestalten beweisen sie dabei ebenso viel Gespür für makelloses Timing wie für subtile Grenzüberschreitungen. Die opulente Vielfalt an Eindrücken und die berauschende Ästhetik lassen das knapp vier Minuten lange Werk viel länger erscheinen, als es eigentlich ist. So ist dieser prägnante Traum von Lust und Begehren dann auch schon viel schneller wieder vorbei als erhofft.
 
Der verspielte und im wahrsten Sinne des Wortes reizvolle Film war unter anderem fürs Sundance Film Festival 2023 in den USA nominiert und gewann am Neuchâtel International Fantastic Film Festival NIFFF den Prix H. R. Giger «Narcisse» für den besten Schweizer Kurzfilm sowie am Fantoche den «High Swiss Risk»-Award im Schweizer Wettbewerb.
Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)

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