NORA KEHLI

BIG LITTLE WOMEN (NADIA FARES)

Im Dokumentarfilm Big Little Women thematisiert Nadia Fares Geschlechterrollen und Aufwachsen im Ägypten der Gegenwart. Dabei zeichnet die Regisseurin nicht nur die Geschichte des Landes, sondern auch die ihrer eigenen Familie nach. Mittels Voiceover wendet sie sich an ihren verstorbenen Vater, der in ihrer Kindheit aus der Schweiz nach Ägypten abgeschoben wurde. Inwiefern dies mit patriarchalen Strukturen zusammenhängt, reflektiert Fares in diesem filmischen Brief.
 
Um sich einer Nabelschau zu entziehen, verwebt sie geschickt ihr persönliches Schicksal mit dem anderer Frauen. Sie porträtiert verschiedene Generationen von Ägypterinnen, die den Status quo herausfordern. Unter ihnen die feministische Ikone Nawal El Saadawi, die auf 75 Jahre Frauenkampf zurückblickt. Saadawi erzählt davon, wie sie im Kampf für Frauenrechte stets auf Widerstand stiess. Doch trotz Kündigung, Gefängnis und Exil liess sich ihr Kampfgeist nie bändigen.
 
Daneben kommen drei junge Frauen Nouran, Noha und Amina zu Wort, die mit dem Fahrrad quer durch Kairo fahren, um wertvolle Aufklärungsarbeit zu leisten. Bereits ihr Transportmittel zeugt von einem feministischen Akt: Frauen auf Fahrrädern sind verpönt, da ihr Jungfernhäutchen reissen könnte – was jedoch vielmehr einem sexistischen Klischee als der biologischen Realität entspricht. Der Dokumentarfilm räumt mit vielen solcher absurden Mythen auf.
 
Sie radeln in ärmere Viertel und suchen den Dialog mit den dortigen Bewohnerinnen. Daraus resultieren interessante Debatten, die unterschiedliche weibliche Copingstrategien offenbaren: Während das Trio den strukturellen Sexismus an der Wurzel packt, setzen sich die Bewohnerinnen der Viertel oft körperlich gegen Männer zur Wehr. Einigen können sich alle darauf, dass es dem Land wohl besser gehen würde, wenn es in den Händen von Frauen läge.
 
Das Hierarchiegefälle zwischen den Geschlechtern zieht sich wie ein roter Faden durch den Film. Anhand ihrer eigenen Biografie zeigt Fares patriarchale Macht- und Familienstrukturen in Ägypten wie in der Schweiz auf und weist auf entsprechende Parallelen zwischen den beiden Ländern hin. Dazu greift sie auf Interviewpassagen, Archivmaterial und Reenactments zurück – wobei der Film auch ohne Letztere gut ausgekommen wäre. Dazwischen immer wieder Kamerafahrten, in denen die Radfahrerinnen durch die ägyptische Hauptstadt ziehen und dabei wiederholt von Autofahrern angestarrt oder angehupt werden.
 
Auch wenn auf die Bemühungen der Frauen nicht selten Unannehmlichkeiten und Rückschläge folgen, zeichnet Fares ein hoffnungsvolles Bild mutiger Ägypterinnen, die sich für eine gerechtere Zukunft einsetzen.
 
Nora Kehli
*1996 in Luxemburg, studiert Filmwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Neben dem Studium als studentische Hilfskraft an der Online-Datenbank Timeline of Historical Film Colors tätig und für Online- und Printmedien Artikel über Film und Fernsehserien schreibend (maximumcinema.ch).
(Stand: 2022)
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