THOMAS HUNZIKER

SUR LE PONT (SAM GUILLAUME, FRED GUILLAUME)

Die Reise des Lebens endet auf einer Brücke. Das hört sich ein wenig nach einem Klischee an. Doch dieses Motiv findet sich tatsächlich in der Vorstellung von mehreren Hauptfiguren im dokumentarischen Animationsfilm Sur le pont von Fred und Sam Guillaume. Die Filmemacher haben Menschen am Ende des Lebens («en fin du vie») besucht und ihre Gedanken aufgenommen. In der passenden Bildergeschichte dazu haben die Brüder Guillaume die Senior_innen auf eine letzte Zugreise geschickt.
 
Wie es sich gehört, beginnt die Reise im einem Bahnhofsgebäude, das durch seine opulenten Dimensionen an die Pracht der Belle Époque erinnert. Langsam treffen die Figuren ein, unterhalten sich über die Vergänglichkeit der Zeit oder über die Lächerlichkeit einer Uhr ohne Zeiger. Mutig warten sie auf die Überfahrt. Ebenso prächtig wie der Bahnhof ist dann der Zug, den die Passagier_innen wenig später besteigen. Im grandiosen Interieur des Zuges treffen die Reisenden aufeinander, plaudern zwischendurch über Belangloses wie das eigene Körpergewicht oder die umfangreiche Schuhsammlung, schwelgen in Erinnerungen an die glorreiche Vergangenheit oder philosophieren über die Bedeutung der Erfahrungen ihres Lebens und die Unendlichkeit des Universums. Dazwischen durchbrechen schwermütige Lautsprecherdurchsagen die vielstimmige Bedächtigkeit. Unausweichlich bleibt der Zug schliesslich auf einer riesigen, filigranen Stahlbrücke stehen. Die Passagiere ordnen die letzten Gedanken. Dann zerfällt der Zug in seine Einzelteile und auch die Brücke stürzt in sich zusammen. Ein weiteres Sinnbild für die Vergänglichkeit des Lebens.
 
Die Brüder Guillaume haben bereits in La nuit de l'ours (CH 2012) Interviews mit Menschen benutzt, um die Wirklichkeit mit Fantasie verschmelzen zu lassen. Waren die Animationen in La nuit de l'ours von munteren Collagen geprägt, dominiert in Sur le pont ein reduzierter, düsterer Stil. Die flächigen Aquarellzeichnungen werden teilweise von dunklen Schatten vereinnahmt. Die Figuren im Film sind im Rotoskopie-Verfahren animiert, wodurch ein zusätzlicher Verfremdungseffekt entsteht. Die zerbrechlichen Gestalten bewegen sich mit äusserst bedächtigen Bewegungen. Auf der Tonspur poltern manchmal die Zuggeräusche unter den Stimmen der alten Menschen, dann mischt sich wieder melancholische Streich- und Blasmusik dazwischen.
 
Das ambitionierte Projekt ist ein bezaubernd zartes und einfühlsames Porträt und dient auch als faszinierende Ergänzung zu Écorce von Samuel Patthey und Silvain Monney (CH 2021). Während Patthey und Monney die Bewohner_innen eines Altersheims durch detaillierte, intime Zeichnungen in ihrem Alltag festgehalten haben, eröffnen die Brüder Guillaume ihren Figuren ein letztes Ausbrechen aus ihrem endlichen Dasein.
 
Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)

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