SIMONE GRÜNINGER

LA LIGNE (URSULA MEIER)

Es beginnt mit einem Streit. Gewaltsam und schmerzvoll. Unklar, wer die beiden Frauen sind, die aufeinander losgehen. Unklar, wieso. Margarets Exfreund könnte es in Erfahrung bringen, als diese bei ihm einzieht, nachdem sie sich infolge einer Anklage ihrer Mutter wegen Körperverletzung dem Haus ihrer Familie nicht mehr nähern darf. Tut er aber nicht. «Je ne veux rien savoir.» Und wir, die es gerne wissen würden, müssen uns schmerzlich gedulden.
 
So hält der Film die Figuren anfangs noch auf Distanz, die angedeuteten Verhältnisse im Dunkeln. Erst nach und nach erschliesst sich, dass Margaret auf ihre Mutter losgegangen ist, weil sie ihre deutlich jüngere Schwester Marion vor ihr in Schutz nehmen wollte. Dass Christine jung mit Margaret schwanger geworden ist und sie ihr deshalb die Schuld daran gibt, dass sie ihre Karriere als Konzertpianistin früh beenden musste. Und dass sie jetzt, seit dem handgreiflichen Streit mit Margaret, auf einem Ohr taub ist. Marion wagt sich nicht, Margaret davon zu erzählen, zu gross ist die Angst, dass diese damit nicht umgehen kann. Auch nach dem Kontaktverbot zu ihrer gemeinsamen Mutter trifft sie ihre Schwester täglich, um mit ihr zusammen zu singen. An der Linie, die Marion in einem Radius von 100 Metern um das Haus herumgemalt hat. An jener Linie, die Margaret nicht übertreten darf, wodurch sich die Distanz zwischen ihr und ihrer Mutter räumlich zementiert und sich zugleich das Bedürfnis von emotionaler Nähe, nach familiärer Liebe und Geborgenheit hervorbringt.
 
Ergreifend ist die Zerrissenheit der Tochter, die um die Zuneigung ihrer Mutter fleht. Schmerzhaft und still, manchmal brachial. Margarets überbordendes Temperament und ihr Hang zur Gewalt schweben stets, auch in seltenen Momenten der Zuneigung, über dem Film. Aber immer bleibt sie zutiefst liebenswert. Denn Ursula Meier hat ein vielschichtiges und tiefgründiges Drama über die zerrütteten Verhältnisse einer dysfunktionalen Familie geschaffen. In gar drei Kategorien ist La Ligne beim Schweizer Filmpreis 2023 als Gewinnerfilm hervorgegangen. Ursula Meier, Stéphanie Blanchoud und Antoine Jaccoud erhielten den Preis für das beste Drehbuch. Blanchoud wurde ausserdem für ihre bemerkenswerte Portraitierung der Margaret mit dem Preis der besten Darstellerin ausgezeichnet. Und Elli Spagnolo wurde für ihre Rolle als Marion als beste Nebendarstellerin ausgewählt. Die beim Dreh gerade mal zwölf Jahre alte Laiendarstellerin hat ein überzeugendes Schauspieldebüt gegeben und ihren bedeutenden Teil zur Zeichnung dieser fragilen Familienkonstellationen beigetragen, die tief berührt.
Simone Grüninger
*1999, Bachelorstudium in Filmwissenschaft und Archäologien an der Universität Zürich. Studiert derzeit im Master des NETZWERK CINEMA CH in Zürich und Lausanne.
(Stand: 2022)
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