PIERRE LACHAT

ENDE DER BÄRENNUMMER — EIN NACHMITTAG IM CAFÉ MIT JEAN-LUC BIDEAU

CH-FENSTER

Weit ist die Vorhalle des Bahnhofs in Genf nicht, aber es braucht schon jemanden von der Grösse Jean-Luc Bideaus, um darin aufzufallen. Ich erkenne ihn von oben auf der Treppe aus sofort, da ist noch der breite Schnauz, den er für die Arpenteurs hat wachsen lassen. Er ist verlegen wegen unserer Abmachung, mittags zusammen in der Stadt zu essen, einschlägige Lokale kennt er nicht, isst fast nie auswärts. Wir fahren in eine Strasse mit Speiserestaurants. Ich sei doch sicher kein amateur de la bouffe, das ist eher eine Feststellung als eine Frage. Um vier Uhr will er wieder zuhause sein, draussen in Bernex, da sind noch Kinder zu hüten. Wir finden mit Mühe einen ungemütlichen Tisch unter lauter Citymenschen und bestellen irgendetwas.

Für den Letzten Tango hat er tatsächlich vor der Kamera gestanden, doch war der Film in der ersten Montage viel zu lang, da hat Bertolucci Bideau wieder ganz herausgeschnitten. Je ne lui en veux pas. Bertolucci wollte die Figur auferstehen lassen, die Michel Simon in Vigos L'Atalante gespielt hatte, als einen Verwandten von Maria Schneider. Michel Simon mochte nicht wieder der Père Jules sein, François Simon lehnte auch ab, so kam Bertolucci auf Bideau. Der Dichter aus Parma hat seine Wirkung auf ihn sichtlich nicht verfehlt: Er trage, meint Bideau beim hastigen Zerschneiden seines Steaks, immerzu seinen Freud unter dem Arm herum, nehme alles von der psychoanalytischen Seite. Es folgt ein Exkurs aus dritter Hand über Herrn und Frau Attilio Bertolucci. Bideau äussert wenig eigene Ansichten, kennt aber die der andern gut. Je me construis difficilement, tandis que je construis facilement les autres.

Geboren un dix quarante in Genf, im Wesentlichen aufgewachsen beim Paten, einem kahlköpfigen Ingenieur und Obersten in der Schweizer Armee. Inadaptation effrayante an der Mittelschule. 1959 fährt er nach Paris, spielt auf dem Theater kleine Rollen bei Terzieff, Vilar, Wilson. Er bringt es in neun Jahren nicht fertig, sich zu assimilieren. Der anarchische Humor der Schweizer werde dort als eine Art Wahnsinn empfunden, sagt er, dergleichen sei in der Korrespondenz Ramuz' nachzulesen, dem's in Paris auch nie wohl war. 1968 kehrt er nach Genf zurück, als Verheirateter, doch auch hier kommt er am Theater nicht recht weiter. Die Kollegen sagen von ihm: c'est une grande gueule, doch nützt ihm das nichts auf der Bühne, weil er keine zwei Stunden kontinuierlich gut spielen kann. Er lernt dann Michel Soutter kennen und macht mit ihm 1970 James ou pas. Seither hat er das Theater fast ganz aufgegeben. Da habe sich eine Filmrolle an die andere gefügt, und so werde es wohl noch eine Weile bleiben.

Etwa zehn sind's gewesen, er hat Mühe, sie auswendig herzusagen, nur die Namen der Regisseure fallen ihm ein: Tanner, Costa-Gavras, Leterrier, Edelstein, Delvaux, Buüer, Goretta. Er hört es nicht gern, wenn man ihn auf seine imaginäre Existenz als Kinofigur anspricht, auf seine Nummern und Einlagen als rigolo, wie er elefantenartig durchs hohe Gras gestapft sei in James ou pas, oder an den Bären, der er in den Arpenteurs war. In La Fille au Violoncelle von Butler habe er den Gipfel dessen erreicht, was er nicht mehr machen wolle, versichert er. Er ist nachträglich sehr unzufrieden mit seinen Rollen und empfindet es, dass die Kritiker in Paris vom unvermeidlichen Jean-Luc Bideau mit seinen unvermeidlichen Intermezzi zu sprechen beginnen. Dass er in der Invitation von Goretta eigentlich schon die Parodie seiner selbst hat spielen müssen, hat ihm dagegen sehr zugesagt. Es gebe in Genf einen Kritiker qui est completement fou und der ihn und alle Genfer Filmregisseure mit Hass verfolge. In seiner Besprechung der Invitation war vom unausstehlichen Jean-Luc Bideau die Rede. Wie wahr, meint der Betroffene, wäre nur die Figur, nicht der Schauspieler gemeint!

In ihrem Zwiegespann, das Tanner in der Salamandre mit Laurel und Hardy verglichen hat, haben Bideau und Jacques Denis keine Zukunft sehen mögen. Ein wirklicher Ansatz für ein Komikerduo sei nie vorhanden gewesen, auch in der Rückschau nicht, meint Bideau. Daran, die Kombination der beiden programmatisch zu forcieren, habe keiner gedacht, im Gegenteil, schon bei den Arpenteurs sei die allgemeine Reaktion gewesen: Schon wieder die zwei! Er würde gerne wieder mit Denis arbeiten, mais je me vois mal faire un numéro de cabaret avec lui.

Er glaubt, sich nicht schämen zu müssen für das, was er im Etat de Siège gemacht hat. Er gebe jetzt seine alte Figur, mon numéro d'ours, auf, sie werde nachgerade auch in Frankreich nicht mehr geschätzt, von der Schweiz ganz zu schweigen, wo Filmemacher und Filmschauspieler sowieso keine Liebe beim Publikum fänden. Wohin ihn die Entwicklung führen wird, weiss er freilich noch nicht, macht fast alles davon abhängig, ob er weiter im Art et Essai arbeiten wolle, für 250 000 Leute im Quartier Latin, oder mit Trintignant-Montand-Romy Schneider undsoweiter, wie es ihm immer wieder angeboten wird. Als er sich mit Costa-Gavras gemein gemacht hat, haben ihm die Freunde prophezeit, das sei der Anfang von seinem Ende, was ihn sichtlich etwas verunsichert hat. II y a là des problèmes moraux. Doch sieht er sich stark verlockt, nach dem Beispiel von Michel Lonsdale Kunst- und Konsumfilme nebeneinanderher zu machen.

Er hat ganz und gar nicht das Gefühl, in Genf zu wohnen. Tanner, Soutter, Goretta, nimmt er an, erleben die Schwierigkeit bewusster, in der Provinz, Schweizer und Genfer geblieben zu sein. Soutter, dessen Drehbücher, Arbeits- und Denkweise er am besten versteht und der schliesslich den Groupe 5 zu Tanners und Gorettas späterem Vorteil gegründet hat, fühlt er sich am nächsten. Soutters Traum sei es, Frau und Kinder zu lieben, die Strasse hinunterzugehen in der Hoffnung, jemanden anzutreffen, mit dem er den Nachmittag im Café verbringen kann. Selber wünscht sich Bideau allenfalls, dieser Betreffende zu sein, weil er gern den Nachmittag mit Soutter im Café verbringt. Im Übrigen aber sieht er keine Notwendigkeit, mit seiner Nationalität, mit seiner Herkunft, die auch seine Bestimmung ist, fertigzuwerden. Nur zwei Gleichungen will er auflösen: Beruf und Familie. Gewiss, am Samstagnachmittag zieht er sein Telefon aus, um Schweiz-Italien am Fernsehen zu sehen. Aber zu den Matchs geht er nicht mehr, c'est trop mediocre. Ausserdem sind ihm die Zuschauer zu aggressiv und laut geworden.

In den Buchhandlungen Genfs hat er etwas über die Lokalgeschichte der dreissiger und vierziger Jahre, übers rote Genf gesucht: nichts. Es werde ganz einfach keine Geschichte geschrieben in dieser Stadt, meint er, allenfalls veröffentliche irgendein konservativer Notabler Memoiren, worin zu lesen

steht, wie er mitgeholfen habe, den Genfern den Kommunismus wieder auszutreiben. C'est curieux, non. Da seien dann im Grunde die Genfer Filmemacher die einzigen, die die Geschichte der Region aufzeichneten, Soutter freilich am wenigsten. Mit ihrer Vergangenheit beim Fernsehen, als Dokumentaristen, habe das natürlich einiges zu tun. In einem Film wie Le Retour d'Afrique zum Beispiel werde das Vorhandensein eines Ausländerproletariats in der Schweiz wenigstens erwähnt.

Er spricht viel von Hilfe, von der, die er bekommen hat, und von der andern, die er noch braucht. Da ist der starke Wunsch, selber Filme zu machen, und da sind noch stärkere Bedenken, es allein nicht zu schaffen. Jemanden müsste er finden mit Tanners sens de la construction. Und als er ein Jahr in Prag war, an der Filmschule, da hat er's geschafft, dank seiner Frau, einer Tschechin, die übersetzte. In Bern, meint er, sei man ihm wahrscheinlich heute noch böse wegen der dreitausend Franken, die er seinerzeit für Prag bekam, ohne dass er es dort länger als ein Jahr ausgehalten habe.

Dann das Unvermeidliche: Er beginnt von Journalisten zu sprechen und ihrem Elend. Tanner sei Journalist gewesen, er habe gesucht und gesucht und dann etwas gefunden und jetzt, wo er's gefunden habe, suche er wieder etwas Anderes. // va se casser la gueule. Er glaube, eine Million für seinen nächsten Film zu benötigen.

Am Ende der Salamandre geschieht das, was im Retour d'Afrique nicht geschieht: Der Journalist Bideau, dem die Wohnung gekündigt worden ist, der nichts geschrieben hat, verlässt Genf, zieht um nach Paris, wo die Schuldenwirtschaft besser rentiert. Schade, dass der Film dort aufhört. Man hätte gerne vernommen, wie es Bideau in Paris ergangen ist.

RÉSUMÉ:

Pierre Lâchât a passé un après-midi dans un café en compagnie de Jean-Luc Bideau. Les sujets de conversation furent variés; il fut question du rôle des acteurs dans le cinéma suisse, du «numéro d'ours» de Bideau, de la difficulté de devenir metteur en scène lorsqu'on est acteur. Bideau parle aussi de Jacques Denis, de l'histoire locale genevoise, des après-midi passés au café avec Michel Soutter. Il évoque son rôle, coupé au montage, dans Le Dernier Tango à Paris de Bernardo Bertolucci et se lance dans une brève psychanalyse du metteur en scène italien.

Pierre Lachat
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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