ALEXANDER J. SEILER

«MAINSTREAM» EINE ENTGEGNUNG — DER «MAINSTREAM» DES SCHWEIZER (DOKUMENTAR-) FILMS FLIESST IM PROKRUSTESFLUSSBETT EINER IDEALISIERENDEN, DAHER PAUSCHALISIERENDEN VOR ALLEM ABER UNGEDULDIGEN SCHWEIZER FILMKRITIK

ESSAY

Sich eine Idee des Ganzen machen entspricht dem schwächsten geistigen Vermögen. Die höchste Summe von einzelnen Vorstellungen häufen — nein: durchlaufen — entspricht dem grössten geistigen Vermögen.

Ludwig Hohl

In CINEMA 1/75 setzt sich Martin Schaub unter dem Titel «Mainstream» mit der jüngsten Entwicklung des schweizerischen Filmschaffens, besonders des Dokumentarfilmschaffens, auseinander. «Mainstream» heisst zu Deutsch Hauptstrom, Hauptarm eines Flusses, im übertragenen Sinn laut Webster «vorherrschende Strömung oder Richtung einer Tätigkeit oder eines Einflusses». «Mainstream» ist also etwas, das es auf allen Gebieten der Kunst und des Geisteslebens gibt, sobald die Entwicklung in einem bestimmten geographischen Bereich und zu einer bestimmten Zeit eine gewisse Breite und Dichte gewinnt. «Mainstream» setzt voraus, dass auch noch Nebenströme, Nebenströmungen vorhanden sind. Vor zehn, auch noch vor fünf Jahren hätte vom Schweizer Film gewiss noch nicht unter dem Titel «Mainstream» die Rede sein können.

Nun verwendet Martin Schaub indessen seinen Titel und dessen Bild nicht dazu, eine Untersuchung oder Abgrenzung dessen zu geben, was er im Schweizer Film oder Dokumentarfilm als «Mainstream» empfindet. Er setzt dies vielmehr als bekannt und eindeutig voraus, indem er sich auf einen in CINEMA 2/74 erschienenen Aufsatz von Beatrice Leuthold (Vom Traktat zum Essay) bezieht. Ein gutes halbes Dutzend Filme aus den Jahren 1972-4 (Naive Maler in der Ostschweiz, Schweizer im spanischen Bürgerkrieg, Le Moulin Develey sis à la Quielle, Le pays de mon corps, Freut euch des Lebens, Die letzten Heimposamenter, Wer einmal lügt oder Viktor und die Erziehung, Wir Bergler in den Bergen) zitiert Schaub als repräsentativ für eine Entwicklung, in der «die Agitation zurückgenommen wird und die Wirklichkeit in ihrer Komplexität und in ihren historischen Wurzeln beobachtet wird. Die «Wahrnehmung» ist vor das «Wahrhabenwollen» getreten, das Zuhören an die Stelle des Redens. Schliesslich: der «Darsteller» (seiner selbst) an die Stelle des «Zeugen» (für die Argumentation des Filmemachers).» Mehr wird über den «Mainstream» inhaltlich nicht gesagt, es sei denn etwas weiter unten in dem vollends lapidaren Satz: «Der heutige Schweizer Dokumentarfilm ist — grosso modo — ein ethnographischer, soziologischer, historischer Film». Inwiefern, wie und warum er es ist, in welchem gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Kontext er es ist und geworden ist, steht nicht zur Diskussion. Gefragt werden soll vielmehr, «weshalb die Entwicklungen im Schweizer Film fast immer so ausschliesslichen Charakter haben», ferner «was die Mainstream-Entwicklung dem Schweizer Film gebracht und was sie ihm genommen hat».

«Mainstream» ist für Martin Schaub also nicht einfach die Folge einer Entwicklung —- davon nämich, dass in einem bestimmten Land unter bestimmten Bedingungen innerhalb eines bestimmten Zeitraums eine Anzahl von Filmen entsteht, die eine Reihe von inhaltlichen, formalen, stilistischen Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten aufweisen —; vielmehr sieht er in der «Mainstream-Entwicklung» gleich auch ein «Mainstream-Denken», ja ein «Mainstream-Prinzip» am Werk, das in einer Act Rückkoppelung schwerwiegende Folgen für die Entwicklung des Schweizer Films haben könnte. (Dass er dieses Denken und dieses Prinzip nur im Dokumentarfilm, also im Wesentlichen in der deutschen Schweiz nicht aber im anderen «Mainstream» des Genfer Spielfilms entdeckt, sei bloss nebenbei bemerkt.) Als Beispiel für das «Mainstream-Denken» nennt er Kurt Gloor, der mit Die besten Jahre in den Mainstream «eingeschwenkt» sei: «Weil aber nun alle Filmemacher sich aufs Zuhören eingelassen hatten, überbot sie Gloor im Zuhören. Seine gestalterischen Interventionen schrieb er auf ein Minimum ab.» Der Grund dafür, dass «alle irgendwie Rücksicht auf den Mainstream nehmen», liege «in der von den schlechten Produktionsverhältnissen erzwungenen In-Group-Mentalität, in der lebensnotwendigen Solidarität der Schweizer Filmschaffenden». Und als mögliche Folge dieser Angleichung aller an alle («es ist zu hoffen, dass es nicht so weit kommt»), malt sich Schaub aus, «dass der Zuschauer bereits im Voraus weiss, was ungefähr ihn erwartet, wenn ein Dokumentarfilm aus der Schweiz auf dem Programm (eines Festivals, einer Fernsehstation) steht. Das wäre der Anfang vom Ende des ‘schweizerischen Filmwunders’.»

Gibt es den von Martin Schaub nicht so sehr festgestellten und beschriebenen als vielmehr heraufbeschworenen, ja an die Wand gemalten «Mainstream» wirklich? Keiner wird leugnen, dass es zwischen «Naive Maler in der Ostschweiz» und Die letzten Heimposamenter einerseits, zwischen Die letzten Heimposamenter und Le Moulin Develey andererseits mehr als nur oberflächliche (wenngleich in jedem Fall wieder ganz verschiedene) Berührungspunkte gibt. Keiner kann auch übersehen, dass Freut euch des Lebens und Wer einmal lügt einander thematisch nahestehen, ja zum Teil sogar überschneiden. Ist das aber ein Grund dafür, zu übersehen, ja darüber hinwegzusehen, dass gerade diese beiden Filme sich nicht nur formal und in den stilistischen Mitteln sehr deutlich voneinander unterscheiden, sondern dass sie auch methodisch völlig verschiedene Wege gehen? Darf man aufgrund der blossen Tatsache, dass auch Fredi Murer seinen Urner Berglern «zuhört», das viel Wichtigere ausser acht lassen, dass dieser Film als erster und einziger unter den zitierten Wirklichkeit nicht in einem bewusst begrenzten und insofern auch verfremdeten Ausschnitt, sondern als «Welt», als (wenn auch zerstörte) ökologische Einheit darzustellen versucht. Besteht der «Mainstream» des Schweizer Dokumentarfilms also nicht zu einem guten Teil darin (oder ist die Folge davon), dass die von Martin Schaub seit bald zehn Jahren angeführte und angefeuerte Schweizer Filmkritik das Allgemeine lieber und besser als das Besondere, Gemeinsamkeiten lieber und besser als Unterschiede, Übereinstimmungen lieber und besser als Widersprüche sieht? Dass sie stets und krampfhaft um den Schweizer Film bemüht ist und diesen so weit emporidealisiert, dass sie gar nicht anders kann als die konkret vorhandenen Schweizer Filme entweder ebenso zu idealisieren oder dann abzuwerten — jedenfalls aber sie pauschalisierend statt differenzierend zu behandeln?

Um nicht meinerseits zu pauschalisieren, will ich das selbe Einzelbeispiel nehmen, das Martin Schaub für seine «Mainstream»-These benutzt: Kurt Gloor, der (so Schaub heute) «in seinen besten Filmen sein filmisches ‘Beweismaterial’ auf überzeugende und einleuchtende Weise zugespitzt hatte, so sehr, dass sich jene, die getroffen werden sollten, tatsächlich auch getroffen fühlten». Damit kann eigentlich nur (oder dürfte doch in erster Linie) Die grünen Kinder gemeint sein. Nach der Uraufführung dieses Films an den Solothurner Filmtagen 1972 zog Schaub in der «Weltwoche» seine «Bilanz» unter dem Titel Zwischen optischer Lust und spröder Didaktik und präzisierte in der Bildlegende: «Optisches aus der welschen Schweiz, Sachlichkeit aus der deutschen», wobei für letztere neben Hans und Nina Sturms Zur Wohnungsfrage 1972 eben Die grünen Kinder standen. Im Text stand über Gloors Film lediglich, dass er «aus dem Aspekt der Erziehung die Unmenschlichkeit der Situation darstellt»; dagegen war pauschal zu lesen:

Das Bild wird in vielen dieser Filme nur noch als Beweismittel gebraucht. Wirklich sehen lernt man hier nicht mehr. Eine Verarmung, was die filmischen Mittel betrifft, ist festzustellen. Einige der wichtigsten Filme des abgelaufenen Produktionsjahres vertrauen mehr auf das gesprochene und geschriebene Wort als auf filmischen Formulierungen. Kommentare, Interviews, Statements, Zwischentitel, ja sogar Literaturangaben jagen sich. Und das Auge muss leer ausgehen. Die Gefahr besteht, dass Filme immer häufiger zu Leitartikeln werden.

Und Fritz Hirzel und Pierre Lachat, die im «Tages-Anzeiger» unter Martin Schaubs Redaktion eine «Neue Eiszeit im Schweizer Film» heraufziehen sahen, schrieben (teilpauschal):

Gioors Die grünen Kinder und Sturms Zur Wohnungsfrage 1972 setzen sich leicht dem Verdacht aus, es sei nur gerade das Bildmaterial für eine Ausgangsthese zusammengesucht worden, wobei Stürm sich immerhin mit den betroffenen Mietern solidarisiert, während Gloor sie auch noch dem Gelächter der Besserwisser aussetzt.

Natürlich will ich mit diesem Beispiel nicht sagen, Schaub, Hirzel und Lachat trügen die Schuld daran, dass Gloor (so Schaub heute) «... — hoffentlich nur vorübergehend — im Mainstream untergegangen (ist), in den er sich überstürzt, das heisst ohne Rücksicht auf seine wirkliche Stärke, geworfen hatte.» Aber es ist doch auffällig, dass in eben dem Jahr 1972, da sich der «Mainstream» des Schweizer Dokumentarfilms zu formieren begann, der «Mainstream» der Schweizer Filmkritik eben jene Filme pauschalisierend abwertete und in eine «neue Eiszeit» verwies, nach deren inzwischen «abgestossenen» oder «geschickt getarnten Hörnern» sich Martin Schaub nun schon wieder zurücksehnt. In einem Land, wo sich die Filmemacher von Film zu Film nicht zuletzt in Geduld und Ausdauer zu üben haben, ist die Filmkritik sehr ungeduldig. Noch vor drei Jahren klagte Martin Schaub (in der erwähnten «Bilanz der 7. Solothurner Filmtage»): «Aber das bleibt doch alles im kleinen Kreis.» Heute ist ihm die «nationale und internationale Reputation» als Folge der Mainstream-«Konsistenz» schon beinahe verdächtig, und wenn ein deutscher Kritiker wie Peter W. Jansen schreibt, «dass die besten, sorgfältig erarbeiteten Exemplare des grossen, abendfüllenden Dokumentarfilms gegenwärtig aus der Schweiz kommen», so schwächt sich das für Schaub «(sinngemäss)» dazu ab, «es sei keine Überraschung gewesen, dass die umsichtigen und zuverlässigen filmischen Enqueten aus der Schweiz zu den positivsten Ereignissen der Veranstaltung gehört hätten.»

Ich weiss, die Schweizer Filmkritik hat es in mancher Hinsicht nicht leichter, eher noch schwerer als der Schweizer Film. Der Raum in Zeitungen und Zeitschriften wird immer knapper, Analysen, ja selbst Darstellungen sind nur ausnahmsweise möglich, und in manchem Blatt findet der Schweizer Film überhaupt nur einmal jährlich in Solothurn statt. Dazu kommt die Honorarmisere, die aus der Filmkritik mit wenigen Ausnahmen eine Neben-, ja Freizeitbeschäftigung macht.

Dennoch scheint es mir lebenswichtig für den Schweizer Film und die Schweizer Filmkritik, dass diese sich wieder vermehrt von gewissen Idealvorstellungen (der Deutschschweizer Spielfilm, der Dokumentarfilm, der, um noch einmal Martin Schaub zu zitieren, «ungehobelte, extreme, genialische, respektlose, verrückte ‘Bolex-Film’») abwendet und ihre Aufmerksamkeit den Filmen schenkt, die hier und jetzt als einzelne von Einzelnen gemacht werden. Ich verstehe und bejahe — nicht erst heute, sondern seit den Anfängen unserer gemeinsamen Arbeit für ein Schweizerisches Filmzentrum — Martin Schaubs Wunsch nach einer echten Vielfalt des Filmschaffens hierzulande. Die erste Voraussetzung dafür ist indessen die, dass der einzelne Film und der einzelne Autor nicht nur und vor allem im Zusammenhang eines tatsächlichen oder imaginären «Mainstream», sondern auch und zuerst in ihrer Besonderheit gesehen werden. Im Prokrustesbett einer «Mainstream»-Optik wird der einzelne nicht nur sich selbst, sondern auch den Zusammenhängen entfremdet, in denen er, jeder an seiner Stelle, tatsächlich steht. In CINEMA steht die Plattform für eine eingehende und einfühlende, aber auch strenge und fordernde Einzelkritik hier und jetzt zur Verfügung.

P. S. Dass Martin Schaub beim Genfer Spielfilm kein Mainstream-Syndrom erblickt, hängt vermutlich nicht zuletzt damit zusammen, dass über alle diese Filme grosse Einzel-kritiken — ob von ihm selber oder von anderen Kritikern — geschrieben worden sind.

«MAINSTREAM» — UNE REPONSE

Est-ce que ce courant principal, ce «Mainstream» dont parle Martin Schaub, existe vraiment?

Effectivement, tout le monde pourra constater qu’entre les Peintres naïfs de la Suisse orientale et Les derniers Passementiers d’une part, entre Les derniers Passementiers et Le Moulin Develey d’autre part il existe des points de rapprochement qui ne sont pas seulement superficiels, de même que les sujets de Jouissez de la vie et Victor et l’Education sont proches. Mais ce n’est pas une raison d’ignorer que, par exemple, ces deux derniers films ne se distinguent pas seulement du point de vue formel et stylistique, mais que les méthodes utilisées sont également tout à fait différentes.

On est même en droit de se demander si ce «Mainstream» du documentaire suisse ne peut pas être imputé à cette critique cinématographique suisse que conduit et exhorte précisément Martin Schaub depuis bientôt dix ans et qui préfère l’universel au particulier, les traits communs aux différences, les rapprochements aux contradictions. Cette critique qui s’évertue toujours à parler du Cinéma suisse et qui l’idéalise au point de ne plus pouvoir faire autrement que d’idéaliser pareillement les films suisses existants, ou alors de les dévaluer — mais en tout cas de les traiter globalement au lieu de différencier et d’étudier ce qui les caractérise individuellement.

Je sais, la critique cinématographique suisse n’a pas la tâche plus facile que le cinéma suisse, peut-être même encore moins. Néanmoins il me paraît vital aussi bien pour le cinéma suisse que pour la critique cinématographique suisse que celle-ci se détache de nouveau de façon claire et nette de certaines représentations idéales (le film de fiction suisse allemand, le documentaire etc.) et voue toute son attention aux films qui sont faits ici et maintenant et individuellement par des «individus» distincts. La première condition pour une création cinématographique multiple et diverse dans notre pays, c’est de ne pas voir chaque film et chaque cinéaste seulement et avant tout par rapport à un «Mainstream», une ligne générale réelle ou imaginaire, mais de les voir aussi et d’abord avec leurs particularités. (AEP)

Alexander J. Seiler
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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