MARTIN SCHAUB

VERSENKUNG UND AUSBRUCH — ZU EINIGEN NEUEN PORTRÄTFILMEN

CH-FENSTER

Mit Ausnahme von Giovanni Doffinis E noialtri apprendisti (vergleiche CINEMA 3/76) und Alexander J. Seilers Die Früchte der Arbeit beleuchten alle wichtigeren schweizerischen Dokumentarfilme des vergangenen Produktionsjahres Wirklichkeit lediglich aus dem Blickwinkel von Einzelnen. Drei Filme scheinen mir über die engsten Kreise ihrer Zentralfigur kaum hinauszukommen: Erwin Leisers Die Welt des Fernando Botero, Michel Borys und Jean Meyerats Gilles, un air de jeunesse und Lucienne Lanaz’ Feu, fumie, saucisse. Einer verweist eher in die Kreise des Filmemachers zurück: La montagna dentro von Mino Müller. Bei Der andere Anfang von Friedrich Kappeler, Bern transit von Ulrich Schweizer und Verglichen mit früher von Iwan Schumacher erhellen die zentralen Figuren Welt und Zeit.

Ökonomische und arbeitstechnische Vorteile haben in den letzten Jahren immer wieder zu Porträtfilmen geführt. Das Risiko für eine kleinere Dokumentarproduktion ist am kleinsten, wenn ein Filmemacher einen Einzelnen, möglichst einen prägnanten Aussenseiter, kennenlernt, sein Vertrauen gewinnt, seine Freundschaft vielleicht, wenn er schliesslich vom spezifischen Mitteilungsbedürfnis und von der «ausserordentlichen» Mitteilungsart dieses Einzelnen profitieren kann. Künstlerporträts, ein von jungen Dokumentaristen besonders gepflegtes Genre, sind — oder besser erscheinen als — die problemlosesten Filme. Die ausdrucksstarke «Randständigkeit» des Künstlers scheint den Filmemachern immer wieder automatisch jene Alternativen zur Konvention zu formulieren, die das satte Bürgertum so nötig hat, und obendrein wird solche «originelle» Marginalität von eben diesem Bürgertum auf eine gewisse Weise akzeptiert, (was sich bei der Finanzierung oder beim Verkauf, schliesslich bei der Filmförderung nur vorteilhaft für ein Projekt auswirken kann). Die Äusserungsformen der gesellschaftlichen Randfiguren sind nicht selten besonders photogen; die Porträtierten sind — zum Teil auch aus kommerziellen Gründen — an «ihrem» Film interessiert; sie sind «freiberuflich» tätig, verfügen über ihre Zeit und zuweilen über einen eigenen, oft pittoresken privaten Lebensraum. Einem Künstler, einem Eigenbrötler, dem letzten Vertreter eines aussterbenden schönen Handwerks gesteht der Zuschauer jenem Freiraum zu, den er sich selber versagt, und dem er bewusst oder unbewusst nachtrauert.

Soviel zu den ökonomischen und arbeitstechnischen Vorteilen. Zusammengefasst: Bei Porträtfilmen scheint die Zahl der praktischen Hindernisse besonders klein zu sein. Den Vorteilen gegenüberstehen aber eine nicht zu unterschätzende ästhetische Problematik und eine oft nur geringe gesellschaftliche Relevanz. Die Beleuchtung einer komplexen und widersprüchlichen Realität aus der Perspektive des profilierten Einzelnen und der Glaube an die Effizienz solchen Vorgehens verweisen auf fragwürdige individualistische Denkschemen. Der ausgefallene Einzelne wird oft fälschlicherweise als einer interpretiert, der die Konventionen (wie beispielsweise besinnungsloser Konsum, herrschende Moral, soziale Gewohnheiten der namenlosen Mehrheit usf.) im Zuge einer «grossen Weigerung» besonders deutlich — deutlich auch durch Auslassung — darzustellen vermag. Tatsache aber ist, dass die alltäglichen, gemeinen Probleme längst aus dem Blickfeld des «Beleuchters» gefallen sind. Nicht selten sind die in Porträtfilmen dargestellten «neuen Menschen» nur elitär. Oder sie sind keine «neuen Menschen», sondern erratische Blöcke aus dem vorindustriellen Zeitalter, und sie fordern anstatt utopische Gedanken nostalgische heraus.

Hier und jetzt und früher

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Porträtfilme über ihren beschränkten Horizont hinauszuführen. Ich halte mich an die jüngsten Schweizer Beispiele: Bei Erwin Leisers Die Welt des Fernando Botero und bei Gilles, un air de jeunesse von Bory und Meyerat spüre ich wenig vom Bedürfnis der Autoren nach Öffnung und Ausweitung. Die Welt des Fernando Botero ist ein Kunstfilm, im Glauben gemacht, dass der Zuschauer die Wege aus der Welt des Malers in seine eigene selber findet. Der Film über Gilles ist ein Hommage. Bei Lucienne Lanaz’ Feu, fumée, saucisse wird ein erster, mir eigentlich zu zaghafter Schritt auf Verbindlichkeit und Allgemeinheit unternommen.

Das Porträt des alten Fritz Marti ist im Wesentlichen präsentisch, eine Momentaufnahme, eine sensible, ja fast ein bisschen gefühlige Ist-Zustand-Beschreibung. Lucienne Lanaz bleibt in ihrem ersten Film im kleinen Raum der Räucherküche (der, das nebenbei, von Pio Corradi mit einer Intensität und Genauigkeit erfasst Wird, die dieser Kameramann bis jetzt noch nicht erreicht hatte). Nur zweimal wird die Tür «auf die Welt» aufgestossen, wenigstens einen Spalt breit: Wenn der Kunde ein- und wegfährt, und wenn Fritz Marti von früher erzählt. Im Ansatz ist Martis Lebenslauf vorhanden, und damit der Beginn einer Geschichte und der Geschichtsschreibung, Überwindung des Exotismus durch Ethnographie. Weil so wenig in diese Richtung gearbeitet wurde, entgeht Feu, fumée, saucisse der Gefahr nicht, als Genrebild (miss)verstanden zu werden. Lucienne Lanaz’ Nachläuferfilm hat den Charme und die Schwächen einer feinen Miniatur, eines gefälligen Medaillons.

Einen entscheidenden Schritt über die Miniatur hinaus — und damit auch über seine beiden früheren Filme Emil Eberli und Müde kehrt ein Wanderer zurück — tut Friedrich Kappeler in Der andere Anfang. Der 60-Minu-ten-Film lebt keineswegs einzig und allein von dem umwerfenden Typ Theo, der sich erzählend selbst darstellt. Bezeichnenderweise kommt er recht spät ins Bild und dominiert es eigentlich nie. Theo erzählt, und Kappeler begleitet die Erzählung mit mehr oder weniger autonomen Bildern. Er ergänzt die Erzählung Theos genau mit dem, was dieser nicht formuliert und nicht formulieren kann. Er erschafft dem Lebenslauf Theos den spezifischen Raum, jenes ziemlich unbekannte Niemandsland zwischen Dorf und Kleinstadt, das der Schweizer Dokumentarfilm bis jetzt eher vernachlässigt hat. Besonders dicht ist Kappelers Schilderung des Dorfs. In Einzelheiten artikuliert sich Stimmung oder sozialer Raum, beispielsweise in dem weissen, zum Trocknen aufgehängten Leintuch vor einer weissen Hausmauer oder im Bild einer zur Strasse abfallenden Wiese, aufgenommen aus dem Schatten eines Obstbaumes, in einer kurzen Fahrt auf die ersten Häuser eines Dorfes zu usf.; diese Einstellungen artikulieren mehr, als es der Erzähler vermöchte, der so tief in diesem Klima drinsteht, dass er es nicht definieren kann. Die autonomen Einstellungen in der Kleinstadt im zweiten Teil wirken streckenweise etwas leer; offenbar ist Kappeler mit der Länge von Theos Erzählung nicht ganz zu Rande gekommen. Seine Bilder — beispielsweise des Postgebäudes von Frauenfeld — sacken ab in die Belanglosigkeit. In solchen Passagen trägt allein noch das Erzähltalent des Porträtierten.

Wesentlich an der Ausweitung des Einzelfalls Theo, eines jungen Schweizers, der seine Identität nur durch die Flucht aus Bindungen und Beziehungen aufrechterhalten kann, sind also zwei Faktoren: der Rückgriff in die Vergangenheit und die Bewegung der Erzählung auf den Moment der Aufnahme zu, sowie die Dynamik von individueller Innenwelt und objektiver Aussenwelt. Schliesslich erfährt der Film Kappelers eine Abrundung und dramaturgisch raffinierte Ausweitung, auf die man bei anderen Porträtfilmen vergeblich wartet: In der letzten Sequenz verlässt der Film den Hauptdarsteller oder setzt ihn wenigstens an den Rand und wendet sich der Erzählung eines Unbekannten zu, der sich als «Artgenosse» Theos entpuppt, in einigen wenigen Sätzen. Theo wird aus seinem Einzelfalldasein in letzter Minute erlöst, wird zum Vertreter einer Minderheit, die immer andere Anfänge dem Versinken im Mahlstrom der Konventionen instinktiv vorzieht. Da tritt ganz am Schluss einer auf, dessen Porträt wohl von dem Porträt Theos nicht so verschieden wäre.

Die erzählerische Struktur von Iwan Schumachers erstem Film wird schon im Titel — Verglichen mit früher — angesprochen. Kaum ein anderer Erstling des neuen Schweizer Films ist so systematisch und bewusst in den drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft angelegt. Verschiedene Perspektiven sind auch durch die relativ grosse Anzahl von auftretenden Bezugspersonen angelegt. Wenn der Film aus der Phase der Rekonstruktion eines Autounfalls und seiner nachträglichen Beurteilung in die Gegenwart von Hanny, der Querschnittgelähmten, eingeht, kommt das technische Arrangement der Filmarbeit (Mikrophon, Lampe, Stumpf eines Travellings) ins Bild, und aus der Gegenwart heraus führen ein Off-Statement Hannys, sowie die Bilder einer leeren, nächstens «bezogen und bewohnt sein werdenden» Wohnung.

Die zeitliche Abrundung macht die Reflexionen des Zuschauers über das Beharrungsvermögen konventioneller Wunschvorstellungen erst möglich: Hanny ändert ihre Zielvorstellungen (Eigenheim, Mann, Kinder, Reisen) nicht; mehr noch, sie erreicht ihr Ziel «dank» dem Unfall allenfalls rascher. In Verglichen mit früher liegt die Anlage eines Paradoxes, die Schumacher allerdings mit grösstmöglicher Diskretion behandelt.

Möglicherweise wird diese kritische Seite des Films von vielen deshalb nicht erkannt, weil die glatte Schönheit und das kalte Kalkül dieses Films sich wie ein harter und undurchdringlicher Firnis um den Gegenstand legen und ihm die Luft abschneiden. Aber das spielt in dem hier diskutierten Zusammenhang keine Rolle. Hier sollte an drei Beispielen angetönt werden, wie Porträtfilme über die porträtierten Individuen hinausweisen können und mit welchen filmischen und dramaturgischen Mitteln fragwürdiger Individualismus gesprengt werden, und wie er in Sozialerem oder im Sozialen aufgehen kann.

Projektion und Stellvertretung

Im allgemeinen Zusammenhang und im Besonderen mit Verglichen mit früher sei noch auf Mino Müllers Porträtfilm La montagna dentro hingewiesen. Müller versucht nicht, aus seinem Hauptdarsteller auszubrechen, sondern er stopft ihn mit seinen Vorstellungen voll. Ein richtiger «Überbaufilm». Der 38-jährige Mailänder, der in zehn Jahren nach einem Bergunfall mit unendlichen Anstrengungen wieder Mobilität und relative Unabhängigkeit erlangt hat, wird zur Projektionsfläche des Autors, der ihm mittels Steuer Bergbilder und pompöser Musik eine Art nietzscheanische Übermenschphilosophie (im Gewand des Sportlerideals) unterjubelt. Nach viel rekonstruierter heroischer Selbst- und Welt-besiegung steht der Porträtierte weniger als reale Figur denn als Inkarnation der faschistoiden Ideale des Filmautors da. Fast geht der Schluss-Satz des Porträtierten in der Apotheose unter. «Früher war ich Uhrmacher, heute bin ich Telephonist», sagt Müllers Held und weist auf die fragwürdige Ausschlachtung seiner Geschichte besser hin, als eine Analyse der pathetischen Bild- und Tonmontage dieses antirealistischen Dokumentarfilms das vermöchte.

Auch Ulrich Schweizers Bern transit mit seinem unsichtbaren Hauptdarsteller Victor könnte in dem hier skizzierten Zusammenhang gesehen werden. Das Muster ist seit June Kovachs Viktor und die Erziehung vertraut, und nachträglich begreift man vielleicht auch die komplexe Struktur des älteren Films besser. Die Kamera und der Filmemacher stehen gleichsam an der Stelle der Hauptperson, analysieren und interpretieren die Bedingungen seiner Existenz und seiner Geschichte. Ulrich Schweizer gelingt es mit seiner gradlinigen Art nicht ganz, die Präsenz des Afrikaners Victor in Bern und die Stadt als Zeit und Raum eines Fremden sinnfällig zu machen. So ergibt sich eine Art Hör-Film, der zwar als Dokument europäischer Hilflosigkeit und schweizerischer Verschlossenheit dem Fremden gegenüber eindrücklich ist, der den Konflikt jedoch eigentlich nicht sichtbar macht.

Geschichten Einzelner, zielgerichtete, ziellose, offene, abbrechende, abgebogene Lebensläufe erschliessen dem Porträtfilm Weite und Verbindlichkeit. Ihr Anfang ist immer leicht; am Anfang steht die Begeisterung für einen Menschen. Doch der Ausbruch aus der Zweierbeziehung Filmer-Porträtierter mit all seinen Solidaritäts- und Treueproblemen ist nicht ohne Tücken. Ganz allgemein, scheint mir, wird das Vehikel Porträtfilm überschätzt. Mit der immer tiefergehenden Versenkung in die Persönlichkeit eines «interessanten» Individuums verengt sich der Horizont automatisch, und eine erneute Ausweitung wäre nur durch eine unabhängige, kritische Diskussion der vom Porträtierten gelebten und geäusserten Positionen und Optionen möglich. Diese aber ist erschwert durch das Prinzip und die Ideologie der Selbstdarstellung, die besonders in filmischen Personenbeschreibungen kaum mehr durchbrochen werden. Die Diskussion der Positionen und Optionen wird so oft gänzlich dem Zuschauer, seiner Urteilsfähigkeit, seiner Erfahrung — und seinen Vorurteilen — überlassen. Wenn sich ein Filmemacher ganz in den Dienst seines Gegenstands stellt, tritt er aus dem Dienst seines Publikums.

Die Welt des Fernando Botero. 1975, P, B, R: Erwin Leiser; K: Othmar Schmid, B. v. Münster, B. Walker; Montage: L Trumm; 16 mm., col., 29 Min.

Gilles, un air de jeunesse. 1976. P: Bory/Meyerat; B: Michel Bory; K: Jean Meyerat; Montage: Bory/Meyerat; 16 mm. col. 65 Minuten.

Feu, fumée, saucisse. 1976. P: Ciné-Groupe; R, B: Lucienne Lanaz, K: Pio Corradi; Montage: F. Wirz; 16 mm., col. 22 Minuten.

La montagna dentro. 1976. P, B, R, K, Montage: Mino Müller; B: L. Marconi; 16 mm., col. und s/w, 32 Minuten.

Der andere Anfang. 1976/77. P, Idee, Konzept: Friedrich Kappeler; B: Kappeler, F. Schüler; K: Kappeler, Schuler; Montage: N. Zimmerli; 16 mm., s/w, 60 Minuten.

Bern transit. 1976. P: Ulrich Schweizer; B: Schweizer und O. Pfenninger; K: M. Schwab, U. Schweizer; Montage: Schweizer; 16 mm., col., 80 Minuten.

Verglichen mit früher. Porträt einer Behinderung. 1976. P: Nemo; B, R: Iwan P. Schumacher; K: S. C. Schroeder; Montage: F. M. Murer; 16 mm., col., 59 Minuten.

IDENTIFICATION ET OUVERTURE

Partant de quelques récents portraits filmés, Martin Schaub ouvre une discussion sur ce genre que le cinéma documentaire suisse cultive depuis des années. Ce n’est pas la conséquence d’un penchant mal réfléchi vers ce genre, mais aussi le résultat de quelques avantages économiques et techniques. L’article monte la garde contre les espoirs trop larges en la portée sociale et politique du portrait filmé.

Puisque le sujet est souvent un personnage marginal (artiste, vieil artisan, ermite, etc.), le cinéaste croit qu’une alternative à la société bourgeoise et de consommation se formule automatiquement. Mais souvent le personnage ne pratique que des options élitaires; il n’est guère l’Homme nouveau, mais le spécimen du temps perdu et ii provoque, au lieu de réflexions utopiques, des sentiments nostalgiques.

L’identification avec le sujet a son prix. Plus le cinéaste entre dans le monde de son sujet, plus il perd de vue la totalité envisagée de la réalité. Il existe pourtant des formes cinématographiques et dramaturgiques qui aident à éviter le piège qui n’est finalement qu’un individualisme idéaliste.

Le diachronisme peut être une voie d’ouverture (exemples: Feu, fumée, saucisse de Lucienne Lanaz et En comparaison à avant de Iwan Schumacher). La division en contrepoint de récit et image, monde intérieur et extérieur (exemple: L’autre début de Friedrich Kappeler) en est une autre.

Schaub oppose aux tentatives sérieuses d’objectivation réaliste la projection idéaliste de Mino Müller dans La montagna dentro et le travail peu visuel de Ulrich Schweizer dans Berne transit. Il résume enfin le problème central, qui est un problème de loyauté et de fidélité d’un «travail de couple» (cinéaste et personnage portraité): L’identification va parfois

pour des raisons évidentes — si loin que le cinéaste devient incapable de trouver un point de vue à l’extérieur de son sujet

confident, même aimé et volontaire de se «donner» entièrement à un public ravi de savoir qu’il en existe encore, des individualistes. (msch)

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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