ROLAND COSANDEY

ANNÄHERUNGSVERSUCHE — DREI KURZFILME AUS DER WESTSCHWEIZ

CH-FENSTER

Ein Festival, mit oder ohne Wettbewerb, bleibt ein Ort der oberflächlichen Wahrnehmung. Es ermöglicht zwar ein Inventar, aber es begünstigt auch die Vermischung und die Verallgemeinerung auf Grund von mehr oder weniger zufälligen Zusammenstellungen von Titeln. Die Voraussetzungen können tödlich sein für gewisse Filme, die keiner so richtig wahrnimmt, obwohl sie gezeigt werden. Dieses Schicksal trifft vor allem kurze, eigenwillige Werke, die eine Sprache sprechen, die bei der Gelegenheit nicht gängig ist. Dies geschah dieses Jahr in Solothurn vor allem Andomia von Marcel Schüpbach, Révol von Charles Hersperger und Mona Etter-Faloughi und auch Sweet Reading von Michel Rodde. Ihre Namen werden - ausser in Aufzählungen - in den zahlreichen Solothurn-Berichten kaum erwähnt. Und wenn, dann in der zu bequemen Kategorie «poetische welsche Versuche». Wir bewahren in der nachfolgenden kurzen Analyse die oberflächliche Einheit bei, versuchen aber eher, die Eigenheiten als die groben Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten.

Ein gemeinsamer Zug bringt sie einander immerhin näher: die Art der Herstellung. Es sind Filme, die von ihren Autoren allein bezahlt worden sind. Aus verschiedenen Gründen, jedoch mit vergleichbaren Folgen, zieht der Zwang zur schnellen Produktion automatisch eine Art von Investition nach sich, die zu Unrecht als weniger kostspielig gilt, ruht doch die ganze Last auf einer oder zwei Personen.

Andomia

Andomia ist vor allem eine Erzählung. Die Eigenheit besteht darin, dass sie nicht mit den üblichen Vehikeln der Fiktion transportiert wird, durch handelnde Figuren. Die Inszenierung braucht andere Mittel, die der Film zu Beginn ausdrücklich nennt in der Art, wie man eine Spiekegel bekanntgibt.

Zum Bild einer weiblichen Gallionsflgur, die die Kamera mit einem Vertikalschwenk enthüllt, sagt eine Stimme im Off: «... Ich stelle mir vor...» (j’imagine), dann, nach einer Pause «...der weisse Schaum um den versunkenen Körper von Andomia...». Gleichzeitig werden uns hier der Anlass einer künftigen Erzählung (diese Frauenskulptur) und die erzählerische Matrize (die man etwa mit der erwartungsvollen Frage «Warum nennt man diesen Körper versunken?» umschreiben kann), gegeben. Ferner wird eine Identifikation geliefert (durch die Namensgebung wird das Stück Holz bereits das Bild einer Person) und - als Bestimmung des Ganzen -ein Erzählstandpunkt, definiert als eine gegenwärtige Subjektivität (jene des Erzählers, der sich etwas vorstellt), gegenwärtig wie die Gallionsfigur, die ebenfalls als zeitgenössisches Bild definiert ist.

Der ganze Film liegt in diesem «grossgeschriebenen» Anfang, der den Gestus einer Erzählung formuliert, im Verlaufe deren das Schicksal einer Frau heraufbeschworen wird, die den Tod wählt, bevor sie ihren Geliebten kennt, und das Schicksal eines Matrosen, der sie ein Leben lang sucht, und der sie erst findet, indem er im Meer ruht, in das sie versunken ist.

Dennoch: Verglichen mit dem Film sagt dieser Satz wenig. Er glättet, was dem Film Gestalt gibt. Der Off-Text sagt die Sachen nie so. Er benützt eine viel differenziertere Sprache, nimmt Zuflucht bei der Anspielung, bei der Methonymie, beim Leitmotiv, in einer konnotativen Prosa, die ihren Platz erst dann der Erzählung abgibt, wenn Erzählformen für den Fortgang der Handlung unumgänglich sind.

Auch erlauben die Bilder keine Überprüfung der oben skizzierten Zusammenfassung. Nicht dass sie falsch wäre, aber sie gibt keine Rechenschaft über das, was man wirklich sieht. Die Bilder - alle angesiedelt in der Wirklichkeit eines heutigen griechischen Ortes - stehen nicht in einem denotativen (nennenden) Verhältnis zum Text. Die Verbindung zum Text ist fast immer mittelbar, wie auch ein grosser Teil des Tons. Die zentrale Sequenz zum Beispiel besteht aus zwei Travellings in Grossaufnahme auf das Meer, ohne Ton ausser dem Off-Text, derweil man zuvor zu Landaufnahmen Meeresrauschen gehört hat.

Diese Anordnung begründet die Inszenierung. Oder besser: bereitet ihr das leere Bett. Denn diese leeren Bilder werden andauernd bevölkert. Irgendwer stellt sich immer etwas vor, und dieser Irgendwer bin ich selbst, der eingeladen ist, die subtile Leere vor meinen Augen zu füllen. An einem imaginären Punkt, den der Film selber herstellt, kippt das Ich des Erzählers um, und du bist es, der die Erzählung, die uns angeboten wird, erfüllst.

Révol

Ich schicke voraus: Révol ist keine Erzählung. Wer da einen erzählerischen Ansatz suchte, fände keinen oder würde sich in absurde Hypothesen verirren. Die Dreiteiligkeit des Films zum Beispiel liefert uns einen anderen Schlüssel zur Lektüre. Verstehen wir uns richtig bei diesem Begriff: Er bringt keine Enthüllung des «Was», sondern Hinweise über das «Wie».

Die Teile von Révol heissen in dieser Reihenfolge Alluvions, Brumaire, Dimanche. Namen, die allesamt starken poetischen Nachhall haben und die gleichzeitig aus sehr verschiedenen Bedeutungsfeldern stammen. Ihre Annäherung deutet folglich ein Funktionsprinzip an, das jenem der surrealistischen Bildnerei nahesteht, deren Produktivität auf der Verbindung offensichtlich getrennter Elemente beruht. Was die Struktur betrifft, bezeichnen die Titel, die auf einem nichtfigurativ bemalten Hintergrund erscheinen, starke Zäsuren, verteilen das Material auf drei autonome Blöcke und schlagen jedesmal einen neuen Anfang vor. Die Annäherung ihrer Inhalte spielt - wie bei den Titeln - mit der überraschenden Nebeneinanderstellung.

(Andomia gliedert sich ebenfalls in drei Teile, doch diese wirken nicht als getrennte Blöcke. Gebunden an die Entwicklung einer Erzählung, bezeichnen sie die Etappen des gleichen Wegs [der Tod Andomias, die Irrfahrt des Matrosen, seine Rückkehr und seinen Tod]. Immerhin ist es klar, dass die Dreiteilung Zeit und Bewegung in einem Rhythmus organisiert, der sowohl allein für sich zählt, als auch auf feine, unterschwellige Reize abzielen kann wie alle Formen, die auf der Zahl gründen. Was Révol betrifft, könnte die Dreiteilung mit symbolischen Absichten zusammenhängen.)

Der Haupttitel selbst tönt vieles an. «Révol-» ist ein fiktives Präfix. (Die Trennung allerdings setzt in Wirklichkeit bereits nach «re-» ein, was das Bedeutungsspiel beträchtlich reduziert!) Das fiktive Präfix findet sich in drei französischen (und deutschen, A.d.U.) Substantiven: revolte, revol-ution und revolver. Wenn der erste dieser Begriffe bloss virtuell bleibt, so fällt revolver, im dritten Teil, mit der ausdrücklichen Präsenz zweier Schusswaffen zusammen und tönt das Todesthema an, das seinerseits weiterentwickelt wird, indem es in Verbindung gebracht wird mit zwei Wendungen des Off-Textes: clé des champs und clé des songes (etwa: ins Offene, Freie flüchten, oder in den Traum). Revolution seinerseits verweist direkt auf die Konstruktion der Tonspur von Teil eins und drei, wo eine serielle Musik auftaucht, die auf das Prinzip der Wiederholung aufbaut.

Diese wenigen Beispiele zeigen den starken Gebrauch poetischer Kommunikation an, deren Hauptform - die Assoziation - wir aufzeigen können, indem wir das Todesthema verfolgen. (Die Kopie von Révol, die in Solothurn vorgeführt wurde, schliesst übrigens mit einem Text, der in Form einer Zeitungsmeldung vom kürzlichen Selbstmord eines französischen Filmemachers berichtet. Diese Schrifttafel ist aus der definitiven Fassung entfernt worden.)

Wir haben nur teilweise gesehen, wie sich das Thema im dritten Satz des Films, Dimanche, der von ihm durch und durch bestimmt ist, darstellt. Vor den Schusswaffen folgen sich zwei Einstellungen von sich im Gang eines Schlachthofes drängendem Vieh; daran schliesst sich die nahe Einstellung von oben auf eine mit Wasser gefüllte Badewanne mit einem Frottiertuch auf dem Rand an. Dieses Bild ist deshalb so besonders, weil seine scheinbare Banalität sich brüsk ändert durch den vorangegangenen Sinnzusammenhang Schlachthof; es lädt sich durch die Montage mit einer beträchtlichen latenten Bedeutung auf.

Der Tod kommt im ersten Teil des Films, Alluvions, in zwei Formen vor. Die märchenhafte Off-Erzählung evoziert eine eigenartige natürliche Sintflut im Gefolge einer Intensivierung der Sonnenstrahlung. Eine der drei Einstellungsserien dieser Sequenz besteht aus drei Grossaufnahmen -kurze Schwenks - von Meeresfrüchten, Gemüse und schliesslich Geflügel. Als Gegensatz zu diesen Stilleben (natures mortes) bringt die folgende Serie zweimal den nackten Torso eines jungen Mannes, eines lebenden Körpers also.

Was den Mittelteil betrifft, Brumaire, so ist er buchstäblich auf der Abwesenheit ihres erwarteten Protagonisten aufgebaut. Die erste Sequenz skizziert die Suche nach einer noch anonymen Person (Einstellungen auf eine Menge von Schülern oder Lehrlingen). Die zweite formuliert ihre Weigerung, im Bild zu erscheinen und zu reden (Einstellungen in der Werkhalle). Hier ergibt sich der Sinn zum grossen Teil aus dem Off-Text, ohne den die Bilder nur schwerlich mehr bedeuteten, als was sie beschreiben.

Ein anderes Thema böte sich an für minuziöse Kommentierungen, jenes des «anderswo», das auf verschiedenen Ebenen durchscheint, vor allem mit zahlreichen Hinweisen auf «italianità». Wir lassen es bleiben, auch weil wir über den Sinn einer Weiterführung der Übung an dieser Stelle im Zweifel sind. Die Notwendigkeit dagegen steht ausser Zweifel. Wir würden uns leicht trösten, an der Schwelle stehengeblieben zu sein, wenn wir nicht dafürhielten, dass das wiederholte Vergnügen einer mehrmaligen Betrachtung von Révol nur vergrössert werden könnte durch die Kenntnis dessen, was es verursacht.

Sweet Reading

Sweet Reading ist eine Demonstration, hat die Geradlinigkeit, die Konzentration und die Genauigkeit einer solchen. Die Zeichen sind da mit einer solchen Entschiedenheit gesetzt, dass der gewichtige Mangel des Unternehmens - die Besetzung der Rollen -, die Frage also, wie der Film wohl wäre, wenn die Personen besser verkörpert wären, nicht ins Gewicht fällt.

Die Demonstration ist also gelungen. Aber was galt es zu demonstrieren? Das dringliche Bedürfnis eines anderen Werkzeugs (35 mm), einer anderen Dauer (90 Minuten), einer anderen Produktion (fünf bis sechs Nullen hinter der ersten Ziffer) ... und die Fähigkeit, den Kanton Neuenburg oder irgendeinen beliebigen anderen Ort nehmen zu können als das, was er nicht ist: als ein Filmstudio.

Der Film von Michel Rodde zeichnet eine Bahn nach, die von den Seufzern eines überstürzten Orgasmus zum Röcheln einer plötzlichen Agonie führt. Zwischen diesen beiden verschiedenen Toden derselben Figur wird eine imaginäre Welt auf die reale projiziert, und sie bewirkt da eine kriminelle Handlung.

Im Sinne einer Inhaltsangabe kann man das etwa folgendermassen zusammenfassen: Ein Mann, dessen Ehebeziehung getrübt ist, begibt sich auf einen Weg, einen räumlichen, zuerst zusammen mit seiner Frau, dann allein. Im Laufe einer Reise nach Hause liest er einen zufällig gewählten Roman. Diese Lektüre wächst sich in von ihm entdeckte oder produzierte Einbildungen aus; der Mann ruht nicht, bis er die Auflösung der Intrige kennt. In der - in Parallelmontage visualisierten - Fiktion bekommt der männliche Held der Erzählung von seiner Begleiterin einen blutigen, noch nicht definierten Auftrag. In einem gewissen Moment sehen wir diese imaginäre Figur sich wörtlich in der wirklichen Welt seines Lesers konkretisieren, und wir verstehen, dass dieser das bezeichnete Opfer sein wird. Er selbst errät nichts von dem, was sich unter seinen Augen zusammenbraut. Gefesselt von der romanhaften Illusion beeilt er sich, trotz ungelegenen Unterbrechungen, zu den letzten Seiten vorzudringen, derweil sein Mörder bis in seine Wohnung vorgedrungen ist und ihn jetzt mit drei Dolchstössen niedersticht.

Diese Zusammenfassung liefert eine Struktur, nichts mehr. Doch die Inszenierungsarbeit (wie zuvor jene der Adaptation) befasst sich mit der Bereitstellung und der Definition der Motivationen. Der Vergleich mit der kurzen Novelle von Julio Cortazar, die als Ausgangspunkt des Films dient – «La continuité des parcs», im Erzählungsband «Les armes secrètes» – enthüllt klar diese Erfindung der Motivationen.

Ausgehend von einer Ursprungsszene, jener einer missglückten sexuellen Vereinigung, breitet sich eine Folge von Zeichen aus, die die Erzählung um zwei symmetrische Themen organisiert: das zweifellos unbefriedigte Verlangen und das triumphierende. Oder, mehr psychoanalytisch ausgedrückt: Kastrationsangst und Männlichkeitswahn.

Wenn wir von Geradlinigkeit gesprochen haben, dann darum, weil sich das Erzählfeld nur selten auf andere Elemente ausweitet als die, die man in die angesprochene Thematik einordnen kann. Eine Taxifahrt, die Einführung eines kleinen Mädchens in Blau, eine Fahrkartenepisode stellen die seltenen Ausbrüche mit verschiedenen Zielsetzungen aus der anhaltenden Konzentration auf das doppelte Zentralthema dar. Die Inszenierung beschränkt sich dennoch nicht auf eine rein erklärende Funktion. Im Inneren jeder Einstellung arbeitet die Kamera mit ihrer Bewegung ein Schauspiel der Zeichen aus, das die Montage nach Belieben erweitert. Die Verwirklichung des Zusammenfalls von imaginärer und wirklicher Welt in einer einzigen, auf dem Tricktisch erarbeiteten Einstellung, ist für sich schon ein überzeugender Fund. Das Spektakel ist ebenso eindrücklich in der Darstellung des Imaginären mittels einer Kino-Bilderwelt, die auf Tarzan-Filme und auf die Brutalromantik von B-Pictures verweist. Der parodistische Aspekt, durch Musikdonner unterstrichen, gefährdet übrigens nie die präzisen Symbole, die es zu transportieren gilt.

Man könnte auch zeigen, bis wohin dieses Schauspiel einschlägige Zeichen verstreut, die nicht notwendigerweise eine erzählerische Funktion haben (die blaue Farbe z.B. oder die drei Musiker, die man zu Beginn von oben sieht, und die mit dem Blasorchester der Schlussequenz «reimen»). Man müsste auch von Momenten sprechen, da sich die Maschine vergaloppiert. Dass die Hauptperson als Krimi-Autor definiert wird, verwischt ein wenig die Rolle der Lektüre und schwächt die notwendige Glaubhaftigkeit der imaginären Welt. Auch erscheint die Einfügung von zwei Handkamera-Travellings vorwärts durch den Gang des Eisenbahnzugs - zum Keuchen eines unsichtbaren Läufers im Off - als zu billiger List.

Aber kommen wir zum Schluss auf den thematischen Aspekt zurück. Es scheint, wir könnten die Interpretation weitertreiben als bis zum Gegensatzpaar «frustriertes und triumphierendes Verlangen». Da ist ein durch seine sexuellen Schwierigkeiten verängstigter Mensch, der seine Frau - natürlich ist die Heldin des von ihm gelesenen Romans seine Frau -in die Arme eines virilen Dschungelkönigs phantasiert. Bis dahin bleiben wir im Bereich der Projektion und der Kompensation; und dahin gehören auch die Grossaufnahmen von verzehrenden Küssen, die es dem Leser so angetan haben. Aber die Vollmacht kehrt sich dann um, wenn die Frau ihren idealen Geliebten beauftragt, den schwächlichen Ehemann zu beseitigen. Diese Operation wird vom Opfer ohne ihr Wissen ausgeheckt. Das ist der Schritt von der Kastrationsangst zum Schuldgefühl und vom Schuldgefühl in die endgültige Selbstbestrafung.

Roland Cosandey (Übersetzung Martin Schaub)

Andomia. P, K und Sch: Marcel Schüpbach; T: Cyrille Gigandet, Laurent Barbey, Luc Yersin.

16mm, Farbe, 13 Minuten

Révol. P und R: Ch. Hersperger und M. Etter; B: Charles Hersperger; K und Sch: Mona Etter-Faloughi, M. Hersperger und Cari Walker; T: Pierre-André Luthy.

16mm, Farbe, 10 Minuten

Sweet Reading. P: M. Rodde und Guy Michaud; B und R: Michel Rodde; K: Willy Rorbach, Benoît Nicoullin; Dekor: Abel Rejchland, Jean-Daniel Corbet; D: Laurent Sandoz, Hervé Loichemol, Harriet Kraatz, Marie Probst

16mm, Farbe, 30Minuten

Roland Cosandey
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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