CYRIL THURSTON

DAS ZWEITE SCHRAUBEFRAGMENT (WALTER ANDREAS CHRISTEN)

SELECTION CINEMA

Tremens, eine fiktive Stadt, Ort der Zukunft und Vergangenheit zugleich. Eine Stadt, deren Entwicklung zwischen zwei Momenten stillgestanden zu sein scheint, in der einem, um Peter Handke zu zitieren, zwischen zwei Schritten plötzlich der Sinn verloren geht. Der Sinn für banalste Realitäten. Ein Klavier wird zu einem absurden Spielzeug. Einen Goldfisch im Aquarium bringt Günther Schraube unvermittelt mit seinem Bruder in Verbindung und lässt ihn im nächsten Moment daran zweifeln, überhaupt einen Bruder zu haben. Ein berühmter Komponist verschwindet auf mysteriöse Art, und man fragt sich, ob er überhaupt je existiert habe. Der behandelnde Arzt des Komponisten, ein Psychiater, wird selbst zum Irren.

Auf den ersten Blick ist Tremens eine ganz normale Stadt. Der Flughafen, auf dem Günther Schraube ankommt, unterscheidet sich in nichts von den Flughäfen irgendeiner Stadt. Der Balkon, auf dem Jutta, eine ehemalige Freundin Günthers, das Nachtessen serviert, sieht den Balkonen in aller Welt ähnlich. Aber in irgendetwas scheint er sich doch zu unterscheiden. Ist es alleine die Tatsache, dass man nicht weiss, wo man sich befindet? Dass es keinen Hintergrund, keine Geschichte, keine Vergangenheit gibt? Alles wirkt wie eine Momentaufnahme, eingefroren, erstarrt zu einem diffusen Zustand. Oder ist es der Ausblick auf eine undefinierbare Industrielandschaft, auf ein Gebiet, das in seiner Hochentwicklung und im gleichzeitigen Stillstand anachronistisch wirkt?

Günther Schraube, ein Journalist der New York Times, ist beauftragt werden, eine Reportage über den Komponisten Enrico Löwenzahn zu schreiben. Keine unlösbare Aufgabe, wie einem scheint, nur Enrico Löwenzahn ist seit Wochen spurlos verschwunden. Es geht also vorerst darum, diesen geheimnisumwitterten Komponisten aufzuspüren. Günther Schraube sucht den Verleger Löwenzahns, einen unglaubwürdig wirkenden, unscheinbaren Mann auf, der ihm wie erwartet nicht gross weiterhelfen kann. Das Einzige, was Günther Schraube mit sich forttragen kann, ist eine Liste von Löwenzahns Musikern, eine Liste, die sich im Nachhinein als ganz und gar nutzlos erweist. Die Musiker, noch mehr als der Verleger, sind völlig weltentrückte Kreaturen, so dass bald der Eindruck entsteht, als hätten sie Günther Schraubes Hilfe nötig und nicht er die ihre. Nach einiger Zeit ist der anfangs so selbstsicher wirkende Journalist total niedergeschlagen. Erschöpft sucht er bei einer Freundin Halt, die ihn aber zurückstösst. Nachts findet er sich auf der Strasse wieder. Alles ist unerreichbar geworden für ihn. Um den Rest der Nacht mit einer unantastbar schönen Prostituierten zu verbringen, reicht das Geld nicht, und die symbolisch aufgetürmten, goldgelben Honigtöpfe, die ihm aus dem Hintergrund entgegenleuchten, sind hinter Glas verschlossen. Anderntags stürzt er sich auf seine letzte Hoffnung, den Psychiater Löwenzahns, der ihm aber selbst als Irrer erscheint und ihn dazu bewegt, das Irrenhaus fluchtartig wieder zu verlassen. Er findet sich am Strand, zwischen halbverfallenen Hafenanlagen, seinen Blick auf die unendliche Leere des Meeres gerichtet. Ob ein Komponist namens Löwenzahn überhaupt je existiert hat, was es mit der energieaufsaugenden Stimmung dieser geheimnisvollen Stadt, Tremens, die Günther Schraube absurderweise sogar seine Heimatstadt nennt, auf sich hat, bleibt offen. Günther Schraube begibt sich auf die Rückreise, und das ist auch das Ende des Films.

Im Film verdichtet sich zunehmend eine Atmosphäre des Bewusstseinsverlustes. Mit dem Protagonisten mitfühlend, spürt man, wie die Luft dünner zu werden scheint, einem der Boden unter den Füssen entschwindet. Auf den klaren Menschenverstand kann man sich nicht mehr verlassen. Als abgehoben und fremd empfindet Günther Schraube alles, was ihm in Tremens, seiner Heimatstadt, widerfährt. Ist es ein Zeichen, dass er sich seiner eigenen Wurzeln entfremdet hat? Ist es die Stadt, oder er?

Walter Andreas Christen versteht es, mit eindringlichen Bildern eine kafkaeske Stimmung heraufzubeschwören. Durch langsames Einkreisen, durch eine kaum merkliche Steigerung von der Normalität zur totalen Abgehobenheit, erreicht er, dass man sich unvermittelt mitten drin im schwindelerregenden, taumelnden Sog befindet, der von dieser mysteriösen Stadt, Tremens, auszugehen scheint.

Cyril Thurston
geb. 1957, seit 1982 für die Programmierung des Kinos Xenix in Zürich mitverantwortlich, Mitarbeiter des Filmfestivals Locarno 1987/88, hat verschiedene Kurzfilme realisiert und ist seit 1991 mit einer Senegalesin verheiratet.
(Stand: 2019)
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