JÖRG HUBER

SERTSCHAWAN (BEATRICE MICHEL, HANS STÜRM)

SELECTION CINEMA

„Was sagen mir diese Bilder von ihrem Sterben, wenn ich von ihrem Leben nichts weiß?“ Dies ist eine der Fragen, die den Film einleiten und dessen Ausrichtung angeben. Unzählige, grauenvolle Bilder vermitteln die Medien über die Massaker, die am kurdischen Volk verübt werden. Eine dieser Photographien zeigt einen toten Mann mit einem toten Kind im Arm, wie schutzsuchend in eine Straßenrinne gepreßt. Es handelt sich um zwei der ungefähr 7000 Opfer, die ein Giftgasangriff der irakischen Luftwaffe auf die kurdische Stadt Halabja 1988 gefordert hat. Doch wer waren dieser Mann und dieses Kind, wie haben sie gelebt, wie leben die Kurden in Kurdistan, verfolgt, vertrieben, dezimiert und stark, widerständig zugleich, im stolzen Bewußtsein einer großen Kultur? Derartig neugierig geworden und motiviert durch die politische Flüchtlingsarbeit hierzulande, haben Beatrice Michel und Hans Stürm das nicht ungefährliche Unterfangen gewagt, sich vor Ort zu begeben, im türkischen und irakischen Teil des Kurdistan war und ist unmöglich, was dann im iranischen Teil durch vielfältige Vermittlung gelang und 1990 mit einer Recherchereise begann: einen Film zu drehen, eine filmische Begegnung mit den kurdischen Menschen, ihrem alltäglichen Leben und Sterben, ihren Erzählungen über Erinnerungen, ihren Vorstellungen über ein besseres Zukünftiges. Die Bedingungen waren schwierig: relativ wenig Zeit, begrenzte geographische Zugänglichkeit, Transportprobleme, keine Elektrizität und nicht zuletzt die staatliche Kontrolle: bis kurz vor Fertigstellung des Films wurden die Negative in Teheran zurückbehalten. Diese Konditionen haben die Konzeption des Films mitbegründet. Das Drehverhältnis etwa war eins zu zwei. Das Resultat ist weder einer politischen Agitation noch den so genannten Sach- und Hintergrundsinformationen verpflichtet. Es ist kein Film über das Kurdenproblem. Vielmehr stellt diese Arbeit eine Art dokumentarisches Poem dar, das in den Bildern, dem Rhythmus, der Montage dem Leben und den Erzählungen der Kurden, aber auch ihrem Bildverständnis sowie ihrem Bedürfnis, sich der Weltöffentlichkeit darzustellen, zu entsprechen sucht. Dem Bilderfluß wird eine geraffte Form des kurdischen Nationalepos „Mam u Zin“ unterlegt. Die Erzählung führt ins Bild über, so z. B. in der Form eines Kurden, der auf einem Schimmel durch die monumentale Bergwek des Kurdistan (und durch den Film) reitet. Das Nähertreten erfolgt durch Beobachtung der Landschaft, der Dörfer, der Häuser, der Menschen. Einer statischen Kamera gegenüber stellen sich die Kurd innen und Kurden vor, und vor allem die Männer erzählen in getragenem Tonfall, beherrscht von den schrecklichen Ereignissen. Zwischen diesen Tableaus gleitet die Kamera auch in intimere Zusammenhänge, fängt Bilder ein von Arbeitsvorgängen, alltäglichen Szenen, dem Sterben eines jungen Kurden und dem Wehklagen der Frauen auf einem Friedhof. Auch diese Zugänge basieren auf gegenseitigem Einverständnis und Vertrauen: der Schnappschuß ist verpönt. Die Kurden verfügen über eine Bildtradition, sie sind mit der Photographie vertraut - doch Bilder werden geschenkt, man darf sie nicht stehlen. Diesem Prinzip folgt der Film, und er konzentriert sich auf den Versuch, wahrzunehmen, jenseits der Medienbilder, die zu informieren vorgeben. Oder wie Hans Stürm sagt: „Filmen ist eine Arbeit, die aus der Nähe zu leisten ist. Für mich haben die meisten Filme zuviel Distanz/* Deshalb haben sich Michel/Stürm auf den Weg gemacht. Das Dokumentarische hat dabei beispielhafte Bedeutung angenommen: „Es ist ein Film über das Leben und Sterben bei den Kurden - das könnte auch anderswo sein.“ (Stürm).

Jörg Huber
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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