MATTIA LENTO

SOGNANDO UN'ISOLA (ANDREA PELLERANI)

An den diesjährigen Solothurner Filmtagen stand die Arbeit im Zentrum vieler Filme. Das Thema, das jahrelang etwas vernachlässigt wurde, war wieder einmal im Mittelpunkt des Interesses der Schweizer Dokumentarfilmschaffenden: Mindestens zehn Titel des Programms waren der Arbeit und ihrer Bedeutung für die Gesellschaft gewidmet. Und dabei ging es nicht um den Beruf des Landwirts, von dem es in den letzten Jahren viele filmische Darstellungen gab, die nicht selten etwas idealisiert schienen, sondern um jene Berufe, die wir als essenziell oder systemrelevant zu definieren gelernt haben. Die Pandemie hat sicherlich eine wichtige Rolle bei dieser Wiederentdeckung gespielt. Im Fall von Sognando un'isola ist die Situation jedoch anders. Der junge Tessiner Regisseur Andrea Pellerani hinterfragt das Verhältnis zwischen Mensch, Wirtschaft und Natur. In diesem erstaunlichen Dokumentarfilm haben wir es mit einer Welt zu tun, die von einer Umweltkatastrophe oder einer atomaren Krise heimgesucht zu werden scheint.
 
Die japanische Insel Ikeshima im Südwesten des Landes, auf welcher der Film gedreht wurde, scheint uns allen eine Warnung zu sein: Wenn wir die Klima- und Umweltkrise jetzt nicht in den Griff bekommen, könnten wir uns eines Tages in einer surrealen Umgebung wiederfinden, wo sich die Natur ihren Raum zurückerobert und das gesellschaftliche Leben verlangsamt und ohne Bedeutung scheint. Ikeshima war zu seiner Blütezeit eines der grössten Bergbauzentren Japans. Es wurde Kohle abgebaut, der Stoff, den wir am meisten mit den verheerenden Auswirkungen des (westlichen) Menschen auf die Umwelt in Verbindung bringen. Ikeshima wurde nicht vollständig aufgegeben. Die wenigen verbliebenen Einwohner, die fast alle fortgeschrittenen Alters sind, leben in einer fast unwirklichen, manchmal traumhaften Umgebung, in der sie sich nach einer Vergangenheit von Ruhm und Reichtum sehnen. Denn das Bergwerk war nicht nur eine Quelle der Umweltverschmutzung, sondern auch ein Arbeitsplatz, auf den man stolz sein konnte und um den sich eine sozial aktive und solidarische Gemeinschaft drehte. Eine Gemeinschaft, die nicht so sehr wegen einer Politik der industriellen Umstellung im ökologischen Sinne zerfiel, sondern, weil die aus dem Ausland importierte Kohle für die japanische Industrie billiger war. Die wenigen Touristen, die sich auf der Insel aufhalten, können dies auf speziell organisierten Touren durch das Innere der Erde erleben.
 
Ikeshima ist eine Metapher, ein Symbol oder, wie man sagen könnte, eine Warnung. Der Regiestil bewegt sich zwischen beobachtend, partizipativ und investigativ und ist nicht immer konsequent, aber diese Vielfalt ist auch ein Vorteil. Sognando un'isola erinnert an die Ruinen-Fotografie, auf Englisch auch als ruin porn bezeichnet, ein junges Genre der Fotografie, das den Verfall von Gebäuden, industriellen Orten und Städten zum zentralen Thema macht.
Mattia Lento
*1984 in Italien, Promotion über La scoperta dell’attore cinematografico (Pisa 2017), zurzeit Gastforscher und Dozent an der Universität Innsbruck mit einem Stipendium des Schweizer National Fonds. Forschungsschwerpunkte: Frühes Kino/Europäischer Stummfilm/Filmschauspielerei/Film und Migration/Film und Politik/Filmkultur in der Schweiz. Freier Journalist bei RSI und filmexplorer.ch.
(Stand: 2021)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]