BETTINA SPOERRI

CHROMA (JEAN-LAURENT CHAUTEMS)

Er braucht die Sterilität und kühle Distanz, sie stürzt sich in die Welt. Er schützt sich und schirmt sich auf übertriebene Weise ab, sie überschreitet ständig Grenzen und fordert ihre Umwelt heraus. Alain und Claire könnten unterschiedlicher nicht sein. Doch beide passen sie definitiv nicht in eine Welt wohltemperierter, genormter Kommunikationsfähigkeiten. Der 1973 geborene, aus Neuchâtel stammende Filmregisseur Jean-Laurent Chautems lässt in seinem zweiten Langspielfilm eine beinahe unmögliche Liebesgeschichte erblühen, die zwei Aussenseiter aus ihrem je individuellen Gefängnis befreit. Allerdings, und glücklicherweise, weil realistischer und dadurch glaubwürdiger, gelingt das Zusammenkommen über grösste Differenzen hinweg nur mit dramatischen Rückschlägen. Der grossgewachsene, asketische Alain (Aurélien Caeyman) arbeitet als Pianist in einem edlen, steril gestylten Restaurant, und seine Reinheits-Phobien machen sein Leben zur Groteske. Sex ist ihm reine, eher lästige Bedürfnisbefriedigung, emotionale Nähe kann er nicht zulassen. Die impulsive Claire (Solène Rigot) ihrerseits beobachtet den seltsamen Nachbar neugierig, rückt ihm wörtlich und aggressiv auf die Pelle, lädt ihn unumwunden zum Geschlechtsverkehr ein, verfolgt ihn durch die Strassen und an seinen Arbeitsort – doch er weist sie immer wieder ab. In einer beklemmenden Nebenrolle, als unzimperlicher Sexpartner von Claire, mit dem sie Alain eifersüchtig machen will, ist der bekannte Schauspieler Patrick Chesnais zu sehen, der auch schon mit Julian Schnabel oder Stéphane Brizé gearbeitet hat.
 
Was innert kurzem zur Explosion zwischen Alain und Claire führt, endet indes nicht ganz so schnell, weil sich zwischen den beiden trotz gegenseitiger Verletzungen eine tiefere Anziehung und ein sensibles Verständnis entwickelt hat. Damit geht der Film eine Entwicklung durch, die in Realität so selten ist, dass der Film hier die Grenze zur märchenhaften Fabel überschreitet. Das Kunststück von Chautems ist, dass sein Film dennoch kein Kitsch ist, sondern wirklich zu berühren vermag. Dazu trägt zum einen entscheidend das gute Drehbuch bei, das auf Gefühlsduseleien und überflüssige Erklärungen verzichtet, zum anderen vertraut Chautems auf die Kraft der Bilder und ein gut ausgewähltes, überzeugendes Schauspielduo. Chroma lässt Raum für unsere Beobachtungen und Sehnsüchte, inszeniert auch Projektionen und Wunschvorstellungen der Figuren und kreiert so sukzessive einen grenzüberschreitenden Bildraum, in dem alles möglich wird. Aurélien Caeyman ist der trockene, steife Mann, der innerlich zerbrechlich ist und langsam schmilzt, Solène Rigot, als meilleure éspoir feminine am Festival International de Film Francophone gefeiert, ist ein sinnlicher und zugleich selbstzerstörerischer Wirbelwind, dessen Wut man fürchtet – und um den man zugleich bangt.
Bettina Spoerri
*1968, Dr. phil., studierte in Zürich, Berlin und Paris Germanistik, Philosophie, Theater- und Filmwissenschaften, danach Dozentin an Universitäten, der ETH, an der F&F. Begann 1998, als freie Filmkritikerin zu arbeiten und war Redaktorin (Film/Theater/Literatur) bei der NZZ. Mitglied Auswahlkommission FIFF 2010–12, Internat. Jury Fantoche 2013, mehrere Jahre VS-Mitglied der Filmjournalisten, Mitglied bei der Schweizer Filmakademie. Freie Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses. CINEMA-Redaktorin 2010–2017, heute Mitglied des CINEMA-Vorstands. www.seismograf.ch.
(Stand: 2021)
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