THOMAS HUNZIKER

THINK SOMETHING NICE (CLAUDIUS GENTINETTA)

Wer mag sich schon gerne vorstellen, welches Eigenleben sich in unserem Mund abspielt, welche Kreaturen sich zwischen den Zähnen verbergen mögen. Der Gedanke an einen solchen Biokosmos sorgt für zartes Schaudern. Ein ähnliches Gefühl lässt sich mit einem Besuch bei der Zahnärztin verbinden. Dieses Motiv hat Claudius Gentinetta als Ausgangslage für einen angenehm fürchterlichen Ausflug in die Zahnhygiene gedient.
 
Im 6-minütigen Animationsfilm Think Something Nice wirft Gentinetta einen Blick in den Mund einer Person, die sich gerade auf dem Behandlungsstuhl in einer Zahnklinik befindet. Der erste Blick ist auf die Decke und die Behandlungslampe gerichtet. Schritte und Stimmen sind zu hören, ein Telefon klingelt. Dann richtet sich eine Frauenstimme an die Person auf dem Stuhl und erkundigt sich nach dem Wohlbefinden. Die Lampe wird eingeschaltet und wir tauchen ab in das Unterbewusstsein des Patienten beziehungsweise in eine alternative Realität, in die er sich flüchtet. Sphärische Klänge wie von einem Theremin ertönen und wir sehen, wie sich ein dunkles Boot auf einer schmutzigen Wasserfläche materialisiert. Ein Fischer mit üppigem Bart wirft seine Angel aus. Eine zweite Stimme ist zu vernehmen. Unter die Stimmen und die Musik mischen sich Geräusche einer Zahnbehandlung.
 
Animationsfilmer Claudius Gentinetta hat sich auch schon in seinen früheren Werken mit den Widrigkeiten des Körpers auseinandergesetzt. In Die Seilbahn (CH 2008) bringt sich ein Mann durch seine Niesattacken in Gefahr und in Schlaf (CH 2010) lässt ein Chor aus Schnarchern ein Schiff in Schieflage geraten. Dieses Thema des fantastischen Körperhorrors treibt Gentinetta nun in Think Something Nice auf die Spitze. Sein Protagonist versucht sich vor der schmerzhaften Behandlung auf das Fischerboot in den Tiefen seines Mundes zu flüchten. Doch jedes noch so sanfte Geräusch weckt Assoziationen, die manchmal zarte Bilder von vorbeischwimmenden Fischen hervorrufen, dann aber auch wieder gefahrvoll den Schmerz eindringen lassen. An diesen Stellen taucht dann auch immer wieder ein Netz aus Nervenbahnen auf, in dem sich der grosse Fisch schliesslich verheddert.
 
Formal verwendet Gentinetta in Think Something Nice eine reizvolle Mischung seiner beiden letzten Werke. Während die Bilder aus dem Behandlungsraum mit den dezent knalligen Pastellfarben an Selfies (CH 2018) erinnern, erscheinen die Szenen vom Fischerboot im Mund wie schmutzige Aquarell-Abwandlungen der düsteren Zeichnungen aus Islander's Rest (CH 2015). Diese virtuose Mischung erzeugt in Kombination mit der eindringlichen Tonkulisse eine unheimlich treffende Wirkung.
Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)

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